Tichys Einblick
Den geistigen Lockdown überwinden

Eine Frage des gesunden Menschenverstands

Die Schriftstellerin Eva Rex plädiert für eine konservative Lesart der jüdischen Denkerin Hannah Arendt. Von Till Kinzel

Wer sich an den allzu oft einseitigen und moralisierenden „Debatten“ im besten Deutschland, das es je gab, stört, braucht ein dickes Fell. Denn es gibt wenig Anzeichen dafür, dass sich die Debattenkultur hierzulande verbessert. Im Gegenteil, immer öfter, so scheint es, bleibt der gesunde Menschenverstand auf der Strecke, wenn aus den nichtigsten Gründen Menschen diffamiert und angegiftet werden, statt Argumente mit größtmöglicher Sachlichkeit zu diskutieren. Störend wirkt aber auch die Debatte in den öffentlichen-rechtlichen Medien, was sich insbesondere in der einseitigen Zusammensetzung von Talkshows anschaulich zeigt.

Die Schriftstellerin Eva Rex versucht nun in ihrem Essay „Rettet den gesunden Menschenverstand“, durch eine Aktualisierung von Einsichten Hannah Arendts über den Totalitarismus unsere eigene Lage besser zu begreifen. Aber wie soll das gehen, wird man sogleich fragen? Arendt hatte seinerzeit in ihrem Klassiker über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955) drei Voraussetzungen und Bestandteile des Totalitarismus ausgemacht: 1. einen Schwund der Wahrnehmungsfähigkeit, 2. einen Schwund der der Selbsterhaltungsinstinkte und 3. Geschichtsdeterminismus.

Diese Diagnosen hält Rex für aktuell oder zumindest aktualisierbar, wobei freilich andere Aspekte des Totalitarismus ausgeblendet werden müssen, die Arendt für wesentlich hielt – so die systematische Anwendung von Gewalt. Der Totalitarismus, den Arendt vor vielen Jahrzehnten analysierte, hatte die Gestalt des Nationalsozialismus und des Stalinismus mit den bekannten brutalen Folgen – und die sind lange vorbei.

Klassiker neu gelesen
Ohne Massenbewegung ist totale Herrschaft nicht möglich
Allerdings leben wir weiterhin in einer Massengesellschaft, in der die Orientierungslosigkeit zunimmt. Da brauchte es in besonderem Maße jene Urteilskraft, die Arendt als Lehre aus der Geschichte der modernen Ideologien so wichtig war. Auch gebe es heute geradezu eine moderne Hörigkeit gegenüber der Wissenschaft („follow the science!“) und eine weitreichende Infantilisierung, so dass es gestattet sein müsse zu fragen, ob es einen „freundlichen“ Totalitarismus geben könnte, einen paradox anmutenden „Totalitarismus ohne Knechtschaft“, in dem die Menschen sich freiwillig entmündigen lassen.

Mag dies auf den ersten Blick fragwürdig scheinen, so weist Rex doch auf Phänomene unserer Zeit, die zum Nachdenken einladen. Denn was ist mit den Bestrebungen zu einer genetischen Optimierung des Menschen? Freuen wir uns nicht darüber, dass auf diesem Wege Krankheiten eliminiert werden könnten? Wollen wir nicht alle eine fehlerlose Welt, ohne Verbrechen, ohne Chaos, ohne Klimakatastrophen? Aber wäre das nicht zugleich auch eine Welt ohne Freiheit? Zur Freiheit gehörten auch Fehler, während Fehlerfreiheit nur in geschlossenen, totalitären Systemen möglich sei, so Rex. Das ist allerdings, streng genommen, eine Illusion: Ein totalitäres System kann allerhöchstens versuchen, die Illusion der Fehlerfreiheit zu schaffen – fehlerfrei ist solch ein System dagegen nie.

Politisch haben sich die Zeiten seit Arendts Tod im Jahre 1975 sehr geändert. Nach Rex ist daher nicht mehr der klassische politische „Führer“ die Gefahr, heiße er nun Trump oder Orban. Bedrohlicher sei heute vielmehr seine Entpersonalisierung, weil das politische Personal selbst austauschbar geworden sei. Rex sieht heute die Gefahr einer Neuformierung des Menschen, ja einer regelrechten „Transformation der menschlichen Natur“. Dazu bedürfe es aber der „Vernebelung der Gehirne“, damit die Menschen die angeblichen wissenschaftlichen Beweise akzeptieren, die für diese Ummodelung ins Feld geführt werden und letztlich zu einem Transhumanismus führen, der identisch ist mit der Entmenschlichung des Menschen.

Im zweiten Teil ihre lesenswerten Essays knüpft Rex an die aktuelle Corona-Krise an. Sie sieht auch hier einen eklatanten Verlust gesunden Menschenverstands am Werk, zugleich aber auch die Gefahr, dass die Pandemie eine dystopische Entwicklung mit sich bringen könne. Eine immer umfassendere Digitalisierung des Daseins könnte mit einer Form von Überwachung einhergehen, wie sie gleichnishaft in dem Science-Fiction-Thriller „Minority Report“ dargestellt wurde: Unter dem Primat der Verhütung von Verbrechen wurde dort die individuelle Freiheit faktisch eliminiert. Der Preis der erzieherischen und politischen Überbehütung, die unserer Gesellschaft prägt, ist hoch: Erfahrungsverlust und Wirklichkeitsverweigerung. Und diese wiederum gipfelt nun in der „verordneten Isolation des Menschen“, wodurch die Vereinzelung auf die Spitze getrieben wird, mit der Folge, dass der Schutz des Lebens in Würdelosigkeit umschlagen könne.

Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft
Ohne Zugehörigkeit kann es keine Freiheit geben
Rex stört sich an der Doppelmoral, die hinter der emphatischen Betonung des Lebensschutzes in der Corona-Krise steht, weil solcher Lebensschutz zuvor gerade nicht im Vordergrund gestanden habe. Auch widerspreche die absolute Priorität des Lebenserhalts der europäischen Geistestradition, denn sie sei Ausdruck eines weltanschaulichen Materialismus, „der dem Leid und dem Tod die spirituelle Dimension raubt“. Theologisch bedeutet dies nichts Geringeres als die Entthronung der Seele und ihrer Unsterblichkeit. Ob sich alles, was Rex zu Corona und den Maßnahmen dagegen zu sagen hat – so polemisiert sie heftig gegen das Maskentragen als eine Form der Entpersönlichung – selbst in der Wirklichkeit bewährt, wird man wohl noch abwarten müssen.

Aber auch da, wo man manches anders sehen mag, schult ihr Essay Denken und Wahrnehmung. Denn Rex hat recht, wenn sie uns dazu auffordert, über das dem heutigen Zeitgeist zugrunde liegende Menschenbild zu reflektieren: „Ist der Mensch ein zur Freiheit und zum Guten befähigtes Wesen? Begabt mit freiem Willen? Zur Liebe und zum Geist strebend? Oder ist er eine Kreatur, vor der alle anderen geschützt werden müssen? Ein Irrläufer der Evolution, den man zum Gut-Sein zwingen muss?“ Das sind in der Tat wichtige, ja entscheidende Fragen.

Eva Rex bietet mit ihrem leidenschaftlich vorgetragenen Essay viele Denkanstöße, den geistigen Lockdown zu überwinden, in dem sich weite Teile des Landes derzeit befinden. Hannah Arendt einmal gegen den Strich der landläufigen politischen Erwartungen zu lesen, um die ideologische Durchdringung aller Lebensbereiche abzuwehren – das ist in der Tat eine genuin konservative Tat, die viel zur Rettung des gesunden Menschenverstands und zur Behebung des Sinnverlusts beitragen kann.

Dieser Beitrag von Till Kinzel erschien zuerst in der Printausgabe von Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

Eva Rex, Rettet den gesunden Menschenverstand. Hannah Arendt im Mehrheitsdiskurs. Edition EXIL im Buchhaus Loschwitz, 120 Seiten, 17,- €.


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