Kann das Volk der Dichter und Denker Freiheit? Kann es Rationalität? Kann es souveräne Individualität und Bürgerlichkeit? Kann es bürgerliche Revolte? Kann dieses Volk Liberalismus, auch wenn unter deutschen politischen „Denkern“ die Sozialisten und Kommunisten hervorstechen: Engels, Marx, Liebknecht, Rosa Luxemburg und ihre Epigonen.
Ja, ideell kann dieses Volk „Liberalismus“. Die Aufklärung mit einem Immanuel Kant sowie die Klassik mit Wieland, Herder, Goethe (siehe seinen „Götz von Berlichingen“, „Egmont“ und „Faust“), Schiller (siehe seinen „Don Carlos“ und „Wilhelm Tell“), ferner mit Wilhelm von Humboldt waren Epochen eines liberalen Habitus, vor allem Epochen liberal programmatischen Denkens. Und auch real-politisch konnten die Deutschen Freiheit und Liberalismus – wenn auch nur gelegentlich. In der deutschen Geschichtsschreibung, die Bibliotheken füllt, kommt deutsche Liberalität zu kurz. Es dominieren die deutschen Diktaturen, der Liberalenfresser Bismarck, der „Fürstenknecht“ Luther, auf den sich die „terra oboedientiae“ (das brav gehorsame Land) gründet usw.
Die Lektüre eines soeben neu erschienenen Buches wäre hier wahrlich hilfreich – auch für eine in Sachen historischer Bildung nur sehr begrenzt unterkellerte „hohe“ Politik. Gerd Habermann hat es geschrieben. Der Titel lautet: „Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart.“ Es ist ein anspruchsvolles und dennoch gut zu lesendes Buch von 288 Seiten. Dieser Umfang ist für ein Werk dieses Anspruchs kein üppiges Volumen. Doch es ist gut, dass die Darstellungen überschaubar bleiben. Wer die Lektüre untermauern möchte, der kann das anhand der über 600 homogen eingearbeiteten Quellenangaben problemlos tun.
Für Habermann sind die Voraussetzungen eines deutschen Liberalismus historisch in reichem Maße gegeben. Er beschreibt unter anderem: das Freiheitsbewusstsein unabhängiger Bauern und Bürger, genossenschaftliche Bauernrepubliken, 3000 stolze konföderierte Städte (zum Beispiel Stendal, Nürnberg, Schwäbisch-Hall sowie die Hanse), um Wohltaten für ihre Bürger konkurrierende Kleinstaaten mit liberal „aufgeklärten“ Herrschern. Jeder Libertäre wird staunend zur Kenntnis nehmen, dass es sogar unabhängige Dörfer, „Frauenstaaten“, ja freie Bauernhöfe, auch Hunderte von kleinen Ritterstaaten gab, dazu viele selbständige Bistümer, Klöster und Abteien, schreibt Habermann. Hier kann er dem Föderalismus und der in Misskredit geratenen Kleinstaaterei sehr viel abgewinnen. Ja mehr noch: Habermanns durchgängiger Leitgedanke heißt Dezentralisation bzw. Polyzentrismus. Das fördere, anders als der paternalistische Wohlfahrtsstaat, den Wettbewerb der Ideen und der Kreativität – bis hinein in die idealerweise eigenständige kommunale Ebene. Zentralisation pur dagegen verkommt schnell zum Machtstaat, mit dem die Deutschen kein Glück hatten. Mit Polyzentrismus meint Habermann im Übrigen vor allem die deutsche Sprach- und Kulturnation, die sich ja im Laufe der Jahrhunderte fortentwickelt hat mit Deutschland als Kernland sowie mit Österreich, der Schweiz, Lichtenstein, Luxemburg, zu Teilen mit Südtirol und der deutschsprachigen Minderheit in Belgien.
Habermann beginnt mit einer Klassifikation von Freiheitstypen. Typ I ist eine Freiheit, die den Menschen aus seiner instrumentalen Rolle befreit und ihm die Würde zurückgibt. Typ II ist die Garantie einer inneren und äußeren Freiheit durch ein Gemeinwesen. Typ III ist die Freiheit der kollektiven Selbstbestimmung. Und Typ IV ist die Freiheit von Mangel und Not.
Habermann fährt gegen all die illiberalen Entwicklungen deutscher Geschichte namhafte liberale Denker auf. Sein 14. Kapitel ist denn auch überschrieben mit „Wiedererwachen und neuer Kampf.“ Es wird an Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke, vor allem an Friedrich August von Hayek und an den offenbar auch in der CDU längst vergessenen Ludwig Erhard erinnert. Hoffnung macht Habermann, indem er an den Widerstand im Dritten Reich, an den Aufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 und an das „annus mirabilis 1989“ erinnert, mit dem eine deutsche Diktatur endete.
Alles in allem: Habermann widmet sich in seinem mit einem attraktiven Cover illustrierten Werk den leider vielfach verdrängten oder auch angeblich politisch inkorrekten Preziosen freiheitlichen Denkens und Handelns in deutscher Geschichte. Hier wären Vorbilder zu finden: für heute und für die Zukunft – vielleicht auch für eine (neue?) Partei, die sich wirklich dem Liberalismus widmet und nicht im Schielen auf Kabinettsposten dem Mainstream unterwirft.
Zum Autor: Professor Dr. Gerd Habermann ist Initiator und geschäftsführender Vorstand der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft. Seit 2003 ist er Honorarprofessor an der Universität Potsdam. Zu seinen bislang wichtigsten Publikationen gehören: „Der Wohlfahrtsstaat. Die Geschichte eines Irrwegs“ (3. Aufl. 2013) und „Freiheit oder Knechtschaft? Ein Handlexikon für liberale Streiter“ (2011).
Gerd Habermann, Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart. Lau-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten, 24,00 €