Maria Muldaur hat in ihrem Album «Waitress in a donut shop» (1974) ein altes Gospellied, das tief ins christliche Bewusstsein von Tod und Vergänglichkeit langt, brilliant re-inszeniert. Es handelt sich um den Song «Travelin’shoes» mit dem Leitmotiv: «Death comes knocking on the door». Also: der Tod geht um und klopft an verschiedenen Türen mit der Frage an: «Bist Du bereit mitzugehen»?- Zuerst an der Türe des Sünders, dann der des Lügners und des Spielers, und jedesmal wird er panisch abgewehrt mit den Worten: «Nein, nein, ich habe meine Reiseschuhe (travellin’shoes) nicht an»! Zuletzt kommt er an die Türe des Christen, der ihm nun ganz begeistert zuruft: «Ja, ja, ich bin bereit mitzugehen, denn ich habe gerade meine Reiseschuhe an»!- Der Christ ist immer und in jedem Augenblick seines Lebens breit, mit dem Tod mitzugehen; seine «Reiseschuhe» sind sein Glaube an die Ewigkeit und sein Vertrauen in Gott; und sobald Gott ihn heim ins wahre, ewige Leben ruft, ist er voller Freude, alles Irdische, Vergängliche und Nichtige rückhaltlos zu lassen: Die christliche Offenheit für den Tod schöpft aus einem transzendierenden Ewigkeitsbewusstsein göttlichen Lebens, das allzeit bereit ist, das große Tor zum Unnahbaren aufzustoßen. Nichts ist ihm fremder, als am Leben zu kleben, sich ein möglichst langes Leben oder gar seine unendliche Verlängerung zu wünschen: Er existiert aus der Vertikalen.
Dem modernen Menschen ist all das zutiefst fremd, wenn nicht gar widerwärtig. Selbst unter jenen, die sich ganz aus dem Christentum verstehen, dürfte es nur noch wenige geben, die allzeit freudig bereit «mit angezogenen Reiseschuhen» dem Gottesruf des Todes entgegenwarten. Längst ist das Christentum, seines metaphysischen Kerngehalts beraubt, zu einem moralischen Gefühlsunternehmen verkommen, das alles Schicksalhafte menschlichen Lebens mit emotionalen Besänftigungsriten wie Mitleid, Barmherzigkeit usf. zudeckt.
Die Zeit des «postheroischen» Menschen …
Die Todesangst, so der Freiburger Philosoph und Mystiker Wolfgang Struve, sei im Kern auch immer «Versäumnisangst»: die Angst, etwas im Leben – das Wesentliche – versäumt zu haben und es nicht einholen zu können. Das Leben wird zum Aufschub, zur Erwartung eines transzendierenden Ereignisses, darin es vollendet von sich selbst, seiner horizontalen Verbissenheit, Abschied nehmen und sich frei entlassen könnte. «Einmal lebt ich wie Götter, und mehr bedarfs nicht!» – heißt es bei Hölderlin (An die Parzen). Wo die Vertikale fehlt, kann die Horizontale keinen Ersatz bieten – sie erschöpft das Lebensverlangen des Einzelnen in immer wieder neuen Erfüllungen, die alsbald verblasst das Begehren nur umso mehr in seine unendlichen Wiederholungen entfachen – die auf ewig unbefriedete Welt erotischen «Konsums» (von lat. «consumare»: verbrennen), also der Welt als einer ewig ungesättigten Verbrennungsanlage.
Der Mensch ohne Vertikale ist der schwache Mensch; es fehlt das Rückgrat eines Freiheitsbewusstseins, das sein lebendiges Fleisch in die Transzendenz von Leben und Tod aufrichtet, wie es auch abseits vom Christentum, letztlich in allen Religionen, in Kunst und Philosophie, ausgebildet wird. Achill, Emblem griechischen Heldentums, entscheidet die Alternative, ob er sich ein langes und ruhmloses oder kurzes und ruhmvolles Leben wünsche: Nicht die leere Extension, nur das Verlangen göttlicher Intensität ist Sache des starken Menschen – es heiligt das menschliche Leben über sich und seinen Tod hinaus. Deshalb heißt es bei Schiller: «Das Leben ist der Güter höchstes nicht». Aber wo dieses Wissen dahinschwindet, bleibt nur die Hysterie der Todesangst, in Wahrheit: die Angst vor dem Leben als Aufgabe der Selbsttranszendenz. Es ist die Zeit des schwachen Menschen.
… die Zeit des schwachen Menschen
Zwar schmückt sich die Zeit des schwachen Menschen gerne mit dem Prinzip: «no risk no fun». Aber der schicksalhaften Wirklichkeit lebendigen Daseins entfremdet bleibt nur der Lebenskitzel, der sich auf das technologisch verfügbare Fangnetz verlässt, das ihn in letzter Instanz doch vor dem schallenden Aufprall bewahren soll. Es darf mit dem Lebensbedrohenden, mit dem man gerne spielt, letztlich doch nicht so ernst werden, dass der Spieler daran zerschellt. Man hat sein Handy dabei und seinen Airbag um, wenn man sich in den Lawinenhang stürzt; mit der technikgläubigen Versicherung in der Tasche, dass man doch immer gerettet werde, wird das Risiko zum Spaß, sich an seinen Grenzen kitzeln zu lassen, um der Leere und Langeweile verfügten Daseins zu entkommen. Die technologische Gesellschaft institutionalisiert sich als umfassendes Versicherungsunternehmen gegen allen Unbill geschickhafter Verstrickungen und überantwortet dem Staat die Aufgabe, den menschlichen Lebensspaß vor seinen eigenen Risiken zu schützen.
Krankheiten sind Vergegenwärtigungsinstanzen der Verletzlichkeit und Hinfälligkeit menschlichen Lebens; je schwerer die zu erwartenden klinischen Verläufe, desto inniger vermitteln sie auch die Gegenwart des Todes. Eine Krebsdiagnose gilt Vielen schon als Todesurteil; aber ein Virus, dessen «infection-letality-rate» bei geringfügigen ca. 0,4% liegt und vordringlich die Altersgruppe Ü-80 betrifft, kann nur über politisch-mediale Inszenierungen jene Massenpanik erzeugen, die als Legitimationsbasis einer weitgehenden Einschränkung von Freiheitsrechten dient. Dabei sind die politischen Entscheidungsträger und ihre medialen Propagandisten nicht anders als die allgemeine Bevölkerung Subjekte der modernen Befindlichkeit – vertikal erodierte, in der Horizontalität bloßen biologischen Lebens zentrierte «schwache Menschen», denen die technologische Beseitigung allen Übels die einzig verbliebene Form ist, mit der geschickhaften Negativität des Seins umzugehen.
Ausrottung des Negativen (Virus) und Herstellung der Unverletzlichkeit (Impfung) sind ihnen der einzige Weg, die Präsenz imaginierter Todesgefahr zu bannen. Die Freiheit des Einzelnen wird der technologischen Verdinglichung menschlichen Lebens geopfert. Aber das Verhältnis des Menschen zu Krankheit und Tod ist ein zutiefst persönliches, in der Innigkeit seines personalen Selbstseins gebildetes, das aus seiner geistigen Bildung in Religion, Kunst und Philosophie schöpft und ihn in den mehr oder minder freien Umgang mit dem Negativen des Seins freisetzt. Es ist auf jeden Fall keine Sache des Staates und seiner Gesetzgebung, in diese innere Wissens- und Gewissensfreiheit des Einzelnen einzugreifen, etwa zu bestimmen, wie er mit Infektionsgefahren umzugehen hat. Denn auch dies gehört zur inneren Gewissensbildung des Menschen, deren Freiheit durch das Neutralitätsgebot des Staates zu achten ist. Aber ist dies auch der Fall?
Das Neutralitätsgebot definiert zwar das staatliche Handeln, nicht aber seinen Gegenstand: den Bürger – als weltanschaulich-religiös neutral, im Gegenteil: Es dient gerade der Achtung seiner Gewissensfreiheit, die genau dann aufgehoben wird, wenn der Mensch selbst zum Neutrum einer rein biomorphen Masse herabgestuft wird, die durch den Staat um jeden Preis zu schützen sei. Die Corona-Politik erhebt die Schutzanmaßung des Staates zum Dogma eines rein biomorphen Lebensschutzes, das den Einzelnen jedes freie, selbstbestimmte Verhältnis zu seinen Gefährdungen untersagt. Sie verstößt damit gegen die Wissens-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die der autonomen Selbstbestimmung des Einzelnen angehört.
Freie Selbstbestimmung gilt immer …
Denn die Freiheit des Einzelnen besteht darin, dass sich jeder, der das Infektionsrisiko und die damit eventuell einhergehende Todesgefahr eingehen will, auch jederzeit mit all denen, die ebenso denken, zu einer Gruppe gemeinsam fortgeführter «normaler» Lebenspraxis vereinigen kann (Gruppe A); alle anderen (Gruppe B) aber können sich ebensosehr in freier Selbstbestimmung davon fernhalten und durch ihr eigenes Sozialverhalten vor der Infektionsgefahr schützen.
Eben so verhält es sich auch in anderen Lebensbereichen; überall gibt es besonders ängstliche Menschen, die bei jedem Windstoß befürchten, dass ihnen die Seele nicht davonfliege, und andere tolldreiste, die sich sehenden Auges in den Abgrund stürzen; aber auch ein breit gestreutes Mittelfeld, das nach Augenmaß die Verhältnismäßigkeiten abschätzt. Dem Staat bleibt dabei zu Recht nur das Zusehen. Denn vom «Schutz der Allgemeinheit» oder der «Gefährdung öffentlicher Sicherheit», wie etwa im Kriegsfalle oder bei der Verbrechensbekämpfung, kann hier gar nicht die Rede sein, da der Schutz ganz der ethischen Autonomie des Einzelnen angehört und von ihr – bei allen personalen Differenzen – auch in Eigenverantwortung geleistet werden kann (Subsidiaritätsprinzip).
Aber die Angst ist erfinderisch in der Imagination von Bedrohungsmöglichkeiten und Hypothesenbildungen. So mag man dann hypothetisch auch noch die mögliche Überlastung des Gesundheitssystems beschwören, verkehrt aber damit, was zum Aufgabenbereich staatlicher Verantwortung gehört, zu der des Bürgers: als müsste er durch Nichterkrankung eine defizitäre Gesundheitspolitik vor ihrem Offenbarungseid schützen. Ebensogut könnte man Führerscheinprüfung und KfZ-Zulassung verbieten, weil die Straßen überfüllt sind und es zu wenige Parkplätze gibt. Wie immer man die Ausflüchte wendet: Ein vom Staat kollektiv verhängter moralischer Altruismus, der über die Aufhebung allen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens zur kollektiven Selbstzerstörung führt, führt sich selbst ad absurdum und offenbart an seinem Widersinn die Hilf- und Ratlosigkeit einer schwachen Zeit, die in ihren technologischen Verdinglichungen menschlichen Lebens jedes Maß verloren hat.
… nicht nur, wo das BVerfG will
Der staatliche Übergriff auf die unantastbare Freiheit der Person erscheint umso widersinniger, als das Bundesverfassungsgericht (BVG) im Februar 2020 die freie Selbstbestimmung auch als Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben bestätigt hat. Denn dies schließt per se auch das Recht auf freie Selbstgefährdung ein, wie es der allgemeinen Lebenspraxis ohnehin schon immer als Prinzip der Selbst- und Eigenverantwortung zugrunde lag. Dazu gehört auch der selbstbestimmte Umgang mit Infektionsgefahren, so dass die in der Corona-Politik verhängten kollektiven Grundrechtseinschränkungen weder rechtliche noch sittlich-moralische Geltung beanspruchen können. Wie empfindlich das autonome Freiheitsbewusstsein solche staatliche Anmaßungen zurückweist, zeigte sich besonders eindrucksvoll an der – im Anschluss an das im Fernsehen übertragene Kammerspiel «Gott» von Ferdinand von Schirach – erfolgten Umfrage, bei der mehr als 70% der Zuschauer das Recht auf selbstbestimmtes Sterben auch ohne jede medizinische Notlage befürworteten.
Der Mensch wird zur passiven Masse biomorphen Lebens entwürdigt, das umwillen des fragwürdigen Ideals seiner indefiniten Verlängerung zu schützen sei – auch gegen seinen Willen. Das für viele Menschen Entwürdigende des Alterns, das im Verlust freien Selbstseins, der Scham der Pflegebedürftigkeit oder gar des dementen Persönlichkeitsverlustes geschickhaft hereinbricht – und genau dies liegt auch meist dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben zugrunde, wird durch die politische Schutzanmaßung und ihre bedingungslose Fetischisierung rein biomorphen Lebens zur Mißachtung der Person gesteigert. Und wieviele sind trotzdem oder gerade deshalb unter menschenunwürdigen Bedingungen gestorben?
Bedrohung der freiheitlichen Grundordnung
Das elementare Freiheitsrecht auf eigenverantwortliche Selbstgefährdung betrifft andererseits auch gerade die Auflagen für und Verbote von Anti-Corona-Demonstrationen. Das vom BVG am 5.12. bestätigte Verbot der Bremer Querdenker-Demonstration widerspricht damit seiner eigenen Rechtssprechung, indem es das Recht der Teilnehmer auf selbstbestimmte Infektionsgefährdung unter dem Vorwand allgemeinen Gesundheitsschutzes kassiert, der aber einzig und allein die Teilnehmenden selbst betrifft. Diese aber weisen einen solchen Schutz mit dem übergeordneten Recht auf freie Selbstgefährdung zurück, die sie gerade nicht für partikuläre Interessen eingehen, sondern im gemeinschaftlichen Interesse der Wiederherstellung der grundrechtlichen Ordnung und damit des Gemeinwohls. Die Selbstwidersprüche einer politisierten Justiz zur Legitimation einer die demokratischen Grundrechte aufhebenden Corona-Politik wird damit zur Bedrohung der freiheitlichen Grundordnung selbst.
Der Staat aber vermag nichts gegen das Geschickhafte des Daseins, das immer nur vom Freiheitsbewusstsein des Einzelnen ausgetragen wird. Die Schutzanmaßung des Staates überschreitet, was er wesenhaft zu leisten vermag; aber nicht Kompetenzanmaßung ist am Werk, sondern die Ideologie der Moderne, der die Verdrängung des Geschickhaften des Daseins, von Alter, Krankheit und Tod, in fatale Selbstzerstörung umschlagen muss, wo sie es ihrer Ratlosigkeit anzueignen und technologisch auszurotten sucht.
Unter diesen Bedingungen trifft die Lebenswirklichkeit auf die in ihrer Ratlosigkeit verschreckten politischen Subjekte und löst eine staatliche Zwangsneurose aus, die sich in mimetischen Angleichungsprozessen über die Staatenwelt ausbreitet und dadurch den Schein einer objektiven, unumstößlichen Wahrheit erzeugt, die in ihrer eigenen Besessenheit befangen von Lockdown zu Lockdown fortstolpert und ebenso widersinnig wie ineffizient nur den Untergang der eigenen Lebensgrundlagen befördert. Nicht Ausrottung des Virus, Impfung und Immunität, nur der geistige Sprung aus der Sackgasse psychodramatischer Selbstverhexung vermag das Freiheitsbewußtsein wieder zu erwecken, das mit der Negativität des Seins auch umzugehen vermag.
Gegen die staatliche Schutzanmaßung durch Freiheitsberaubung
Massenpsychologisch aber lautet das Codewort des Jahres 2020: Unterwerfung. Es ist die neue Lust an Strenge, Autorität, Ordnung und Befehl, die sich als Sehnsucht nach maßgeblicher Orientierung in infantiler Regression ergeht. In kindlich-braver Unterwürfigkeit lässt man sich alle Schikanen auch wider alle Evidenz und Vernunft gefallen, ja, heißt sie auch noch gut. Wo ganze Bevölkerungen sich durch leicht durchschaubare Desinformation der Medien hysterisieren und in Panik versetzen lassen, ist die Firnis rationaler Abwehrkräfte schon so dünn geworden, dass der Ausbruch des Irrationalen fast schon von selbst geschieht.
Ob das Jahr 2020 als ein weiteres Kapitel im Selbstzerstörungsprozess europäischen Selbst- und Freiheitsbewusstseins in die Geschichte eingehen wird, bleibt unabsehbar; unabsehbar auch, ob das Jahr 2021 nicht durch den wachsenden Widerstand des Freiheitsbewusstseins wieder die «travellin’ shoes» anzieht – nicht, um einem Todesruf Gottes zu folgen, sondern als die Bereitschaft, sich das Geschickhafte menschlichen Daseins produktiv anzuverwandeln. Es könnte wider Erwarten doch sein, dass mehr und mehr Menschen ihre «Reiseschuhe» neu entdecken, um den staatlichen Schutzanmaßungen durch Freiheitsberaubung – «die Schuhe zu zeigen»!
Rudolf Brandner