Das Kapitol, Sitz beider amerikanischer Kongresskammern, ist nicht nur das Herz der Demokratie in Amerika. Es ist allein schon aufgrund der Zeitspanne, seit der hier demokratisch gewählte Abgeordnete sitzen, wohl das Herz der Demokratie der Welt. Gestern zerbrachen hier Fensterscheiben, Feuerlöscher und Tränengas vernebelten die Sicht, Polizisten prügelten. Und eine Frau starb, Veteranin der US-Luftwaffe, erschossen von Sicherheitskräften im Kapitol. Wenig später sitzt ein Mann mit heidnischen Tattoos und Wikinger-Helm auf dem Stuhl des Sitzungsleiters im Plenarsaal.
Es sind Bilder, die nicht mehr nur schockieren, es sind Bilder, die man nicht fassen kann. Sie sind letzter Ausdruck einer Katastrophe, die über die Demokratie im Westen rollt, eine Katastrophe, die mit abgegessenen Phrasen von der Spaltung der Gesellschaft nur annähernd zu beschreiben ist.
Bereits Stunden vor dem Sturm wunderten sich Journalisten ob der erstaunlich geringen Präsenz von Sicherheitskräften. Während die Sicherheitskräfte bei den „Black Lives Matter“-Demonstrationen mit kugelsicheren Westen und Gewehren in dichten Reihen in Washington standen – damals für deutsche Journalisten noch Ausdruck von Militärdiktatur – war das Kapitol jetzt relativ ungesichert. Natürlich: Bei den Ausschreitungen im Sommer wurden ganze Städte verwüstet, Menschen totgeschlagen, es wurde Feuer gelegt. Vielleicht rechnete man hier mit mehr Gewaltpotential als bei den Trump-Rallys, die bisher immer weitestgehend friedlich blieben – es bleibt ein Versagen. Die Polizei war irgendwann so unterbesetzt und dramatisch unterlegen, dass sie die Absperrungen aufgaben und die Massen von Trump-Anhängern direkt ans Kapitol ließen.
Eine Katastrophe nimmt ihren Lauf, die Demonstranten nehmen Feuerlöscher und sprühen damit auf Polizisten, die mit Tränengas antworten – in der Rotunde des Kapitols. Die Polizei prügelt auf die Demonstranten ein, doch eine Übermacht der Staatsgewalt will und will sich einfach nicht einstellen. In immer mehr Räume dringt der Mob ein, posiert vor historischen Gemälden. Einige nehmen Schilde, die sie der Polizei abgenommen haben und schlagen damit Fenster ein, um sich vorzukämpfen. Manche klettern die Wände hoch. Die Sitzung, die gerade das Wahlergebnis ratifizieren soll, wird unterbrochen. Der Secret Service geleitet erst den Vize-Präsidenten, dann die Vorsitzende des Repräsentantenhauses hinaus, schließlich evakuiert man alle Abgeordneten. Einige Secret Service Agenten richten verzweifelt ihre Pistolen auf den Eingang zum Plenarsaal, ein Bild das um die Welt geht. Schließlich werden die Protestierer auch hier eindringen. Erst das Eintreffen militärisch ausgerüsteter Spezialkräfte wird die Lage entschärfen. Der Befehl zum Einsatz der Nationalgarde kam vom Präsidenten oder vom Vize-Präsidenten. Die 2.000 Mann starke Capitol Police hat versagt.
Einen Angriff auf den US-Kongress gab es seit 1814 nicht mehr, damals steckten britische Soldaten das Gebäude in Brand, im Rahmen jener Kämpfe, von denen die amerikanische Nationalhymne handelt. Es sind fatale Ereignisse für Amerika, für den Westen.
War das ein „Putschversuch“?
Eines sind die Ereignisse von Washington jedoch nicht: Ein versuchter Staatsstreich, zu dem sie in Deutschland nun viele erklären wollen; ein SPD-Bundestagsabgeordneter fordert gar, Trump müsse verhaftet werden. Denn nicht nur die Republikaner distanzierten sich. Auch Trump selber hielt zwar eine extrem aggressive, hanebüchende Rede in Washington vor dem Sturm, von einem Angriff auf das Kapitol war darin aber keine Rede. Sein Vorredner gab die Parole „Stop at the Capitol“ aus. Trump reagiert auf die Attacke ambivalent, klar ist: Die Gewalt schadet vor allem seinem Ansehen massiv. Auf der einen Seite will er diesen Anhängern seine “Liebe” ausdrücken, auf der anderen ruft er mehrfach eindringlich auf, friedlich zu bleiben, ehe Twitter seinen Account für 24h sperrt. Bei allem, was Trump von Zeit zu Zeit von sich gibt: Diese Hunderte durchgedrehten Gewalttäter stehen nicht für Trumps Wähler, etwa die Hälfte des Landes, genau so wenig wie man die Democrats für die Gewalt bei BLM-Demonstrationen in Haftung nehmen kann.
Es ist die Tragödie von Trumps Amtszeit.
Die Ursache für diese Ereignisse liegt in einem Fanatismus, zu dem sich beide Seiten gegenseitig anstacheln: Diese Wahl sei nicht nur eine Schicksalswahl gewesen, sondern überhaupt die letzte Wahl, bei der man das totale Übel – für die einen ist das der „Demagoge Trump“ für die anderen „der Sumpf“ des Establishments in Washington – noch aufhalten könne. Und wenn beide Seiten davon überzeugt sind, beide Seiten in die in ihren Augen letzte Schlacht ziehen, hat es die Demokratie schwer. Linke Aktivisten versuchten im Sommer das Gebäude des Bundesgerichtshofs in Portland anzuzünden. Damals wurde genau die harte Polizei-Reaktion kritisiert, die jetzt gefehlt hat. Das Problem sind die Extremen, nicht eine Partei.
Am Tag der Wahlauszählung im Kongress, während sich draußen schon die Menge sammelte, hielt der republikanische Mehrheitsführer McConnell eine emotionale Rede, er erklärte: “Wir können uns einfach nicht zum nationalen Wahlvorstand erklären. Die Wähler, die Gerichte und die Staaten haben alle gesprochen. Wenn wir sie außer Kraft setzen, würde dies unserer Republik für immer schaden.” Zuvor hatte er die Abstimmung über Zweifel am Wahlergebnis für “die wichtigste Abstimmung” seiner politischen Laufbahn erklärt. Parallel wurde bekannt, dass eine Bombe in der Nähe des Republikanischen Parteivorstands gefunden wurde, das Gebäude wurde evakuiert.
Am gleichen Tag hatte Vizepräsident Mike Pence, der der Auszählung der eingesendeten Wahlmännerstimmen vorsitzt, ebenfalls angekündigt, sich gegen Trumps Idee zu stellen, Wahlmännerstimmen zu verwerfen. Bereits am Morgen, noch vor der Gewalt am Kapitol, stellte sich z.B. ein weiteres Mitglied der republikanischen Führungsriege im Senat den Demonstranten. Senator Todd Young, Chef des wichtigen republikanischen Senatswahlkampfarms NRSC, verurteilte auch da Versuche, das Ergebnis formell anzuzweifeln, und sagte ihnen: “Es kommt nicht auf unsere Meinung, es kommt auf das Gesetz an. […] Ich habe einen Eid vor Gott geschworen es einzuhalten.” Die Senatoren Mike Lee, Tom Cotton, Rand Paul, Tim Scott, Lindsey Graham, Tim Scott, Ben Sasse, Mitt Romney, um nur eine Handvoll zu nennen, alle lehnten schon vor dem gestrigen Zusammentreffen des Kongresses Trumps Versuche ab. Und das alles vor den Ausschreitungen.
Es wäre unsachlich, alle Republicans jetzt dafür verantwortlich zu machen, was ein Haufen Trump-Anhänger anrichtete, nur weil diese Republikaner den Präsidenten bei anderen Vorhaben unterstützt haben. Mitt Romney etwa erklärte genau das am Tag zuvor, als er am Flughafen von wütenden Trump-Anhängern angegangen wurde, denen er ruhig erklärte, dass er zwar Trumps Politik oft unterstütze, aber eben nicht diesen Versuch, das Wahlergebnis zu verändern. Man kann einigen Vorwürfe machen, wie sie auf Trumps Ausfälle der vergangenen Jahre reagiert haben. Ausfälle, die wohl selten so schlimm waren wie nach der Wahl 2020. Aber es ist absurd, jemanden wegen seiner Pro-Israel-Haltung, seiner Stimme für Steuersenkungen, oder für die Richter am Supreme Court, die allesamt Trumps Klagen abwiesen, als eine Art Faschisten dazustellen. Wenn, dann war es Trump allein, der die Gewalt zwar nicht direkt unterstützte, aber den Mob unmittelbar zuvor angestachelt hat.
„Sie haben nicht gewonnen“ sagt der Vizepräsident
Die Bilder wecken Erinnerungen an den vergangenen Sommer, damals stiegen Rauchwolken in Washington D.C. auf, als Randalierer durch die Stadt zogen. Damals wurden die Behörden für ihre Reaktion und den Einsatz der Nationalgarde kritisiert. Bei dem Angriff aufs Kapitol nun waren die Sicherheitskräfte dagegen deutlich unterlegen. Erst spät konnte es von hochbewaffneten Polizeiteams regelrecht zurückerobert werden. Senator Cotton etwa, der damals für seinen Vorschlag, Truppen zu entsenden, kritisiert wurde, blieb seinem Standard anders als manch anderer treu und erklärte: “Letzten Sommer, als der Aufstand die Straßen eroberte, rief ich an, um die Truppen zu entsenden, falls nötig, um die Ordnung wiederherzustellen. Heute besetzten Aufständische unser Kapitol. Glücklicherweise stellten die Capitol Police und andere Strafverfolgungsbehörden die Ordnung wieder her, ohne dass Bundestruppen benötigt wurden. Das Prinzip bleibt jedoch dasselbe: kein Quadratmeter für Aufständische. Diejenigen, die heute das Kapitol angegriffen haben, sollten sich dem vollen Umfang des Bundesgesetzes stellen.”
Cotton wiederholte ebenfalls seinen Widerstand gegen die, die das Wahlergebnis anzweifeln wollten: “Es ist an der Zeit, dass der Präsident die Wahlergebnisse akzeptiert, aufhört, das amerikanische Volk irrezuführen, und Mob-Gewalt ablehnt. Und die Senatoren und Vertreter, die die Flammen entzündeten, indem sie den Präsidenten ermutigten und ihre Anhänger zu der Überzeugung führten, dass ihre Einwände das Wahlergebnis umkehren könnten, sollten diese Einwände zurückziehen. In jedem Fall wird der Kongress heute Abend seine verfassungsrechtliche Verantwortung erfüllen.”
Nach den Vorfällen am Kapitol wird es nun auch für die Minderheit unter den republikanischen Senatoren, die solche Anzweiflungen vorhatte, schwieriger. Bis auf wenige Ausnahmen beendete die kleine Gruppe an Senatoren ihre Anzweiflungsversuche. Die Ablehnung von Trumps ungebrochenem Kampf gegen das Wahlergebnis ist so einhellig wie noch nie.
Die gesamte politische Landschaft rechts von Joe Biden jetzt in Mithaftung für die Ereignisse zu nehmen, entbehrt jeder Grundlage und jeder Logik. Es war eine Ausschreitung von Extremen, die eskalierte, weil die Sicherheitskräfte die Lage zu lange unterschätzt haben und Trump sich nicht sofort distanzierte.
Schließlich wurde die Sitzung im Kapitol unter Vorsitz von Vizepräsident Pence fortgesetzt, er richtete eine Nachricht an die Randalierer: “An diejenigen, die heute in unserem Kapitol Chaos angerichtet haben: Sie haben nicht gewonnen. Gewalt gewinnt nie. Freiheit gewinnt. Und dies ist immer noch das Haus des Volkes.”
Von Air Türkis und Sebastian Thormann