Tichys Einblick
Ein Blick ins neue Grundsatzprogramm

Die Mär von der grünen Mäßigung 

Medial heißt es nach dem jüngsten Parteitag unisono, die Grünen seien auf dem Weg in die Mitte. Das neue Grundsatzprogramm zeichnet allerdings ein anderes Bild. Aber wen interessiert das schon.

picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Die Grünen gelten neuerdings als bürgerliche Partei, längst haben sie ihr Stammklientel nicht mehr in Hippiekommunen und Brennpunktvierteln, sondern im urbanen Juste Milieu, in der (jedenfalls wenn man es am Einkommen misst) Mitte der Gesellschaft. Sicherlich sind Robert Habeck und Annalena Baerbock gesellschaftlich anschlussfähiger als Renate Künast oder Anton Hofreiter. Dennoch denken die Grünen gar nicht daran, sich inhaltlich zu mäßigen und damit ihren ideologischen Führungsanspruch aufzugeben. Sie haben es schlichtweg nicht nötig.

Ihnen gelingt ein ziemlich einzigartiges politisches Kunststück, denn die Partei bewegt sich nahezu frei von medialer Kritik, die normalerweise auf eine gewisse Stringenz und innere Konsequenz drängen, oder zumindest die Mythen einer Partei durchleuchten würde. Und daher können sie sich als bürgerlich verkaufen, in die Regierung drängen und neue Wähler in der Mitte gewinnen, ohne inhaltliche Veränderungen vornehmen zu müssen. Unhinterfragt übernimmt der deutsche Journalist die Geschichte, die die Grünen erzählt haben wollen: Die Grünen sind jetzt die neue Mitte. Obwohl es keine Anhaltspunkte dafür gibt, außer der Modernisierung des Parteilogos. 

Genau auf dem jüngsten Digitalparteitag, der die Mäßigung verbildlichen sollte, bei dem die Fundis und Radikalos geradezu demonstrativ abgeklatscht wurden, wurde ein neues Grundsatzprogramm beschlossen, das abermals mit bürgerlicher Mitte rein gar nichts zu tun hat.

Heft 12-2020
Tichys Einblick 12-2020: Lockdown im Kopf
Das Programm liest sich zunächst einmal eher wie das Arbeitsgruppenprojekt einer 7. Klasse zur Rettung des Pausenhofbaums. Begrifflichkeiten wie „Klimaerhitzung“ oder der völlig kontextfreie Einwurf von LGBT-Themen, die zu Aussagen führen wie: „Eine starke Außen- und Sicherheitspolitik ist feministisch“, wirken nicht gerade so professionell und moderat, wie die Grünen sich aktuell aufführen wollen. Alles ist heile Welt, überall und alles soll der Staat machen, alle sollen mehr kriegen, und wir retten Klima und Natur, ohne auf Atomkraft angewiesen zu sein. Es gibt keine Konsequenzen aus unserem Handeln, keine Kosten, man macht einfach alles überall besser, per Dekret.
Soweit so amüsant. Aber das Programm hat es, obwohl es extrem vage bleibt, inhaltlich trotzdem in sich. 

Ganz offen spricht man da beispielsweise von einer „sozial-ökologischen Transformation“ und der Veränderung des „Finanz- und Wirtschaftssystems“ hin zu einer Kreislaufwirtschaft ohne Finanzkrisen, inklusive „vollständige(r) Dekarbonisierung der Produktionsprozesse in der gesamten Lieferkette“. Vollständige Dekarbonisierung, das muss man sich mal vorstellen. Das bedeutet Deindustrialisierung und natürlich die Abschaffung jeglicher Wirtschaftsform, die etwas mit Marktwirtschaft und wirtschaftlicher Freiheit zu tun hat.

Auch im Sozialsystem wird das Ende des Marktes eingeläutet, man orientiert sich hier „an der Leitidee eines Bedingungslosen Grundeinkommens“, also jenes Programms, dass selbst Karl Marx zu radikal gewesen wäre. Alle Menschen kriegen einfach so das Geld vom Staat und müssen gar nichts mehr tun.

Habecks Großes Rad:
Die Grünen auf dem Weg zur planetarischen Macht
Weiterhin fordert man eine EU-europäische Fiskal- und Sozialunion und natürlich EU-europaweite Mindestlöhne und Sozialstandards. Aber das ist eigentlich eh egal, denn man macht einfach kurzen Prozess: Die EU solle perspektivisch zur „Föderalen Europäischen Republik“ mit Verfassung ausgebaut werden. Ganz beiläufig wird damit eigentlich … ja was? Das Grundgesetz in Klammern gesetzt? Die Abschaffung dieses Staates gefordert? Egal, Robert Habeck ist gegen die AfD, und daher hat das natürlich nichts mit einem Angriff auf die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung zu tun.

Egal in welches Thema man schaut, es geht ähnlich weiter. „Das Ziel sind Staatsverträge mit islamischen Religionsgemeinschaften“. Eine „vielfältige Einwanderungsgesellschaft“ soll als Staatsziel im Grundgesetz verankert werden. Auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft hätten ein Recht auf politische Teilhabe und natürlich: „Kein Mensch ist illegal“.
Das heißt, letztendlich soll jeder, der hier lebt, auch wählen dürfen, jeder, der will, nach Deutschland kommen können, und dafür ist man auch bereit, das Grundgesetz zu ändern. Vor dem Schulterschluss mit den Islamverbänden in Deutschland, die nahezu alle unterwandert von wahlweise türkischen Nationalisten, saudischen Salafisten oder vom iranischen Geheimdienst sind, hat man augenscheinlich weniger Probleme. Das ist natürlich sehr progressiv. 

Die grüne Moral kennt keine Grenzen

Apropos Saudi-Arabien. Zur Meinungsfreiheit haben die Grünen dann auch gleich eine interessante Position: „Jeder Mensch hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten.“ Hier wurde das Konzept der Meinungsfreiheit definitiv richtig verstanden. Schließlich hat schon Voltaire gesagt: Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, daß Sie sie äußern dürfen – es sei denn Ihre Meinung ist falsch, dann sollte Sie verboten werden.

Vertrauensverlust
Wenn der Staat seine Bürger zum Heucheln animiert
Wenn Sie denken, das ist pervers, haben Sie die Ansichten zur Erinnerungskultur noch nicht gehört: Die EU sei nämlich Europas Antwort auf den Holocaust, heißt es da. Richtig gehört: Eine von einer Deutschen geführte EU, die Abweichler (wie beispielsweise Polen oder Großbritannien) gnadenlos abstraft und möglichst viel Geld an antisemitische Terroristen im Gaza-Streifen überweist – das ist definitiv die Antwort auf den Holocaust. Laut grünem Deutschland.

Unbeirrt fährt man im Parteiprogramm fort, und in einem Moment des Übereifers hat man gleich noch einige Absätze über die Medien hineingeschrieben. Es heißt da: „Zukunftsfähige Wirtschaftspolitik orientiert sich an einem neuen Wohlstandsmaß und einer neuen Form der Wirtschaftsberichterstattung.“ (Danach folgen Sätze, die ganz genau beschreiben, wie eine neue Wirtschaftsberichterstattung auszusehen hat.) Irgendwo ist es für die Grünen aber natürlich auch einfach konsequent, den Gültigkeitsbereich ihres Grundsatzprogramms gleich auf die Medien auszuweiten.

Das Programm ist wirtschaftlich ein klassisch sozialistischer Phrasenkatalog, kombiniert mit noch radikaleren Umweltanliegen. Aber die Grünen ziehen ihre eigenen Bahnen und müssen sich mit derart profanen Dingen wie Widerspruch nicht auseinandersetzen. Dass Robert Habeck Anzug trägt, wird der CDU schon reichen für eine Koalition. Und insofern muss man eines schon anerkennen: Die Grünen sind allen anderen Parteien strategisch um Lichtjahre voraus. Sie schneiden Kurven nicht, sie nehmen den Helikopter. Sie verfolgen unerbittlich ihren eigenen Kurs. Und weil sie die einzigen sind, die das tun, gewinnen sie. 

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