Tichys Einblick
Offenbarungseide einer Laienschar

Wenn bei Anne Will aus Versehen Wahrheit durchsickert

Diese Politik präsentiert sich selbst unabsichtlich ehrlich: Sie entscheiden machtvoll, aber sie wissen nicht, was sie tun.

Screenprint ARD: Anne Will

Eher unbeabsichtigt eine bemerkenswerte Sendung: Sie legt das Versagen der Politik offen und die Missachtung der demokratischen Ordnung. Die wird neu erfunden – Kaffeekränzchen bei der Ministerpräsidentin statt Parlamentarismus.

An diesem Vorabend eines zweiten harten Lockdowns dürfen bei Anne Will den Willen der Bundeskanzlerin und ihrer Entourage verkünden: Per Fernsehbildschirm aus Köln zugeschaltet der Ministerpräsident von NRW, Armin Laschet (CDU); die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD) aus Schwerin. Vor Ort ist Gerhard Schröders Kulturmedienstaatsminister a.D., der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin; als Vertreter*in der assoziierten Medien darf Kristina Dunz von der Rheinischen Post die aktuelle Regierungspolitik verteidigen. Irgend eine Stimme der Opposition? Nicht vertreten. Deutschland kennt nur noch eine Meinung im Lockdown.

Ebenfalls mit dabei in der Runde ist kurzzeitig Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensive- und Notfallmedizin e.V. und Chefarzt einer internistischen Intensivstation – dem Epizentrum von Corona.

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Anne Will beginnt gewohnt ungenau, spricht davon, man wolle den Lockdown „diskutieren“. Aber eine ausgebildete Journalistin, die so etwas als „Diskussion“ bezeichnet, hat sich meilenweit vom Berufsethos entfernt. Noch mehr, wenn sie von einem „supergefährlichen Virus“ spricht und man sich fragt, wie bei Will die Steigerung lauten würde, müsste sie beispielsweise über eine Ebola-Pandemie reden lassen. Ungenau, unsauber, alarmistisch statt kritisch und distanziert – so geht Journalismus, nicht nur bei Anne Will.

Für Janssens ist es nicht fünf vor zwölf, wie es Markus Söder (CSU) formuliert hatte, für ihn ist es fünf nach zwölf, zu viele Infektionen, zu viele Tote und die Intensivstationen am Rande der Belastungsgrenze. „Wir haben eine ganz große Sorge in der Medizin, dass diese Grenze bald überschritten wird, dass die nicht mehr können einfach, und dann nützen uns keine Beatmungsgeräte, dann nutzen uns auch keine Intensivbetten – dann sind die Menschen nicht mehr vorhanden, die anderen Schwerkranken helfen.“ Was die in Berlin in den Intensivstationen leisten würden, wäre übermenschlich. Allerdings: „Es geht nicht nur um Covid-19-Patienten, die meisten haben eben nicht Covid-19 und denen müssen wir auch helfen. Ich glaube das war jetzt fünf nach zwölf.“

Das Versagen der Politik der Bundesregierung ist damit klar benannt: Tatsächlich zeigt ein Blick in die Statistik, dass in Berlin ein Viertel der Fälle in der Intensivstation „mit“ Corona zusätzlich oder ausschließlich gesundheitlich belastet sind. Gleichzeitig sinkt seit Sommer die Zahl der verfügbaren Behandlungsplätze. Angesichts einer drohenden Belastung wäre es richtiger gewesen, die Kapazitäten auszuweiten. Das ist nicht geschehen. Und das wird in dieser Runde nur am Rande angesprochen – wie auch anders? Die Eingeladenen bestimmen das Geschehen. Und siehe, manchmal rutscht die Wahrheit durch: Schwesig sagt, dass die Situation in ihrem Bundesland auf den Intensivstationen nicht so dramatisch sei und die Leute immer von ihr wissen wollten, was denn das ganze Theater soll. Also bitte, was soll das Theater? Anne Will hakt nicht nach.

„Kommen Sie bei ihrem eigenen Durcheinander eigentlich noch mit?“, fragt sie dafür pseudoangriffslustig den Ministerpräsidenten. Armin Laschet sagt „ja“, aber bevor er mehr sagen kann, hört man im Hintergrund schon das aufgeregte Nach-Kichern von Anne Will wohl als Nachwirkung ihrer allein in ihren Ohren so tollkühnen Frage.

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Ministerpräsidentin Manuela Schwesig soll beantworten, warum der Lockdown nicht gleich am Montag losginge, wo es doch so dringend sein soll. Sie spricht davon, dass man ja die Parlamente mehr mitnehmen wollte, nachdem man für die eigenständigen Entscheidungen der Ministerpräsidentenrunde so gescholten wurde. Aber halt! Den Montag will sie dann doch zuallererst nutzen, mit dem „Mecklenburg-Vorpommerngipfel, das sind die ganzen gesellschaftlichen Kräfte“; mit diesen Organisationen also will man die Details der Umsetzung besprechen. Am Dienstag dann soll das Parlament zustimmen. Das ist der zweite Hammer diesen Abends. Die Parlamente sollen „mitgenommen“ werden, es sind unwichtige Plauderrunden und ansonsten umgibt man sich mit Claqueuren aus der „Zivilgesellschaft“, „Räte”, die man nach Belieben ein- und ausladen kann, ganz wie die Regierung es will. Das Landesparlament von Mecklenburg-Vorpommern ist also ein Kaffee-Kränzchen der dortigen Regierung. Mehr nicht. Und so ist nicht nur bei Schwesig. In anderen Ländern ist es nicht anders.

Werden also Montag und Dienstag zu Großinfektionstagen, weil alle losstürmen und noch Weihnachtsgeschenke im Einzelhandel kaufen wollen, weil das nur bis Dienstag einschließlich geht? Schwesig sagt tatsächlich, die einen würden so sagen, sie anderen so: „Da gibt es ja sehr unterschiedliche Meinungen zu. Die einen befürchten genau das, was sie sagen, und die anderen sagen ….“ Was für ein unfassbar hilfloses Statement. Aber wer erst die Kontrolle durch Parlamente ausgeschaltet hat, braucht auch nicht mehr zu argumentieren. Dafür hat Armin Laschert die Lösung: Er bittet die Bürger, doch den Lockdown einfach geistig vorwegzunehmen und eben morgen und übermorgen nicht einkaufen zu gehen. Eine seltsame Plattitüde: Man erzeugt einen Engpass und wundert sich dann, dass der Engpass gestürmt wird. Das nennt man in Merkel-Deutschland Politik.

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Weil ihre vorgetragene Bankrotterklärung nicht reicht, zitiert Schwesig das Robert-Koch-Institut, dass die meisten Infektionen nach wie vor aus den Altenheimen kämen. Das kommt Schwesig in der Diskussion zu kurz. Auch das ein Indiz für eine vollkommen planlose Abfahrt in den Lockdown? Hätte es ausgereicht, gezielte Maßnahmen auf diese Altenheime zu konzentrieren, oder liegen diese hohe Zahlen schlicht daran, dass in Altenheimen viele Bewohner regelmäßig getestet werden? Es könnte ja anders gehen. So wird das erfolgreiche Modell der Infektionsabwehr aus Tübingen vorgestellt. Rentnereinkaufszeiten, Taxigutscheine, lückenlose Schnelltests von Altenheimpersonal – offensichtlich gibt es da Schnelltests, die es anderswo nicht gibt. Ist Tübingen unter Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) eventuell die Blaupause für Städte in ganz Deutschland?

Laschet hält, was Tübingen macht, für einen richtigen und guten Ansatz. „Lernen aus Tübingen“ will Schwesig.

Kristina Dunz von der Rheinischen Post findet ja ganz gut, was ihr Abonnent Laschet so sagt, aber sie hätte sich gewünscht, die Minsterpräsidenten hätten schon vor zwei Wochen auf die Kanzlerin gehört. Die vierte Gewalt in Merkel-Trance also, oder wie soll man so etwas nennen? Sie hat andernorts mitzuteilen, dass sie das Verbot von Silvesterfeuerwerk toll findet, wegen der Tiere, die sonst meinen, dass auf sie geschossen werde. Gut, wenn sich die eigene Vorurteilsstruktur so perfekt mit Regierungsentscheidungen deckt, die dummerweise nur anders begründet werden.

Julian Nida-Rümelin erinnert daran, dass der Weihnachtsbaum oft vor dem Fenster steht, das dann nicht aufgemacht werden könne zum Lüften. „Das ist eine gefährliche Situation.“ Und an Halloween seien in den USA die Zahlen hoch gegangen, weiß Nida Rümelin auch noch beizusteuern ebenso wie die Empfehlung, kein Mehrgenerationen-Weihnachten zu veranstalten, keine „Enkel auf dem Schoß des Großvaters.“ Kommt jetzt auch noch das Weihnachtsbaumverbot? Was anderes soll Weihnachten sein als ein Treffen der Familie? Allein zu Haus ist man auch den Rest des Lockdowns.

Warum in der Runde insgesamt so viel gegrinst wird, mag den Zuschauer verwundern, eine Erklärung dafür gibt es aber nicht. Eine Spur ernster wird es, wenn Schwesig an die Pflegeheimbewohner erinnert, die nach der Bescherung wieder in die Heime zurückgefahren werden, was eigentlich wegen des hohen Risikos gar nicht ginge.

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Aber wie viele Personen dürfen nun eigentlich an Weihnachten zusammenkommen? Die Formulierung, die alle Bürger betrifft, ist im Verordnungstext unklar. Laschet liest nochmal den entscheidenden Satz nach, entdeckt ein „also“ und ahnt dann das Potenzial für Missverständnisse. Dieser Ausschnitt der Szene hinterlässt den Eindruck: Sie entscheiden machtvoll, aber sie wissen nicht, was sie tun.

Die schockierendste Zahl des Abends hat wohl Julian Nida-Rümelin mitgebracht:
Die Hungerhilfe hätte gerade veröffentlicht, „sie erwarten 30 Millionen zusätzliche Todesfälle weltweit als Ergebnis der Shutdown-Maßnahmen.“ Nida-Rümelin setzt auf eine Corona-App, die optimiert werden muss nach südkoreanischem Modell samt GPS.

Das wäre zwar datenschutztechnisch bedenklicher aber weniger einschränkend als ein Lockdown nach dem anderen, so Nida-Rümelin. Es wäre also machbar, wenn man sich darum bemühen würde. Aber nun haben wir in Deutschland eben eine Digitalbeauftragte von der CSU, die sich gerne mit feministischen Themen schmückt, aber nicht mehr mit der komplett versaubeutelten App, die nach der glanzvollen Vorstellung schlicht versank.

So geht das eben in einem Land, in dem eine Regierung vor sich hin murkst. Was nicht klappt, verschwindet lautlos. Nur die Kranken und Eingesperrten bleiben. Gut dass die Parlamente ausgeschaltet wurden. Es könnte ja sonst einer merken.
So ist bei Anne Will eher aus Versehen ein großes Stück Wahrheit durchgesickert: Eine planlose Regierung, planlose Ministerpräsidenten, eine staatliche Ordnung, die umgangen wird, willfährige Medien, die nicht hinterfragen. Gut, dass auch Anne Will in Weihnachtspause geht. Danach wird ihre Sendung vermutlich noch glatter über die Bühne gehenwird, wie ja alles nur noch geglättet wird.

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