Die Entstehungsgeschichte des Islams, wie sie von islamischen Gelehrten und auch der herrschenden Islamwissenschaft tradiert wird, ist mythisch und normativ. Erzählungen, die nur in einem heilsgeschichtlichen Sinne „wahr“ sind, werden mit Ereignisgeschichte in modernem Sinne verwechselt. Zwischen historischem Geschehen und theologischer Aussage wird nicht genau unterschieden. Moderne Geschichtsschreibung ist deskriptiv. Religiöse Geschichtsschreibung legt dar, wie die Dinge gewesen sein müssen mit der Betonung eines göttlichen Plans. Sie ist normativ in dem Sinne, als sie nicht durch widersprechende Indizien in Zweifel gezogen werden darf, und in dem Sinne, als sie Regeln einführt, sogenannte „religiöse Regeln“. Einmal (vermeintlich) stattgefundene Ereignisse haben ewige normierende Kraft: Der Prophet Mohammed hat während des Ramadans Krieg geführt. Also sollte oder muss im Ramadan gekämpft werden. Der Prophet Mohammed hat Frauen nicht die Hand gegeben. Also dürfen alle Männer dies nicht tun, jetzt nicht und für alle Zeiten.
Islamische Geschichtsschreibung wirkt nach dem Prinzip der Mythomotorik, d.h. der Text ist auch Handlungsanleitung. Auch die marxistische Geschichte der Klassenkämpfe fiel unter diese Kategorie. Der Arbeiterschaft wurde ein besonderer Platz in der Geschichte zugewiesen, den sie auch anzunehmen und auszufüllen hatte. In gleicher Weise verfahren Muslime mit ihren Schriften. Sie sind Erinnerung, Aufforderung und ein Versprechen zugleich. Vielleicht ist auch diese Gemeinsamkeit im Umgang mit den Schriften eine Erklärung für die Affinität der Linken zum Islam, genauso wie die parteiliche Einstellung zur Geschichte.
Die islamische Geschichtsschreibung ist noch gar nicht in den Bereich des Historischen eingetreten. Sie befindet sich im Feld der Gedächtnisgeschichte, ein Begriff, der von dem Ägyptologen Jan Assmann geprägt wurde.
Gedächtnisgeschichte soll so sein, wie sie von Kollektiven erinnert wird, und nicht mit Tatsachenforschung abgeglichen werden. Für die meisten Muslime ist eine freundliche Haltung zum Islam wichtiger als eine tiefere Analyse.
Gedächtnisgeschichte ist unveränderlich
Das Gruppengedächtnis betont die Differenzen der eigenen Geschichten und der darin begründeten Eigenart im Gegensatz zu allen anderen Gruppengedächtnissen. Es sichert Exklusivität. Islamische Geschichtsschreibung ist ein Mittel gegen die Veränderung. Sie hat Interessen. Ihr Anliegen ist Rechtfertigung und Behauptung von Einmaligkeit. Sie sieht sich nicht als eine Geschichte im Kontext einer umfassenden Weltgeschichte, als eine unter vielen von verschiedenen Völkern, sondern betont die Besonderheit der muslimischen Gemeinschaft. Diese Heraushebung der eigenen kollektiven Identität ist ein Kennzeichen von Gedächtnisgeschichte im Gegensatz zur Historie, die solche Unterschiede nivelliert. (Assmann, S. 42f)
Die islamische Kultur verlangt Loyalität zur unveränderlichen Geschichtsschreibung. Es muss verhindert werden, dass in diese Geschichtsschreibung Historie eindringt, also nur nachweisbare Ereignisse berücksichtigt, nicht nachweisbare ausgeschieden werden. Die islamische Geschichtsschreibung ist eine andere Realität, die Realität des Heils, die erhalten bleiben, mit einem anderen Wort „eingefroren“ werden muss. (vgl. Assmann, S. 68)
Noch ein Wort zur Sira, der Biographie Mohammeds: „Die Sira ist eine zur Geschichte erhobene Ansammlung islamischer Überlieferungen.“ (Bangert, S. 502)
Bangerts Fazit:
So hat auch die islamische Theologie einen modernen Islam zu begründen, der sich nicht mehr abhängig macht von unbewiesenen und unbeweisbaren Geschichten und Gestalten einer historisch ungesicherten Frühzeit, sondern sich hinorientiert zu einem auf Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Freiheit basierenden Glauben an einen einzigen, barmherzigen und friedliebenden Gott, dessen Identität mit dem Gott der Juden und Christen nicht verschämt verschwiegen werden muss, sondern offen und ausdrücklich bekannt wird und zu einem Muhammed, dessen Biographie nicht sacrosanct ist und dessen ursprüngliche Identität mit dem Messias-Jesus durchaus als Bereicherung empfunden werden kann. (S. 767f)
Bis dahin, steht zu fürchten, ist es noch ein weiter Weg. Bisher ist die Bibel für Muslime so unrein wie Schweinefleisch, sodass eine fundamentale Unwissenheit über die Gemeinsamkeiten des Islams mit den anderen Monotheismen besteht.
Im der islamischen traditionellen Erzählung wird die Entstehung der neuen Religion in eine von Stammeskonflikten, Karawanen und Raubzügen bestimmten Gesellschaft verlegt, die beduinisch wirken soll, obwohl die Hauptakteure Stadtbewohner sind, Mekkaner und Medinenser. Der Rückgriff auf das Nomadentum pflanzt die Ursprünge der Religion in unvordenkliche Zeiten und legitimiert sie damit als alterslos, auch wenn gleichzeitig angeblich historische Ereignisse eine wichtige Rolle spielen.
Als der Islam kam, war der Monotheismus längst da
Der Islam ist jedoch nicht die Religion, die aus einer primitiven Stammesgesellschaft kam. Er erwuchs auch nicht aus einem Umfeld von Analphabetismus und Polytheismus. Als der Islam auf dem Religionsmarkt erschien, hatte der Monotheismus längst gesiegt. Juden- und Christentum waren voll entwickelt. Seit dem ersten Auftreten Jahwes in der Thora waren 1.000 Jahre vergangen, das Christentum war seit einigen Jahrhunderten Staatsreligion des Römischen Reiches, und der Zoroastrismus des persischen Reiches war noch älter als beide.
Kurt Bangert legt das Hauptgewicht auf die Entstehung des Islams aus dem semitischen Christentum, jedoch ist der Zoroastrismus hier nicht zu vernachlässigen, wie schon Ignaz Goldziher einmal wieder als erster erkannt hat. Der Einfluss dieses Glaubens wird unterschätzt, weil er der heute vermutlich unbekannteste Monotheismus ist. Hier gibt es Himmel und Hölle, die Ankunft eines Erlösers, die leibliche Auferstehung der Toten und ein Jüngstes Gericht. Der Aspekt des Jüngsten Gerichts wird von den Abbasiden gestärkt, und Jesus wird jetzt vornehmlich als Richter betrachtet.
Vor allem denkt der Zoroastrismus in Gegensätzen: Gut und böse, Himmel und Hölle, Gott und Teufel (Ahura Mazda und Ahriman) gläubig und ungläubig, rein und unrein. Das Konzept der materiellen Unreinheit, das der Islam vertritt, stammt aus dieser Tradition. Mit der Verschmelzung persischer Elemente wird die neue Religion intoleranter. Die persische Unterscheidung bih-din und bed-din, guter Gläubige und schlechter Gläubige wird ein tragendes Prinzip des Islams. Ebenfalls persisch ist die Vorstellung der Einheit politischer und religiöser Herrschaft. Dies ist das sassanidische Erbe der Abbasiden.
Es rächt sich, dass der Islam sich von seiner Vergangenheit abgeschnitten hat. So versteht er sich selbst oft nicht. Schlimmer ist nur, dass die westliche Islamwissenschaft mehrheitlich den Islam mit dessen Augen sieht und darum auch vieles nicht versteht. Nicht nur der Islam hat einen Reformstau. Die Islamwissenschaft stagniert ebenfalls. Anstatt kritische Forschung zu fördern, befindet sie sich im Modus der Nachahmung, einer im Islam üblichen und gerühmten Praxis. In der islamischen Kultur hat der Gebrauch der eigenen Vernunft keine Priorität. Darin liegt eine der wichtigsten Differenzen zwischen dem westlichen und dem islamischen Milieu.
Die neuere Forschung, die zum großen Teil außerhalb der etablierten Lehrstühle arbeitet, hat dem Islam, wie wir ihn kennen, die Grundlagen entzogen. Seine Erzählung ist mit Historie nicht in Übereinstimmung zu bringen. Regeln, die sich auf den Koran und die Hadithe des Propheten Mohammed berufen, haben keine Verankerung mehr – eigentlich. Im Islam gelten jedoch gemeinsame unveränderliche Überzeugungen mehr als Neuentdeckungen. Islam ist – noch immer – alternativlos für Muslime.
Die gefährliche Verwandschaft der Tugendstaaten
Er ist es aber nicht für Nichtmuslime. Diese haben die Wahl, ob islamische Gedächtnispolitik nun auch in Europa für alle verbindlich einen Mythos einpflanzen darf, der mit historischer Wirklichkeit nichts zu tun hat. Die europäische Gesellschaft durchläuft zur Zeit drastische Veränderungen durch die anhaltende Immigration von Muslimen. Es vollzieht sich eine latente Revolution, der eine manifeste folgen könnte.
Herrschaft des Islams bedeutet, dass seine Tradition herrscht und die Traditionen der Beherrschten sich dieser unterordnen müssen. Für lange Zeit galt die Überzeugung, dass der Westen nicht dazu bereit wäre, die über Jahrhunderte entwickelten Institutionen und Werte einfach preiszugeben. Auch diejenigen, die leichtfertig Kritik daran äußern und westliche Werte relativieren, würden im Ernstfall merken, was sie riskieren und zu verlieren drohen. Diejenigen, die westliche Institutionen im Geiste der Moderne kritisieren, wissen ohnehin, was auf dem Spiel steht. Seit einiger Zeit arbeitet jedoch der westliche und speziell deutsche Ehrgeiz, einen Tugendstaat zu errichten, dem Islam zu, denn auch der Islam will einen Tugendstaat. Das Verbot von Mikroaggressionen auf der einen Seite wird die andere allerdings noch nicht einmal von Makroaggressionen abhalten.
Wissenschaftler, die die Tradition des Islams unkritisch weitererzählen, müssen sich fragen lassen, ob sie auch bereit wären, diese Geschichte als für sich selbst bestimmend gelten zu lassen, ob sie ihr eigenes Leben an der theologischen Wahrheit dieser Tradition ausrichten würden. Vielleicht würden sie, wenn der Kern dieser Wahrheit, nämlich Machtergreifung, offenbar würde, endlich ihre Ansichten überprüfen. Einer nach Hegemonie und Suprematie strebenden Ideologie darf nicht die alleinige Deutungsmacht über ihre Regeln und Grundlagen überlassen werden. Sie ist im Gegenteil der Prototyp für Kritik.
Gastautorin Barbara Köster hat Soziologie und Politikwissenschaften studiert.
JAN ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2013
KURT BANGERT: Muhammad. Eine historisch-kritische Studie zur Entstehung des Islams und seines Propheten, Wiesbaden 2016
Goldziher, Ignaz: Islam und Parsismus, in: Ohlig, Karl-Heinz, Der frühe Islam, Berlin 2007, S. 415-439