Da wundern sich Berlin und Brüssel, dass es in Deutschland und in weiten Teilen der EU keinen oder zu wenig Impfstoff gibt und nehmen staunend zur Kenntnis, dass Israel beim Impfen weltweit zu den schnellsten und effizienten gehört. Hier der Versuch einer erklärenden Zusammenfassung: Berlin und Brüssel quatschen – Jerusalem und Tel Aviv impfen.
Wer hätte das gedacht? Biontechs Impfstoff ist eine deutsche Erfindung, aber als er für Deutschland in diesen Tagen gebraucht wird, steht er dort in geringerer Anzahl zur Verfügung als in Israel. Auch in absoluten Zahlen gerechnet, dabei ist Deutschlands Bevölkerung neunmal größer. Selbst die „Neue Züricher“ kann es sich nicht verkneifen: Israel habe vielleicht besser bezahlt und unterstellt klammheimlich: da siehst Du es wieder, die Juden machen alles mit ihrem Geld, blättern statt 18 US-Dollar Marktpreis pro Gläschen locker 30 „Bucks“ auf den Tisch. Es gibt auch im neuen Jahr wieder Arbeit für die Antisemitismus-Beauftragten in Bund und Land.
Selbst die schwarzhütigen Bibelkenner zwischen Jerusalem und Tel Aviv pflichten ihm bei. Denn das Leben ist das höchste Gut. Alle Ge- und Verbote gelten nicht, wenn es um Menschenleben geht. Das ist der rote Faden der Thora, des Alten Testaments, seit 3000 Jahren.
Aber bleiben wir in der Gegenwart. Israel hat ähnlich wie Deutschland ein gut ausgebautes Gesundheitssystem. Vier staatliche Gesundheitskassen stehen im Wettbewerb miteinander, es gibt ausreichend und gute Ärzte, die Pflegeberufe sind hochangesehen, aber schlecht bezahlt. Für die arabisch-stämmigen Israeli, die in den Krankenhäusern auffällig stark vertreten sind, ist eine Krankenschwester im Ansehen eine Fast-Ärztin. Als vor zwei Wochen die erste Patientin geimpft wurde, tanzten Ärzte und Schwestern aller Hautfarben und Religionszugehörigkeiten auf der Station eines Krankenhauses, mit ihnen das ganze Land, überschwenglich über TV und soziale Medien.
Zusammenhalt ist das nächste Stichwort. Wer die politischen Auseinandersetzungen innerhalb und ausserhalb des Parlaments verfolgt, muss glauben, die Netanyahus und Gantzens fallen in ihrem Kampf um die Macht im Staat jeden Moment gewalttätig übereinander her. Das Vokabular ist ohnehin 24/7 jenseits von political correct. Aber der Verteidigungsminister Gantz kümmert sich an den Grenzen zu Gaza und anderswo, dass die Familie Netanyahu sicher in „Eretz Israel“, im Lande der Väter, leben kann. Und Netanyahu bringt ausreichend Impfstoff ins Land, damit auch Gantz und andere unversöhnliche Widersacher ihm 2021 coronafrei an den Hals gehen können. Wenn es ums Eingemachte geht ist der Zusammenhalt spürbar. Die leidvolle Geschichte, ob Ashkenazi (europa-stämmig), Sfaradi (arabisch-nordafrikanisch-stämmig) oder israelisch-arabisch (gewachsen in 72 Jahren) schweißt zusammen.
Bevor eine Diskussion losbrechen kann, wer zuerst geimpft wird, hat das Land in weniger als zwei Wochen eine Million Menschen gespritzt. So gerne auch Israeli lautstark diskutieren, wenn es um das nackte Leben geht wird zügig gehandelt und geimpft, wo in Deutschland intellektuell verbrämt noch langatmig gequatscht wird. Jeder will rechthaben, aber wo ist der Impfstoff und das dazugehörende Personal?
Die fortgeschrittene Digitalisierung Israels erweist sich in Notsituationen als großer Vorteil. Das Gesundheitsbild des bei einer Impfstation angemeldeten Patienten liegt über ID-Nummer und Gesundheitskarte längst vor. Der Arzt muß nicht mehr lange und viel fragen. Die Krankenschwester sticht zu. Zwei Minuten pro Patient reichen aus. Die Diskussion über die Wahrung der Privatsphäre ist verschoben.
„Schlafstunde“ ist eines der wenigen Worte, das Eingang ins Hebräische gefunden hat. Es drückt den Respekt vor einem geordneten Tagesablauf in einem einstmals geregelten deutschen Leben aus. Danach haben sich heimatlose Juden 2000 Jahre gesehnt. Im 21. Jahrhundert verkehren sich die Dinge ins Gegenteil. (Rest-) Deutsche blicken bewundernd an den Ostrand des Mittelmeeres, in das westlichste Land Asiens und ziehen den Hut vor der gelebten Effizienz, vor dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und der Liebe zu ihrem neuerworbenen Land. Oder sie verfallen in ein neidvolles Gemurmel, dessen Inhalt eigentlich niemanden mehr interessiert.