Tichys Einblick
Durch Globalisierung zum Obrigkeitsstaat

Corona-Impfung: staatliche Pflicht oder Zwang durch den „Markt“?

Verpflichtende Impfungen sind keine historische Neuigkeit. Der Staat kann sie aber auch mittelbar durchsetzen - erst recht, wenn ihm eine neue Obrigkeit von Pflichtenlehrern zur Seite steht. Von Alexander Heumann.

Aufbau eines Impfzentrum für die Coronaimpfungen, in einer Halle der Messe Essen, durch die Stadt, die Feuerwehr und verschiedene Hilfsorganisationen

imago images / Jochen Tack

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Carl Schmitt, 1922). Die heute – der „Volksgesundheit” zuliebe – fast weltweit angeordneten Lockdowns des gesellschaftlichen Lebens sind ein Novum: Maskenzwang, Aufschiebung sonstiger OPs, katastrophale Steigerung von Arbeitslosigkeit und Mittelstand-Insolvenzen – während Digital- und Pharmakonzerne profitieren. Gleichzeitig droht Inflation, wegen der Billionen-Hilfe, die transnational verteilt wird, vor allem an ´Bigplayer´ wie etwa Lufthansa. Viele rufen jetzt nach flächendeckenden Impfungen.

Kommt die Corona-Impfpflicht?

Der Spiegel titelt am 5.12.2020: „Moskau und der Corona-Impfstoff: Russisch Roulette“. Andererseits für Deutschland: „Experte hält Impfpflicht für denkbar“. Gemeint sind natürlich nicht gewaltsame Zwangsinjektionen, sondern staatliche Sanktionen bei Impfverweigerung. Insbesondere Bußgelder, unter Umständen hohe. Oder Ausschluss von öffentlichen Einrichtungen. In Australien wurden Sozialleistungen wie Kindergeld ans Impfen geknüpft. Prof. Augsberg vom Ethikrat, auf den sich der Spiegel bezieht, vermutet, dass in Deutschland nur einige Berufsgruppen von der Impfpflicht betroffen sein werden: „Für die Gesamtgesellschaft werde es mit Sicherheit beim Grundsatz der Freiwilligkeit bleiben.“ Anlässlich der Debatte um das Infektionsschutzgesetz versprach Bundesgesundheitsminister Jens Span, mit ihm werde es keine Impflicht geben.

Mittelbare Impfpflichten – die Stunde des Staates

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Dagegen steht: Schon jetzt bestehen mittelbare Impfzwänge – in der Form der  Bedingung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, zum Beispiel im Arbeitsrecht. Seit November ermächtigt das Infektionsschutz-Gesetz, Reisende aus „Risikogebieten“ zur Corona-Impfung zu zwingen – falls sie zurück nach Hause wollen. Impfzentren werden errichtet. Gesundheitsminister Spahn will den „Immunitätsausweis“. Er weiß, dass mittelbare Impfpflichten sich häufen werden; dann ist das praktisch. Paradox: Ausgerechnet durch wissenschaftlichen Fortschritt – und Globalisierung – droht die Rückkehr des Obrigkeitsstaats. Und in Corona-Zeiten lässt die Justiz der Obrigkeit fast freie Hand. Gerade segnete das Bundesverfassungsgericht im Eilwege das Verbot einer großen Bremer Anti-Corona-Protestkundgebung ab.
Die Stunde der Pflichtenlehrer und Marktfundamentalisten

Jetzt schlägt aber auch die Stunde der Pflicht- und Markt-Theoretiker. Es gibt auch eine „Obrigkeit“ ohne Staat: Der Journalist Nikolaus Blome („Impfpflicht! Was denn sonst?“) möchte in seiner Spiegel-Kolumne (7.12.20) „ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all‘ jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“ Es ginge nicht an, dass der Staat das Corona-Impfen „im Graufeld moralisch-philosophischer Nuancen liegen lässt.“ Da seien „doch schon umstrittenere Sachen durchgepaukt“ worden.

Lacht da wer? Der Standpunkt erinnert an den eingangs erwähnten Carl Schmitt, der meinte, dass notfalls der „Führer“ Recht und Pflicht durchsetzt. Nun sollen sich Jens Spahn et al. nicht so zieren. Ohnehin werde „der Markt“ die Impffrage richten: „Kneipenbesitzer, Kinobetreiber oder Kreuzfahrtveranstalter werden (…) als Hausherren Impf- oder Immunitätsnachweise an ihren Pforten verlangen dürfen. Wenn aber erst klar ist, dass nicht reist, nicht trinkt und nicht tanzt, wer nicht vorher impft – dann entsteht ein Markt der raren Lustbarkeiten. Das treibt den Preis fürs Nicht-Impfen nach oben …“.

Pflichtimpfungen

Manigfaltige Pflichtimpfungen für Kinder sind in einigen europäischen Ländern Norm. In Frankreich muss jedes Kind in den ersten zwei Lebensjahren gegen elf Krankheiten geimpft werden. Ähnlich in Italien. Manche Mediziner schlagen über soviel Impf-Prophylaxe die Hände über dem Kopf zusammen, weil sie die Entwicklung eines robusten Immunsystems runieren kann. In der Nachkriegszeit waren auch in der DDR diverse Kinderimpfungen vorgeschrieben. In Deutschland hat die Pocken-Impfpflicht seit dem Impfgesetz von 1874 Tradition; sie wurde erst 1983 aufgehoben.

Masern-Schutzgesetz

2001 wurden Impfpflichten wieder eingeführt. Für den Fall, dass eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist, hat der Gesetzgeber eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen: das Infektionsschutzgesetz, allerdings begrenzt auf „bedrohte Teile der Bevölkerung“. Seither können der Bundesgesundheitsminister oder Landesregierungen davon Gebrauch machen.

Erst durch eine aktuelle Gesetzesreform wurde die allgemeine Kinderschutzimpfung gegen Masern Pflicht. Seit März 2020 darf eine Betreuung von Kindern in Kitas und Schulen nur noch bei Nachweis einer Impfung oder Immunität gegen Masern erfolgen (Ausnahme: Impf-Kontraindikation). Wenn Eltern sich bei gemeinsamer elterlicher Sorge nicht darüber einigen können, soll das Familiengericht die Entscheidung auf den Elternteil übertragen, der sich an die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts – bzw. jetzt: an die Impfpflicht – hält (BGH-Beschluß vom 3.5.2017, XII ZB 157/16).

Kein Eilrechtsschutz in Karlsruhe

Gegen das sogenannte Masernschutzgesetz riefen zwei Familien mit jeweils einjährigen Kindern das Bundesverfassungsgericht an. Ihre Eilanträge wurden zurückgewiesen: Einstweilen müsse das Interesse der Eltern, ihre Kinder auch ohne Impfnachweis in Kitas betreuen zu lassen, zurücktreten „gegenüber dem Interesse an der Abwehr infektionsbedingter Risiken für Leib oder Leben einer Vielzahl von Personen.“ Zumal es Kinder gäbe, die nicht geimpft werden dürfen. Ziel des Gesetzes sei nämlich „der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit“. Karlsruhe hat bereits in früheren Entscheidungen die prinzipielle Pflicht des Staates bejaht, seine Bürger vor Gefahren für Leib und Leben zu schützen. Laut Robert-Koch-Institut können Masern zu Mittelohr-, Hirn- und Lungenentzündungen führen. 2019 hätte es über 500 Masernfälle in Deutschland gegeben, einige mit tödlichem Verlauf. Die Masern-Impfquote ist unter 75% gerutscht, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt 95%.

Neues „Supergrundrecht“ auf Sicherheit?

Im Zusammenhang mit Corona könnte man allerdings fragen, warum das Grundrecht der Bürger auf Sicherheit nicht schon am Jahresanfang aktiviert wurde. Hätte man deutsche Grenzen und Flughäfen angesichts des von China über Norditalien heranrückenden Virus und der Horrorbilder aus überlasteten Intensivstationen nicht viel früher als im März 2020 schließen müssen? Ebenso pflichtvergessen erscheint, dass man nicht nur Corona zunächst verharmloste und unbekümmert über deutsche Grenzen ließ, sondern sich auch bei der Willkommenskultur für Asylzuwanderer eines Grundrechts auf Sicherheit bis heute nicht erinnert.

Ist eine Impfpflicht überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar?

Laut Artikel 2 des Grundgesetzes hat „jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Aber: „In diese Rechte darf (…) auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Bis zu einer Grenze: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“ (Artikel 19).

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Die Grundsatzfrage, ob Impfpflichten prinzipiell mit dem Grundgesetz vereinbar sind, wurde schon 1959 vom Bundesverwaltungsgericht bejaht. Tenor: Die durch das Impfgesetz von 1874 angeordnete Impfpflicht ist grundgesetzkonform. Damals ging es allerdings um die Pocken. Die Richter sahen das so:

Erstens: „Der Wesensgehalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit wird nicht durch einen Eingriff angetastet, dessen Zielsetzung gerade die Erhaltung der Unversehrtheit ist. Schon im Parlamentarischen Rat war man sich bei der Schaffung des Grundrechts darüber einig, daß der Impfzwang ihm nicht widerspricht.“

Zweitens: Dem Gericht sind „bei der Prüfung der Frage, ob das Impfgesetz ein erforderliches Mittel zur Bekämpfung der Pockenseuche ist, enge Grenzen gezogen. (…) Erst die eindeutige Unangemessenheit der gesetzlichen Maßnahme im Verhältnis zur tatsächlichen Situation, deren sie Herr werden soll, führt (…) zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit.“ Damit war der Pocken-Fall schon entschieden.

Schließlich hatte die Durchimpfung der Bevölkerung die „Pockenepidemien in vielen europäischen Ländern zum Erlöschen gebracht.“ Zudem bestünden „in anderen Teilen der Welt Seuchenherde fort“ und „das Anwachsen des Reiseverkehrs und die Schnelligkeit der Verkehrsmittel“ erschwerten eine Überwachung pockenverdächtiger Reisender, „weil Reisen oft kürzer dauern als die Inkubationszeit von 13 bis 17 Tagen.“

Das Urteil entsprach herrschender Meinung. Die Vereinbarkeit mit dem elterlichen Sorgerecht war nicht zu prüfen gewesen, weil es gerade Eltern waren, die eine Pockenimpfung ihres Kindes, das von Behörden davon ausgeschlossen war, verlangt hatten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf informelle Selbstbestimmung wurden erst später von der Rechtsprechung entwickelt.

Dennoch ist gegen den Urteilstenor nichts einzuwenden – solange es um Krankheiten geht, deren Gefährlichkeit annähernd den „Seuchen“ entspricht, die bisherige Gesetzgeber im Sinn hatten. Corona wurde zwar vom Bundestag gegen interdisziplinäre Kritik als „epidemische Lage nationaler Tragweite“ eingestuft. Aber das Ausmaß der Gefährlichkeit für Einzelne und die Allgemeinheit ist unter Virologen, Medizinern und Epidemiologen höchst umstritten.

„Impfen“ ist nicht gleich „Impfen“

Zudem: „Impfen“ ist nicht gleich „Impfen“. Traditionellerweise versteht man darunter, das Immunsystem mit Minidosen zur Abwehrreaktion zu provozieren – ähnlich wie bei der Desensibilisierung gegen Allergene. Im Zusammenhang mit Corona stehen aber neue, gentechnisch getriebene Methoden im Raum, bei denen Erfahrungswerte nicht vorliegen können. Staatliche Genehmigungsverfahren bedeuten nicht, dass die Bevölkerung über Betriebsgeheimnisse der Impfunternehmen aufgeklärt wird. Es müsste abgeklärt werden, ob es sich noch um „Impfen“ im Rechtssinne handelt.

Schließlich: Darf man Menschen impfen, die – möglicherweise unerkannt, wie bei Corona häufig – bereits mit der nämlichen Krankheit infiziert und vermutlich immun sind? Andernfalls müsste mit der Impfpflicht zugleich die Testpflicht für alle kommen.


Alexander Heumann ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht.

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