Eric Gujer, Chefredakteur der NZZ zweifelte in diesen Tagen an der sachlichen, vor allem aber mentalen Kompetenz, krisenhafte Herausforderungen zu bestehen. Er konnte da noch nicht wissen, wie schmerzhaft schnell sich diese Vermutung in der europäischen Union, vor allem aber im benachbarten Deutschland, bestätigen sollte.
Mit einem Riesentamtam kündigten die oberste Herrin des Landes und ihr Gesundheitsminister Spahn die große Erlösung von der Coronaplage an: die Impfung! Man konnte glauben, ein Weltwunder sei geschehen. Gott persönlich musste die Hand im Spiel gehabt haben. Der erlösende Impfstoff gegen Covid-19 sei entwickelt worden. Zu aller Freude kam hinzu, dass es auch noch eine deutsche Firma aus Mainz war, die in Kooperation mit dem US-Pharmariesen Pfizer den Schlüssel der Weisen gefunden hatte. Also bald Schluss mit Lockdown, Maskenzwang, meterlangen Abständen selbst zu Ehepartnern und besten Freunden.
Die Kleinen wieder fröhlich in Kindergarten und Schule. Das ein wenig ungewöhnliche Zaubermittel (-70° bis bis zum Pieks) sei in ausreichendem Maße geordert, mit dem Impfen könne zeitnah begonnen werden.
Wenn man dazu noch bedenkt, dass -70° bei Transport und Lagerung einer außerordentlichen Präzision und ausgefeilter Logistik bedürfen – und das vom finnischen Lappland über die Romanischen und Balkangefilde bis hin zum Süden Siziliens und den kleinen griechischen Inseln (man denke auch an die unterschiedlichen Mentalitäten und Tagesabläufe) – kommt dies einer Sysiphus-Aufgabe der Weltgeschichte gleich. Hannibals mörderischer Zug mit den Elefanten über die Alpen war ein Klacks dagegen. Kein Wunder, dass aus der Impf-Euphorie sehr schnell grenzenlose Enttäuschung und schließlich ungeheure Wut wurde.
Mittlerweile hat die Krise auch die Ehe von Schwarz-Rot in Berlin erreicht. Wüst beschimpfen führende Sozialdemokraten den noch vor kurzem als Hero im Kanzleramt von Morgen gepriesenen Spahn als Versager, der nichts im Griff habe. Aus dem Umfeld der Kanzlerin verlautete, man solle jetzt nicht zurückblicken oder im Streit verharren, sondern die Chancen der Zukunft ergreifen. Doch so einfach wird das wohl nichts mit dem „auf ein Neues“! Die Eingebung, das ganze Prozedere in das Tollhaus Brüssel zu vergeben, hatte die Kanzlerin selbst. Entweder wusste sie, dass es nur so enden konnte und hatte so frühzeitig den „Schwarzen Peter“ abgeschoben. Oder ihr Handeln ist Ausdruck grenzenloser Ahnungslosigkeit. Beides ist schlimm.
Helmut Kohl und die Vertreter einiger Jahrgänge darunter waren die letzten der ersten Nachkriegsgeneration, die noch traditionelle Tugenden erworben haben. Antiautoritäres, hierarchiefreies und vor allem elitefeindliches Denken bestimmten danach das Klima. Hauptsache das Leben macht Spaß und ist möglichst vor allem unverbindlich. Klar, das Geld muss schon stimmen, am besten Staatsknete mit Pensionsanspruch. Loyalitäten und Ideale sind überflüssig. Wichtiger sind Anpassungsvermögen und eine ausgeprägte Verantwortungsscheu, verbunden mit gnadenloser Prinzipienlosigkeit.
Diese Haltung hat heute auch die Top-Etagen der Wirtschaft erreicht. Von Unternehmen, in denen am Morgen vom Lehrling bis zum Vorstandsvorsitzenden alle mit Rucksack erscheinen, alle sich mit allen duzen und Hierarchie eine fast schon rechtsradikale Vokabel ist, ist für die Zukunft des Industriestandortes Deutschland nichts Gutes zu erwarten. Es muss ja Gründe geben, warum Deutschland fast überall den Anschluss verliert. Das Land zehrt von der Substanz. Die Themen Gender und Klimaschutz beispielsweise beschäftigen das Denken und vor allem die Gefühle mehr als die Herausforderungen der digitalen Revolution und Überalterung, ohne deren Bewältigung – und dies ist nun tröstend gemeint – wir die Klimaänderung gar nicht mehr erleben können. Das Ende besiegeln wir schon selbst durch Vernichtung des materiellen Wohlstandes und des Verlustes jeglicher Chance auf Mitsprache in der Welt.