Tichys Einblick
Erinnerung an die erste gesamtdeutsche Wahl

Helmut Schmidt – und Lafontaine, der mit dem Osten immer nur spielte

Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl vor 30 Jahren erlitt die SPD eine krachende Niederlage. Eine Gruppe ostdeutscher Sozialdemokraten sah das voraus, und verfiel auf einen exotischen Plan: sie versuchte, Helmut Schmidt zur Kanzlerkandidatur zu überreden. Der lehnte ab – sprach aber trotzdem intensiv mit den Ost-Genossen. Eine Erinnerung

picture-alliance / dpa | Heinz Wieseler

Am 26. Juni 1990 saß ich zusammen mit den Sozialdemokraten Rolf Schwanitz und Rüdiger Fikenscher im Auto nach Hamburg. Wir waren damals frische SPD-Mitglieder, zwangsläufig: gerade erst in die Ende 1989 neu gegründete SPD eingetreten, am 18. März 1990 in die letzte DDR-Volkskammer gewählt, die erste, die frei an der Wahlurne bestimmt wurde. Wir – allesamt Frischlinge – waren unterwegs zu einer Art Putsch gegen den eigenen Parteichef und Spitzenkandidaten der kommenden Wahl Oskar Lafontaine. Wir fuhren zu dem Hanseaten Schmidt nach Hamburg, um ihn davon zu überzeugen, als Kanzlerkandidat der SPD ins Rennen zu gehen.

Vor kurzem jährte sich die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 zum dreißigsten Mal – deshalb der Rückblick. Mit Lafontaine an der Spitze gab es damals aus meiner Sicht von vornherein keine Chance auf eine SPD-geführte Bundesregierung. Lafontaines Unfähigkeit, den Wunsch der Ostdeutschen auf Sicherheit in der Einheit unter freiheitlichen Bedingungen anzunehmen, hatte bereits im Winter 1989/90 den Ausschlag gegen mögliche große Wahlerfolge der neuen DDR-Sozialdemokratie im Volkskammerwahlkampf gegeben. Seine Politik in Bundestag und Bundesrat im Verlauf des gesamten Einheitsjahres 1990 verfestigte den Trend gegen die gesamtdeutsche SPD bis zum Wahltag im Dezember. Der Bundestagsfraktion schlug er im Wissen um die Fraktionsmehrheit pro Einheit, die Zustimmung zum Vertrag über die „Wirtschafts- und Sozialunion“, über den Einigungsvertrag und den Wahlvertrag vor, im Bundesrat warb er dagegen für deren Ablehnung. Erst lehnte er die deutsche Einheit als zu teuer ab, dann – heute weitgehend vergessen – forderte er, sie müsse schneller kommen, schon im Sommer 1990. Sein Kalkül dabei: die finanziellen Belastungen und sozialen Umbrüche sollten bis Ende 1990 auf die Stimmung durchschlagen und Kohls Wahlchancen schmälern.

Der Kollaps des Ostblocks, das glückliche Jahrhundertereignis: das war ihm nur politische Manövriermasse. Mit dem Deutschland und dem Europa östlich der Elbe wusste er auch mental nichts anzufangen. Daniel Friedrich Sturm beschreibt die schizophrene Situation der SPD anschaulich in „Uneinig in die Einheit“ (Herausgeber „Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung“, Dietz Verlag 2006).

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Was war also aus Sicht eines euphorischen Ostsozialdemokraten wie mir zu tun? Mit Lafontaine würden wir gegen den Baum fahren. Todsicher sozusagen. Das Ziel musste aber heißen: mit maximalen personellen und thematischen Anstrengungen ein SPD-Ergebnis zu erhalten, welches am besten (aus SPD-Sicht) einen SPD-Kanzler ermöglichen würde. Idealerweise in einer SPD/FDP-Koalition, aber auch in einem SPD/CDU/CSU-Bündnis. Selbst eine Juniorpartnerschaft unter Führung eines Unionskanzlers wäre aus meiner Sicht besser für die Gestaltung der Deutschen Einheit gewesen. Damals standen große Koalitionen nicht in Verruf wie heute nach gefühlten einhundert Jahren Merkel’scher Moralkanzlerschaft. Damals gab es mit Brandt, Schmidt, Kohl und Genscher noch große Charaktere.

Ich favorisierte Helmut Schmidt, der 1990 mit knapp 72 Jahren damals noch im besten Adenauer-Alter als Bundeskanzler stand, der 1949 gerade 73 Jahre zählte, als er in seinen ersten Kanzlerwahlkampf ging. Schmidts und Lafontaines Ansehen unter Ostdeutschen war das von Mond und Mops. Der Mops war eindeutig Lafontaine.

Ganz nebenbei: Helmut Schmidt war damals auch jünger und gesünder als der designierte US-Präsident Joe Biden heute.

Ich war überzeugt davon: nur mit Helmut Schmidt als Kanzlerkandidat wäre es der SPD in der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl möglich gewesen, ein Ergebnis nahe an 40 Prozent oder darüber zu erreichen. Für Deutschland wären die kommenden Jahre der Revitalisierung der ostdeutschen Wirtschaft zum Wohle aller Deutschen nach meiner Überzeugung mit einer SPD als Mit-Regierungspartei besser zu handhaben gewesen. Eingedenk dieser Überlegungen schrieb ich am 25. Mai 1990 an den Altkanzler:

Schmidt antwortete am 20. Juni 1990:

So, es konnte losgehen. In der Volkskammerfraktion suchte ich Mitstreiter: Rolf Schwanitz aus Plauen und Rüdiger Fikentscher aus Halle. Der Termin war schnell gemacht.

Schmidt-typisch ging es gleich zur Sache. Das Gespräch fand in seinem Herausgeber-Büro der Zeit statt. In Vorbereitung unseres Treffens sprach er mit Willy Brandt über unser Anliegen. Brandt sagte ihm, auch er würde gebeten, die SPD im glücklichen Jahr der Deutschen nach oben zu ziehen. In Anbetracht der Situation, dass er fünf Jahre älter als Helmut sei und fünf Ärzte beschäftigt – wogegen „du, Helmut auch drei Ärzte in Beschlag nimmst“ – riet Brandt ab. Darüber hinaus nannte Helmut Schmidt noch einen gewichtigen Grund, den eigentlich entscheidenden: „Außerdem möchte ich nach sechsundvierzig Jahren Mitgliedschaft die SPD nicht spalten.“ Er wusste, dass er 1990 bei den Sozialdemokraten in Ostdeutschland mehrheitsfähig gewesen wäre – aber nicht in der Gesamtpartei. Deshalb bat uns Helmut Schmidt um Verständnis dafür, dass er unserem Wunsch nicht nachkommen würde.

Im weiteren Gesprächsverlauf löcherte er uns zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation in der DDR. Smalltalk war das nicht. Dafür hätte uns der Hamburger Sozialdemokrat auch nicht eingeladen. Es war ein Gespräch mit einem großen Politiker, der uns auf Augenhöhe begegnete und uns keineswegs wie Neulinge in der Schulbank abblitzen ließ. Andere mögen andere Erfahrungen mit ihm gemacht haben. Ich für meinen Teil hatte einen souveränen, fairen und in der Sache festen Helmut Schmidt kennengelernt.

Den nächsten völlig unerwarteten Kontakt mit Helmut Schmidt bekam ich auf meine Auswertung der Bundestagswahl 1990, die ich in der Fraktionsaussprache nach der Wahl am 4. Dezember 1990 in meinen Kernpunkten vorstellte. Freunde hatte ich mir damit gerade bei der Parlamentarischen Linken nicht gemacht. Bei den Seeheimern, Brandt und Schmidt schon eher.

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Willy Brandt gab mir am Rande der Fraktionssitzung in seiner unnachahmlichen Nachdenklichkeit lächelnd zu verstehen, dass er vor allem meinen Ärger über Lafontaine teilte. So ähnlich habe er in Partei- und Fraktionsvorstand auch argumentiert.

Schmidts Reaktion kam als Weihnachtsgeschenk aus dem Fax. Er hatte meine Auswertung „Die SPD und die Zwangsläufigkeit ihrer Wahlniederlage “ erst bei Durchsicht der Fraktionspost entdeckt.

Dass Schmidt meine Auswertung bekommen würde, das war mir damals nicht klar gewesen. Ich wusste nicht, dass die Fraktionspoststelle sämtliche fraktionsoffene Post nicht nur an die SPD-Abgeordneten sondern auch an den Bundesvorstand, die Landesvorstände, die SPD-Fraktionen in den Bundesländern sowie an den Alt-Bundeskanzler Schmidt weitergab. Sei es wie es sei. Ich bekam Post aus dem bekanntesten Reihenhaus Deutschlands.

Helmut Schmidt und die SPD – das war 1990 eine schräge Sache. Schmidt war für weite Teile der SPD eine Unperson. Viele nahmen ihm vor allem übel, dass er mit der „Doppelten Nulllösung“ in der Nachrüstungsdebatte richtig gelegen hatte. Selbst Gorbatschow bescheinigte ihm das. Es sollte noch Jahre dauern, bis Schmidt das Ansehen in der SPD bekam, was er ungebrochen in der Bevölkerung immer besaß.
Um genau zu sein: die großen Lobeshymnen auf ihn stimmten die meisten führenden Sozialdemokraten erst an, als er 2015 starb. Als stummes Denkmal ist er ihnen am liebsten.

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