Wer öfter die Nachrichten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Deutschlands schaut und sich auf sie verlässt, muss zu einem ganz anderen Schluss kommen. Auf den öffentlich-rechtlichen Bildschirmen lautet die überwiegende, durch Bilder anschaulich unterlegte Erzählung zu Afrika so: Ein unverschuldet in Not geratener Kontinent will seine überschüssigen, darbenden Söhne und Töchter an das reiche Europa abgeben, und die reichen Europäer, alt, weiß und egoistisch, verschließen hartherzig ihre Tür.
In meinem Buch lege ich dar, dass dies – bei allen Schwierigkeiten in Afrika – grober Unfug ist. Die Afrikaner haben grundsätzlich alle Mittel in der Hand, um sich selbst zu helfen und auf afrikanischem Boden europäischen Wohlstand für alle zu entwickeln. Europa muss bereitstehen, um Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten – nicht mehr und nicht weniger. Erich Weede verweist auf das Beispiel der asiatischen Schwellenländer, die gewaltig aufgeholt haben: »Diese Entwicklung hat mehr für die Armen in der Welt getan als offene Grenzen für Zuwanderer. Die zeitweilig offenen Grenzen sind wenigen Millionen Menschen zugutegekommen, das Aufholwachstum hat eine Milliarde Menschen in einer Generation aus bitterer Armut entkommen lassen. Selbst wenn das Hauptziel westlicher Politik wäre, den Bedürftigen außerhalb des Westens zu helfen, wäre die Verteidigung unserer wirtschaftlichen Freiheit und des Freihandels viel wichtiger als die offenen Grenzen.«
Leider kann man nicht darauf hoffen, dass mit steigenden Einkommen in Afrika unmittelbar der Migrationsdruck sinkt. Eher ist das Gegenteil zu erwarten. Der Heidelberger Entwicklungsforscher Axel Dreher meint dazu: »Die Migrationsforschung lässt erwarten, dass mit steigenden Einkommen die Zahl der nach Europa Kommenden zunächst ansteigen wird. Es sind nämlich nicht die Ärmsten der Armen, die ihre Länder verlassen, sondern die, die sich das leisten können.« Wohlgemerkt, steigende Einkommen sind möglichst vielen dieser Länder dringend zu wünschen, sie werden nur keine unmittelbare Entlastung bei der Zuwanderung bringen. (…)
In Afrika ist weniger der Mangel an Kapital das Problem als sein Missbrauch und seine Verschwendung. Trotzdem bleibt die Idee richtig, Afrika bei seiner Entwicklung zu unterstützen. Es ist eben nur viel komplexer und herausfordernder als die reine Kapitalhilfe begrenzten Umfangs, die der Marshallplan seinerzeit darstellte. Wie Thomas Mayer schreibt, fehlt es in Afrika nicht so sehr an Kapital wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, sondern »vor allem an einer Gesellschaftsordnung, in der die Herrschaft des Rechts die Bürger vor staatlicher Willkür schützt«.
Abstrakter ausgedrückt, zielt die mit dem »Marshallplan für Afrika« unscharf angesprochene Hoffnung darauf ab, dass Afrikaner Auswanderungsabsichten zurückstellen, wenn sich die Perspektiven in ihrem Heimatland verbessern. Die empirische Evidenz geht aber dahin, dass die Neigung zur Auswanderung aus afrikanischen Ländern zunächst eher steigt, wenn das verfügbare Einkommen zunimmt, denn »höhere Einkommen machen die Reise nach Europa überhaupt erst erschwinglich«.
Der Entwicklungsökonom Rainer Thiele hält nicht den Kapitalmangel für das größte Investitionshemmnis in Afrika, sondern die niedrige oder fehlende Qualifikation der lokalen Arbeitskräfte. Die Möglichkeit, mit den Instrumenten der Entwicklungshilfe Migration zu verhindern, hält er generell für begrenzt: »Man darf sich keinen Illusionen hingeben. Entwicklungshilfe ist immer nur ein kleiner Teil dessen, was Migration beeinflussen kann. Lokale Verhältnisse, insbesondere Sicherheit, spielen eine große Rolle. Wenn wir die Flüchtlingskrise betrachten: Da hätte Entwicklungshilfe überhaupt nichts gebracht, die Auslöser waren einfach kriegerische Konflikte und despotische Regime wie im Fall Eritreas.«
Zum Schluss lasse ich zwei afrikanische Stimmen zu Wort kommen:
Die Ökonomin Axelle Kabou, geboren 1955 in Kamerun, arbeitete viele Jahre bei Entwicklungsprojekten in Westafrika und beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. 1991 veröffentlichte sie eine Streitschrift, in der sie auf die Selbstverantwortung Afrikas für seine Unterentwicklung hinwies: »Die Armut Afrikas ist paradox, denn dieser aufs Ganze gesehen unterbevölkerte Kontinent weist so viele Bodenschätze und Energiequellen auf, dass der natürliche Reichtum Afrikas ein ›geologischer Skandal‹ genannt wurde. Nehmen wir also der afrikanischen Jugend ihre Schuldgefühle gegenüber ›der Sache der Weißen‹; befreien wir sie aus den Fängen des enttäuschten Afrikanismus, der ihr lediglich als Aushängeschild für Identität dient. Es besteht gar kein Zweifel, dass die Auffassung von Kultur und Tradition, die sich in Afrika nach Erlangung der Unabhängigkeit durchgesetzt hat, ein Bremsklotz für die Entwicklung ist. Das Recht auf kulturelle Eigenart hat in Afrika lediglich Stillstand, Widerstand gegenüber der Moderne und intellektuelle Verkalkung legitimiert. Diesbezüglich harmonieren Politik und Gesellschaft bestens, auf dass der Status quo ja nicht angetastet werde. Jene afrikanischen Intellektuellen, die die geistige Unterentwicklung ihrer politischen Führungskräfte anprangern, müssen sich fragen, inwieweit sie selbst durch ihre Tendenz, afrikanische Traditionen heiligzusprechen und afrikanische Kulturen als gefährdete Denkmäler zu betrachten, zum Rückschritt ihres Kontinents beigetragen haben.«
Sarr lehnt quantifizierbare Kategorien wie den UNO-Index der menschlichen Entwicklung (HDI) ab, weil sie »nichts über das Leben selbst« aussagen, »also über die Qualität der gesellschaftlichen Beziehungen, ihre Intensität und Fruchtbarkeit, den Grad der sozialen Entfremdung, den Charakter des Beziehungslebens, des kulturellen und spirituellen Lebens usw.«
Sarr weist also den westlichen Entwicklungsbegriff zurück, aber er setzt keinen anderen an seine Stelle. Er gibt keine Antwort auf die Frage, warum die Millionen Wirtschaftsmigranten, die Afrika so gerne Richtung Europa verlassen wollen, offenbar durch die »Qualität und Fruchtbarkeit des Beziehungslebens« nicht in ihren Heimatländern gehalten werden. Einen Vorschlag, wie mehr Bildung, Wohlstand und Gesundheit, wie sie im HDI gemessen werden, mit »afrikanischer Kultur« versöhnt werden können, so wie Felwine Sarr sie versteht, bleibt er schuldig.
Stattdessen flüchtet er in Utopien: »Afrika muss gegenüber niemandem aufholen. Es hat nicht mehr auf jenen Pfaden zu laufen, die man ihm zuweist, sondern sollte zügig den Weg gehen, den es selbst gewählt hat. Sein Status als Erstgeborener der Menschheit verlangt von ihm, dass es sich aus der Konkurrenz zurückzieht, aus dem Wettstreit jenes Kindesalters, in dem Nationen sich verächtlich anschauen, um zu ermessen, wer am meisten Wohlstand angehäuft hat, am meisten technische Gadgets, die stärksten Gefühle und die ausgeprägteste Fähigkeit, die Güter und Freuden dieser Welt zu genießen, und sei es, dass dieses zügel- und verantwortungslose Vorgehen die gesellschaftlichen und ökologischen Voraussetzungen menschlichen Lebens aufs Spiel setzt.«
Der ehemalige Präsident Nigerias, Olusegun Obasanjo, sagte 2017: »Die Leute reden über die Armut in Afrika. Gott hat Afrika nicht arm erschaffen. Die Armut in Afrika ist nicht von Gott geschaffen, sie ist menschengemacht. Wir haben Afrika durch unsere Politik arm gemacht und dadurch, wie wir sie durchgeführt haben, und dadurch, wie wir mit dem Markt und der Verarbeitung und Lagerung von Lebensmitteln umgehen.«
Den klaren Einsichten aus politischer, philosophischer und entwicklungsökonomischer Perspektive stehen die Wünsche der Afrikaner entgegen. Sie haben es offenbar mehrheitlich aufgegeben oder auch nie vorgehabt, in ihren Ländern für bessere Verhältnisse zu sorgen, stattdessen wollen sie weg. Nach einer Untersuchung von Pew Research würde rund die Hälfte der Einwohner in Subsahara-Afrika gerne auswandern. Besonders groß sind die Auswanderungswünsche in den relativ erfolgreicheren Ländern: 46 % der Senegalesen, 51 % der Südafrikaner, 54 % der Kenianer, 74 % der Nigerianer und 75 % der Ghanaer würden gerne auswandern, wenn sie die finanziellen Mittel und die Gelegenheit dazu hätten. Das scheint widersinnig und stellt dem Aufbauwillen der Afrikaner kein gutes Zeugnis aus.
Afrika hat auf dem eigenen Kontinent alle materiellen Ressourcen und Potenziale, um sich zu entwickeln. Gerade weil Afrika in vielerlei Hinsicht auch gut funktioniert, kann und sollte man es getrost sich selbst und den eigenen Heilungskräften überlassen und muss es nicht ständig durch allerlei »Rettungsmaßnahmen« – wozu auch die Masseneinwanderung nach Europa gehört – bevormunden. Hier fehlt es offenbar auf europäischer Seite sowohl an Entschlusskraft als auch an klarer Ansage.
Leicht gekürzter und um Fußnoten zu Literaturnachweisen bereinigter Auszug aus:
Thilo Sarrazin, Der Staat an seinen Grenzen. Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart. LangenMüller, 480 Seiten, 26,- €.