Es ist ein Kreuz mit diesem Nachbarn, der sich einfach nicht an die Regeln des internationalen Verkehrs halten will, gleich ob in Syrien, Libyen, auf Zypern, in der Ägäis oder im östlichen Mittelmeer. Nun hat die Türkei ihr Gasforschungsschiff »Oruc Reis« pünktlich zum kommenden EU-Gipfel wieder in den Hafen zurückbeordert. Aber neue türkische Manöver in der Ägäis stehen an, und das ausgerechnet zwischen Rhodos und der griechischen Insel Kastellorizo, die den Türken ohnehin ein Dorn im Auge ist, weil sie eine Ausweitung der türkischen Wirtschaftszone dauerhaft blockiert. Das Manöver soll passenderweise am 20. Dezember stattfinden, also wenn der EU-Gipfel für die Türken mit Ach und Krach, aber sicher ohne den Beschluss von Sanktionen überstanden ist. Gerade erst hat die Türkei zusammen mit dem »freundschaftlich verbundenen, alliierten Pakistan« ein Manöver im östlichen Mittelmeer durchgeführt. Die Kooperation wird als Schaulaufen im Wettrennen um Bodenschätze im östlichen Mittelmeer gesehen.
Die EU-Mitglieder sind sich einig, dass nichts besser geworden ist im Verhältnis zur Türkei während der vergangenen Monate, im Gegenteil – doch man will keinen Bruch riskieren. Griechenland und die Niederlande haben zwar ein Waffenembargo ins Gespräch gebracht. Doch die deutsche Bundesregierung hält sogar an der Auslieferung von sechs neuen U-Booten durch Thyssen-Krupp fest – mitsamt staatlichen Hermes-Garantien.
Angelos Syrigos, Professor für internationales Recht und Abgeordneter für die Regierungspartei Nea Dimokratia, glaubt an EU-Entscheidungen zur Türkei erst im März 2021, nachdem man sich mit der neuen US-Regierung abgesprochen habe. Die derzeitige Untätigkeit umschreibt er als Scheitern Merkels, die das mächtigste EU-Mitglied führt und doch nicht zu einer eindeutigen Haltung gegenüber den Provokationen der Türkei findet. Vielleicht hätte es doch einen besseren Kommissionspräsidenten geben können, zumindest als öffentliches Gegengewicht zum Appeasement aus dem Kanzleramt.
Brisant wird der Streit nicht durch das Schielen der Türkei auf Bodenschätze im Mittelmeer, sondern durch ihre Rolle im Konzert der souveränen Staaten. Als solcher ist sie dazu aufgerufen, zivilisatorische Mindeststandards einzuhalten, und zwar im Inneren wie an ihren Grenzen. »Die Probleme zwischen Griechenland und der Türkei gehen die Europäer etwas an«, sagte Premierminister Mitsotakis im Gespräch mit Politico und dem Journalisten Matthew Kaminski. Auch das Sicherheitsbündnis NATO sei natürlich betroffen. Mitsotakis findet es unverständlich, dass es nicht deutliche Konsequenzen für die Provokationen der Türkei gibt.
Die neue Provokation: Unterlassene Hilfeleistung
Nun kam eine weitere hinzu. Ein Boot ist vor Lesbos gekentert, eine junge Frau ertrank, eine weitere wird vermisst. Gerade erst hatte die griechische Regierung vor der Möglichkeit eines solchen Unglücks gewarnt, wenn sich die Schlepperfahrten von der Türkei nach Italien – unter Umgehung der griechischen Inseln – fortsetzen. Nun geschah es in dem schmalen Meeresstreifen, der Lesbos von der türkischen Küste trennt. Folgen wir zunächst der Darstellung in der griechischen Regierung. Eventuelle Zweifel können danach, in einem zweiten Schritt angebracht werden.
In den frühen Stunden des 2. Dezember, um fünf Uhr herum, wurden ein Schiff des griechischen Hafencorps und ein bulgarisches Frontex-Schiff durch die türkische Küstenwache über Funk informiert, dass vor des Ostküste von Lesbos ein Boot in Seenot geraten sei. Die griechischen Küstenschützer informierten umgehend das nationale Koordinationszentrum für Such- und Rettungseinsätze und das Hafenamt Mytilini. Beim folgenden Rettungseinsatz wurden die beiden Grenzschützer von ihren türkischen Kollegen beobachtet, das teilten die Türken ihnen sogar via Megaphon mit. Das geht aus einem offiziellen Schreiben des griechischen Ministers für Asyl und Migration, Notis Mitarakis, hervor. 32 Migranten konnten gerettet werden. Etwas später fand man die Leiche einer 20-jährigen Frau aus Somali. Eine weitere 20-Jährige wird vermisst.
Doch damit nicht genug, noch während der Rettungsaktion machte das türkische Schiff auf ein weiteres Boot aufmerksam, mit genauem Standort und Kurs. Die türkische Küstenwache schien den Geist der Kooperation für sich entdeckt zu haben. Ein Hochseeschiff der Griechen und die Frontex-Bulgaren eilten zu der angegeben Stelle, fanden aber nichts. Es handelte sich wohl um ein Täuschungsmanöver. Wie Mitarakis in seinem Brief ausführt, waren die türkischen Grenzschützer aber sogar schon in der Nähe des Migrantenboots, als sich dasselbe noch in türkischen Gewässern befand. Die Türken leisteten demnach keine Nothilfe, sondern taten das Gegenteil: Sie erzeugten Wellen und »ermutigten« die Weiterfahrt des Bootes, indem sie es bis in griechische Gewässer begleiteten – und all das inmitten der schon ungünstigen Wetterumstände. Das haben angeblich die Migranten selbst ausgesagt. Laut Presseberichten verlor das Migrantenboot am Ende an Luft. Angeblich konnten die Griechen später ein Messer sicherstellen. Das Schlauchboot weise Messereinstiche auf.
Die türkische Küstenwache, die Schlepper und einige NGOs
Nun möchte man dieses ganze Szenario schon etwas zu perfekt finden, bis hin zu dem von den griechischen Behörden aufgefundenen Messer, das belegen könnte, dass die Migranten sich selbst vorsätzlich in Seenot brachte. Es kommen schon einige erschwerende Elemente hinzu: erst die ungünstigen Wetterbedingungen, dann die Bugwellen der türkischen Grenzschützer, dann die angeblichen Messereinstiche der Bootsinsassen. Dem Zufall sollte hier offenbar gar nichts überlassen werden.
Auch das grundsätzliche Vorgehen der türkischen Küstenschützer erinnert an Presseberichte zu einem Ermittlungsverfahren, das sich gegen vier NGOs auf Lesbos richtet. Angeblich hatte es schon einmal Akteure gegeben, die laut Ermittlungsakten ein gesteigertes Interesse an den Migrantenströmen zwischen der Türkei und den griechischen Inseln hatten. Ihr Modell – wenn es denn ihre eigene Erfindung war – hat nun offenbar die türkische Küstenwache für sich entdeckt.
Der griechische Minister für Asyl und Migration Notis Mitarakis hat den Hergang in zwei gleichlautenden Briefen an die EU-Kommissarin Ylva Johansson und den Repräsentanten des UN-Flüchtlingskommissariats in Griechenland, Philippe Leclerc, detailgenau beschrieben. Wenn sich wirklich alles so zugetragen hat, dann trägt die türkische Küstenwache eine Mitschuld an dem Unglück und am Verlust mindestens eines Menschenlebens. Was den Mitarakis-Brief aber darüber hinaus interessant macht, ist der Satz, den er auch in einem persönlichen Tweet nochmals hervorhob: »Zum anderen sind wir besorgt, dass diese Überfahrten von Schlepperkreisen ermutigt und manchmal von Nichtregierungsorganisationen unterstützt werden, die in der Region aktiv sind. Ich bitte Sie daher dringend darum, zusammen mit ihren Mitarbeitern und ihren Partnern dafür zu sorgen, dass derartige Netzwerke bekämpft werden und jeder Versuch der illegalen Überfahrt entmutigt wird.«
Mitarakis fordert die »vollständige Beendigung der irregulären Schlepperfahrten«
Und noch einmal schreibt Mitarakis den Satz nieder, den seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, jeder wissen kann, der sich mit irregulären Überfahrten im Mittelmeer auch nur ansatzweise befasst hat: Jeder Versuch, die Ägäis oder irgendein Meer mit nicht seetüchtigen Booten zu überqueren, bringt die Passagiere in Lebensgefahr und hat zu unterbleiben. In der Wochenzeitung Proto Thema wurde der Minister noch etwas deutlicher: »Die internationale Gemeinschaft muss die vollständige Beendigung der irregulären Schlepperfahrten durchsetzen.«
Besonders interessant ist aber, angesichts der bekannten Ermittlungen gegen vier NGOs auf Lesbos, der Schlenker in Mitarakis’ Brief zu diesem Thema, das äußerlich nichts mit dem aktuellen Vorfall zu tun hat. Allerdings fällt die Ähnlichkeit des Verfahrens der türkischen Küstenwache mit den Methoden ins Auge, die laut internen Polizeidokumenten die vier NGOs in und um Lesbos genutzt haben sollen. Mitarakis rief die Hilfsorganisationen auf, sich ihrer wirklichen Rolle im Geschehen »bewusst zu werden« und sofort damit aufzuhören, »vielleicht ungewollt« zum »Verlust von Menschenleben« beizutragen.
Kurz vor dem Vorfall gab es tatsächlich wieder öffentliche Wortmeldungen der auf Lesbos engagierten NGOs. Am 30. November twitterte der berüchtigte Migrantennotruf »Alarm Phone« von neun Personen, die Lesbos auf illegalem Weg erreicht hätten und nun »Schutz und Zugang zu einem Asylverfahren« suchten. Allerdings versteckten sie sich einstweilen in einem Wald, wo sie angeblich die griechische Polizei erwarteten. Später vermutete »Alarm Phone«, dass die neun Migranten per »Pushback« in die Türkei zurückgebracht worden seien. Das scheint ein neuer Gebrauch dieses Begriffs, der eigentlich für die Verhinderung der Einreise gebraucht wird. Auch Mare Liberum e. V. twitterte etwas dazu und benutzte dabei denselben Pushback-Begriff. Die NGO mit dem gleichnamigen Schiff, die derzeit zusammen mit drei weiteren Vereinen Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens ist, scheint ein neues Betätigungsfeld für sich gefunden zu haben. Einen Tag später erschien ein Tweet mit einer Pushback-Statistik für die Ägäis, die bis in den März zurückreicht. Offenbar haben die Twitterer von Mare Liberum eine genaue Kenntnis der Situation in der Ägäis. Oder glauben das zumindest.
Was könnte nun aber die griechische Regierung mit dem sehr öffentlichen Eintreten gegen die Schlepper und ihre Helfer aller Art bezwecken? Zunächst sicher das Offensichtliche: Athen will die Sicherheit der eigenen Grenzen sicherstellen, Sicherheit vielleicht sogar in einem sehr allgemeinen Verständnis, nämlich auch für die Leben der Bootsmigranten.
Daneben könnte man denken, dass die Griechen vor dem anstehenden EU-Gipfel noch einmal eine Stimmung gegen Erdogan erzeugen und so Sanktionen gegen ihn vorantreiben wollen – auch das wäre durchaus verständlich. Auf diese mögliche Strategie kann man durch die Erklärung von Außenminister Nikos Dendias kommen, der Ende November nochmals vor dem provokativen, aggressiven und illegalen Agieren der Türkei warnte.
Zu guter Letzt lenken die Griechen so vielleicht auch von den Vorwürfen ab, die von einigen Medien gegen ihre Küstenwache und die EU-Agentur Frontex erhoben wurden, wonach man Migrantenboote in der Ägäis angeblich zu Unrecht abgewiesen hätte. Dieses ›Unrecht‹ bleibt vorerst eine Meinungsfrage, denn der griechischen Praxis liegt nun einmal eine andere Rechtsauffassung zugrunde als der Meinung einiger Nordstaaten.
Wie lange hält der pseudo-liberale Einwanderungskonsens im Norden?
Die Verschiedenheit der Auffassungen hängt natürlich weniger mit Norden und Süden als mit der Lage der verschiedenen Länder, vielleicht auch ihrem Wohlstand zusammen. Im Grunde müsste sich an dieser Stelle noch mehr Einigkeit mit den anderen Mittelmeerländern herstellen lassen, doch politische Mehrheiten erlauben das vorerst noch nicht. Die gemeinsame Erklärung der vier Regierungschefs von Griechenland, Italien, Malta und Spanien, hätte ein Anfang sein können, wenn sie sich nicht an dem Verteilungskonzept verbissen hätte, das immer nur auf dem Almosenprinzip basieren wird.
In Griechenland macht die öffentliche Meinung den Unterschied, die sehr breit gegen eine unkontrollierte Zuwanderung auftritt. In dieser Frage gibt es kaum Streit zwischen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Wählern. Dagegen werden die ach so ›liberalen‹ mittel- und nordeuropäischen Länder – oder vielmehr ihre Regierungen – immer wieder Migrantengruppen (vorzugsweise »unbegleitete Jugendliche« und »Familien«) aufnehmen und daneben natürlich auch alle, die sich wild bis zum Bundesgebiet durchschlagen.
Zu einer gemeinsamen Regelung unter Einbeziehung solcher Schwergewichte wie Frankreich und Polen wird es aber vermutlich niemals kommen. Eher werden weitere Nordstaaten aus dem ›liberalen‹ Einwanderungspool austreten. Es handelt sich im übrigen nicht um eine wirklich liberale Haltung, denn Freiheiten setzen immer auch Verantwortung voraus, eine Verantwortung, die die hiesige Politik vor allem gegenüber den eigenen Mitbürgern, nicht aber gegenüber einem fiktiven Weltbürgertum oder einem monströsen Globalisierungsbegriff haben.
»Moria« wird neu aufgelegt – und die EU ist dabei
Diese Überlegungen sollten am Ende – und zuvörderst – auch den stark betroffenen Südländern die Richtung vorgeben: Nur ein konsequenter Schutz gegen die irreguläre Migration kann sie in ihrem Bestreben nach Ordnung innerhalb der eigenen Grenzen unterstützen. Von der EU ist an dieser Stelle leider nicht viel zu erwarten. Die Union wird vielmehr das neue »Moria« auf Lesbos mit errichten, in der Nachbarschaft einer Müllhalde und fernab der Inselhauptstadt. Die neu bestellte »stellvertretende Generaldirektorin für Migration und Inneres« Beate Gminder, ihres Zeichens Diplomjournalistin und seit 1999 ein Brüsseler Gewächs, hat den Standort zusammen mit Notis Mitarakis in Augenschein genommen.
Ein Landwirt will seine Schafe verkaufen – seine Kinder interessieren sich nicht für diesen mühevollen Broterwerb – und die Hälfte seiner 600 Hektar großen Weide an den griechischen Staat verpachten. Eine Straße zum neuen Aufnahme- und Identifikationszentrum muss erst noch gebaut werden. Doch was wird all das den Griechen einbringen, vor allem den Nachbarn des Zentrums?
Der Aufenthalt der Migranten dort soll nur kurzfristig und nach »wenigen Monaten« beendet sein, was mit der Entscheidung des Asylverfahrens zusammenfallen soll. Schnellverfahren also, doch das Vorgehen der griechischen Behörden in diesem Jahr lässt wenig Hoffnung auf angemessene Asylverfahren in dieser Kürze der Zeit. Eher schon werden viele durchgewunken werden, gleich ob sie einen realen Asyl- oder Fluchtgrund vorzuweisen haben oder nicht. Das unterscheidet sich ohnehin nicht großartig von den Ergebnissen der deutschen »Asylgrundprüfung«. Bleibt also vorerst, als rettender Anker, nur ein guter Grenzschutz der Griechen, der die Flutung der europäischen Sozialsysteme (vor allem natürlich der mittel- und nordeuropäischen) mit häufig nicht oder nur schwer integrierbaren Neuankömmlingen vermeiden kann.
Der Gemeinderat von Mantamados im Norden von Lesbos hat sich jedenfalls bereits gegen die Errichtung eines Aufnahmezentrums in der Region ausgesprochen. Man werde das nicht akzeptieren. Dabei konnte sich der Gemeinderat auf einen älteren Beschluss vom Februar dieses Jahres beziehen, als sich praktisch die gesamte Insel gegen die Errichtung von Aufnahmezentren ausgesprochen hatte. Auch die Einwohner von Lesbos und der anderen Inseln bilden mindestens ein Rädchen im Getriebe der Ägäis, das man noch beobachten sollte.
TE führt mehrere gerichtliche Verfahren, um weiter über diese Vorfälle in Griechenland berichten zu können. Teilweise wurde uns dies bereits untersagt, weil NGOs um ihre Möglichkeiten fürchten, die illegale Migration nach Deutschland zu befördern. Informationen der griechischen Behörden werden in Deutschland nicht als Argumente anerkannt, wohl aber Beteuerungen von NGOs. TE wird weiter berichten und dieses Verfahren weiter führen. Wir danken allen Unterstützern, die uns dafür die notwendigen Mittel zu Verfügung stellen. Denn Pressefreiheit kann in Deutschland nur noch mit erheblichen finanziellen Mitteln wahrgenommen werden. Es ist in diesem Fall erstaunlich, wie leichtfertig polizeiliche Ermittlungen zur Seite gewischt werden, um die illegale Einreise von der Türkei – einem sicheren Staat für Flüchtlinge – nach Griechenland und dann in das deutsche Asylsystem weiter zu ermöglichen. Mit Ihrer Hilfe konnten wir bereits weiteres Beweismaterial vor Ort sichern und Zeugen finden.
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