Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 49-2020

Boris Palmer: Der Mann, der aneckt – vorwiegend bei Grünen

Von der eigenen Partei verfemt, erlebt der bekannteste deutsche Oberbürgermeister aus Tübingen in der Pandemie eine nicht nur mediale Wiederauferstehung.

Boris Palmer

imago images / Eibner

Der Mann polarisiert schon, solange ich ihn aus meinen eigenen Grünen Zeiten kenne. Gut 25 Jahre ist das inzwischen her. Mit seiner analytischen Schärfe, seiner Rigorosität und einer bereits in jungen Jahren ausgeprägten Haltung, ihm intellektuell unterlegenen Zeitgenossen das auch deutlich spüren zu lassen, prägte er sich bei mir ein. Freunde in der Partei machte er sich damit nicht, aber Respekt verdiente er sich doch über seine Kompetenz. Seinen verstorbenen Vater, der als Remstal-Rebell in ganz Baden-Württemberg bekannt war, auch weil er 289-mal bei Bürgermeisterwahlen vergeblich kandidiert hatte, habe ich wiederholt noch persönlich erlebt und gesprochen, weil er fast regelmäßig bei Veranstaltungen am späten Abend im Publikum auftauchte, wenn ich als MdB in seiner Heimatregion bei öffentlichen Veranstaltungen sprach. Ich mochte den Mann, der in seinem Kampf gegen die Bürokratie für viele wie Don Quichote gegen Windmühlen zu kämpfen schien. Er war aufrecht, obwohl er an seiner Unerbittlichkeit gewaltig litt.

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Als sein Sohn Boris und ich zwei Jahre lang Fraktionskollegen der Grünen Fraktion im Stuttgarter Landtag waren, fand ich meine Einschätzung im politischen und persönlichen Alltagsumgang bestätigt. Boris Palmer war fleißig und fachkundig, besaß eine unglaublich rasche Auffassungsgabe, agierte extrem medienaffin, was Futterneid bei weniger beachteten Kolleginnen und Kollegen auslöste. Von Winfried Kretschmann, der damals die Grüne Oppositionsfraktion führte, wurde er geschätzt.

Mit fast väterlicher Toleranz beäugte der heutige Ministerpräsident auch gelegentliche Eskapaden seines Zöglings. Doch Kretschmann verfügt ohnehin über die Fähigkeit, starke Persönlichkeiten neben sich zu tolerieren, kann auch mit Eigenständigkeit durchaus umgehen, wenn sie sich mit Kompetenz paart. In seinem Kampf gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 verbohrte sich Palmer als umwelt- und verkehrspolitischer Sprecher ab 2001 im Stuttgarter Landtag in jedes Detail, nervte Freund (in den Fraktionssitzungen) und Feind (im Landtag) in langen Monologen und gewann doch mit diesem Thema in den von Heiner Geißler moderierten Schlichtungsgesprächen, die im Fernsehen übertragen wurden, Profil und Wahrnehmung weit über die Landespolitik hinaus.

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Als der damals 32-Jährige im Herbst 2004 für das OB-Amt in Stuttgart kandidierte, kam er mit 21,5 Prozent der Stimmen auf Platz 3. Nach Gesprächen mit beiden vor ihm platzierten Kandidaten von der CDU und SPD zog er seine Kandidatur für den erforderlichen 2. Wahlgang zurück. Vor allem die von Palmer erreichte Zusage des späteren Wahlsiegers Wolfgang Schuster (CDU), dass er einen Bürgerentscheid über das umstrittenen Bahnhofsprojekt für möglich halte, wurde damals allgemein als indirekte Wahlempfehlung des Grünen für den CDU-Bewerber verstanden. Dass Schuster diese Zusage dann nicht einlöste, hat nicht nur Palmer zutiefst verbittert, sondern auch die jahrelange Eskalationsspirale ausgelöst – ohne die auch der Machtverlust der Mappus-CDU in Baden-Württemberg im Jahr 2011 kaum erklärbar ist.

Mit Aplomb eroberte Palmer zwei Jahre nach seiner gescheiterten Stuttgarter OB-Kandidatur den Ratssessel in Tübingen. Bereits im 1. Wahlgang entthronte er die amtierende SPD-Oberbürgermeisterin mit der absoluten Mehrheit von 50,4 Prozent. Wenige Monate nach seinem Amtsantritt legte er sein Landtagsmandat nieder und verließ damit die landespolitische Bühne. Dass Palmer in seinem kommunalen Hauptverwaltungsamt, dem nach der süddeutschen Ratsverfassung eine sehr starke Stellung zukommt, weil der Bürgermeister sowohl Chef der kommunalen Verwaltung als auch Vorsitzender des Gemeinderats ist und dessen Beschlüsse vorbereitet und umsetzt, in Tübingen reüssieren konnte, belegt seine glänzende Wahlbilanz nach seiner ersten achtjährigen Amtszeit. Mit 61,7 Prozent wurde er im Oktober 2014 bei einer starken Wahlbeteiligung von 55 Prozent wiedergewählt. Mit einem ambitionierten kommunalen Klimaschutzprogramm, das mehrfach ausgezeichnet wurde, weil die CO2-Emissionen in Tübingen stark abgesenkt wurden, verdiente sich Palmer ökologische Sporen. Doch auch wirtschaftspolitisch floriert die Universitätsstadt. Die Gewerbesteuereinnahmen Tübingens verdreifachten sich in seiner Amtszeit. Besonders stolz ist Palmer auch auf den Forschungs- und Wissenschaftsstandort Tübingen. Das Biotech-Unternehmen Curevac, das bei der Impfstoffentwicklung gegen das Corona-Virus mit vorne dabei ist, residiert in Tübingen und verfügt inzwischen über eine 300 Millionen Euro schwere Staatsbeteiligung.

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Palmer, der innerparteilich zu den Realos zählt, eckte in seiner Partei immer wieder an, weil er ihr mangelnden Realitätsbezug vorhielt. Immerhin zwei Jahre lang war Palmer gewähltes Mitglied des Grünen Parteirats, des höchsten Beschlussgremiums seiner Partei auf Bundesebene. Den Einzug hatte er 2010 geschafft – mitten in seiner ersten erfolgreichen Tübinger OB-Periode. Sein Bekenntnis, dass für eine „verantwortungsvolle Innenpolitik“ neben Prävention und Dialog „auch manchmal Repression angesagt ist“, verstörte 2011 nicht wenige Parteifunktionäre. Bereits zwei Jahre später musste Palmer mit dem schlechtesten Ergebnis aller 16 Bewerber wieder aus dem Parteirat ausscheiden. In den Jahren 2015 und 2016 fand er mit seiner pragmatischen Haltung auf dem Höhepunkt der Massenmigration breite öffentliche Resonanz, weil er mit seiner Position im Widerspruch zur „Offenen Grenzen-Mentalität“ des grünen Mainstreams stand. In seinem Bestseller „Wir können nicht allen helfen“ manifestierte sich ein durchaus humanistisches Weltbild, das aber auch dessen Grenzen sieht. Die ungeregelte Migration und deren negative Begleiterscheinungen – steigende Kriminalität, Entwicklung von Parallelgesellschaften, rechtsfreie Zonen – hat Palmer seit Jahren immer wieder pointiert thematisiert. Auch mit seinem Buch „Erst die Fakten, dann die Moral“ verdeutlichte er sein Credo, dass die Politik mit dem Betrachten der Wirklichkeit beginnen muss. Doch in seiner Partei isolierte er sich damit immer weiter. Forderungen nach seinem Parteiaustritt wurden laut. Die Grüne Jugend empfahl ihm den Wechsel zur AfD.

Als Palmer in diesem Frühjahr im SAT1-Frühstücksfernsehen eine Lockerung der Corona-Auflagen verlangte und dabei den umstrittenen Satz formulierte: „Ich sag’s Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“, brach ein unglaublicher Proteststurm los. Wer das längere Gespräch in Gänze gesehen hatte, konnte Palmer alles unterstellen, nur nicht, dass er das vorzeitige Frühableben von älteren Corona-Opfern guthieß. Dem Kontext des gesamten Gesprächs ist eher das Gegenteil zu entnehmen. Im Interview verdeutlichte er die massiven Folgen der Corona-Politik der reichen Länder auf die Entwicklungsländer, die laut UNO-Berechnungen dort bis zu 100 Millionen Kindern das Leben kosten könnten. Doch alle stürzten sich auf Palmer – nicht nur die politische Konkurrenz und nahezu alle Leitmedien, sondern vor allem die eigenen Parteifreunde. Die Bundesspitze der Grünen distanzierte sich von ihm, Parteiaustrittsanträge wurden gestellt und seine Tübinger Grünen wollten ihn nicht mehr bei einer erneuten OB-Kandidatur im Jahr 2022 unterstützen. Erst an diesem Montag hat der Vorstand der Tübinger Grünen diese Haltung ausdrücklich bestätigt.

Spott im Netz
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In einem Interview mit Tichys Einblick (Ausgabe 08/2020) fasste Palmer die Erfahrung dieser Zeit zusammen: „Es hat sich zwar eine Woche lang angefühlt wie der Weltuntergang. Da dachte ich auch, dass meine politische Zeit zu Ende ist.“ Doch bereits im TE-Gespräch berichtete er von den ermutigenden Rückmeldungen in Tübingen, wo er doch auf viele Menschen trifft, die ihn unterstützen. In den vergangenen Wochen hat Palmer eine Art mediales Comeback erlebt, das seine innerparteilichen Gegner zutiefst erschrecken muss. Denn Palmer, der die Alten angeblich lieber sterben lässt, profitiert von einer von ihm bereits im Frühjahr eingeforderten Strategie, die vulnerablen Personengruppen vor Corona wirksam zu schützen. In Tübingen dürfen Ältere bereits seit September zum Preis einer Busfahrkarte Einzeltaxis zum Einkauf oder Arztbesuch nutzen, die Differenz bezahlt die Stadtkasse. An über 65-Jährige wurden FFP2-Masken kostenfrei ausgegeben. Besucher und Personal von Alten- und Pflegeeinrichtungen wurden engmaschig getestet. Deshalb gibt es in Tübingen auch kaum Infektionsherde in diesen Einrichtungen, auch wenn sich der OB in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 10. Dezember noch fälschlich rühmte, es gäbe gar keine Ausbrüche in solchen Einrichtungen in seiner Stadt. Das stellte sich als Übertreibung heraus, wurde aber von Palmer und der Stadt sofort mit jeweils aktuellen Zahlen korrigiert. Weil der OB umstritten ist und sich auch Journalisten gern an ihm abarbeiten, rieben manche ihm daraufhin auch gleich diese „Lüge“ unter die Nase. Auch Palmers Kampf für eine effektivere Corona-App, in der nicht der Datenschutz vor einem wirksamen Schutz vor dem Virus rangiert, findet in der Grünen Partei und den linksliberalen Leitmedien wenig Resonanz. Dabei ist auch hier Palmer auf der richtigen Spur.

Der Mann hat Überzeugungen, die er mit guten Argumenten vertritt. Auch wenn er manchmal mit dem Kopf durch die Wand gehen will, kann man mit Palmer gut und intellektuell redlich streiten. Er ist ein Verantwortungsethiker im besten Sinne Max Webers, kein Gesinnungsethiker, der die Welt durch seine ideologische Brille sieht. Auch wenn er manchmal zur eitlen Rechthaberei neigt, beruhigt doch ein Satz, den er vorige Woche im politischen Fragebogen der ZEIT wie folgt beantwortete.
ZEIT. „Was hätten Sie von Ihrem Vater besser nicht gelernt?
Palmer. „Wie man mit dem Kopf durch die Wand läuft.“


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