Tichys Einblick
INTERVIEW Hans-Peter Friedrich

Noch mehr Räte? „Das wäre eine Aushöhlung des Parlamentarismus“

Bundestagsvizepräsident Hans-Peter Friedrich warnt vor selbstherrlichem Regierungsstil in Corona-Zeiten und einer Räterepublik, wie sie die Grünen fordern. Der Föderalismus habe sich gerade in der Krise bewährt.

picture alliance / dpa | Kay Nietfeld

Tichys Einblick: Regelmäßig konferiert die Kanzlerin mit den
16 Ministerpräsidenten, um weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu beraten. Tagte da das Ersatzparlament?

Hans-Peter Friedrich: Die Länder sind für die Pandemiebekämpfung zustän­dig und haben sich zusammen mit der Bundeskanzlerin um eine bundes­ einheitliche Linie bemüht. Das ist gut, denn am Beispiel des Beherber­gungsverbots konnte man feststellen, welche Verwirrung unterschiedliche Regelungen in den Ländern auslösen können. Für die öffentliche Nachvoll­ziehbarkeit der verabredeten Entschei­dungen müssen aber die Parlamente einbezogen werden.

Das passiert allerdings bisher viel zu wenig. In der „Neuen Zürcher Zeitung“ warnt der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier vor einer Aushöhlung des Parlamentarismus. Er beklagt, dass die Abgeordneten ihr Recht kaum einfordern: „Ganz überwiegend haben sich die meisten Parlamentarier selbst aus dem Spiel genommen.“ Was muss sich an der Art und Weise ändern, wie die Politik in Corona-Zeiten entscheidet?

Für den Erlass von Rechtsverordnun­gen zur Bekämpfung der Pandemie sind die Länder zuständig, die – ange­passt an die jeweilige Lage vor Ort – an­ gemessen reagieren können. Aber bei der Bekämpfung der Corona­-Pandemie geht es um mehr als formale Gesetz­gebungszuständigkeiten. Vielmehr müssen die Parlamente und insbeson­dere der Deutsche Bundestag der Ort sein, an dem die Stimmen aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen zu Gehör gebracht werden und wo der Diskurs über die Maßstäbe für das Regierungshandeln stattfinden muss. Regieren mit Podcasts und Pressekonferenzen statt mit Regierungserklärungen im Parlament ist einer parlamentarischen Demokratie nicht angemessen. Das wäre auf Dauer sicher eine Aushöhlung des Parlamentarismus.

Die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin wollen, dass möglichst nichts über ihre Diskussion bekannt wird. Statt in einer offenen Parlamentsdebatte fallen wichtige Beschlüsse also in einer Black Box. Können Sie verstehen, dass diese Art Entscheidungsfindung das Misstrauen gegenüber der Politik verstärkt?

Zunächst haben die Ministerpräsidenten verständlicherweise das Bedürfnis, mit der Kanzlerin zu diskutieren, ohne Schaufensterreden halten zu müssen. Aus diesen Gründen finden ja auch die Ausschusssitzungen im Parlament hinter verschlossenen Türen statt. Aber die Kritik an geschlossenen Runden trifft schon einen wichtigen Punkt. In Parlamentsdebatten werden nicht nur die Argumente deutlich, sondern auch die Entscheidungsgründe. Also das, was in der Abwägung von Argumenten am Ende den Ausschlag gegeben hat. Und das muss transparent gemacht werden.

Kritik daran, dass die Exekutive in der Corona-Bekämpfung zu viel Entscheidungsgewalt an sich reißt, gibt es von mehreren Seiten – auch von Ihrem Vizepräsidentenkollegen Wolfgang Kubicki von der FDP. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder fordert dagegen von den Parteien, „zusammenzustehen“ und möglichst wenig zu streiten. Wie sehen Sie diese Debatte?

Markus Söder hat recht: In einer Krise kann es kein kleinkariertes Parteiengezänk geben. Aber es muss natürlich ein Diskurs unterschiedlicher Sichtweisen und Argumente stattfinden. Der Ort dafür sind die Parlamente. Die Handlungsfähigkeit in einer Notsituation, bei der es um wenige Stunden oder Tage geht, muss einer Exekutive zugebilligt werden. Aber die von der Exekutive getroffenen Entscheidungen müssen hinterher in den Parlamenten debattiert und Maßstäbe für künftige Entscheidungen erarbeitet werden, die dann auch ihre politische Wirkung entfalten. Inzwischen bestehen die Grundrechtseingriffe seit Monaten fort. Es hätte genügend Gelegenheiten gegeben, sich mit den neuen Erkenntnissen und ihren Folgen in den Parlamenten auseinanderzusetzen. Ich hätte also erwartet, dass die Exekutive im Vorfeld der jetzt getroffenen Entscheidungen die Sichtweise der Parlamente und damit der Bevölkerung einbezieht.

Haben Sie im Kreis von Präsident und Vizepräsidenten darüber diskutiert, was und wie das Parlament jetzt diskutieren und entscheiden muss?

Ja, natürlich tauschen wir uns aus, wobei wir sicher nicht in allen Einzelfragen einer Meinung sind. Aber wir stimmen darin überein, dass das Parlament stärker einbezogen werden muss, um den Handlungsrahmen der Regierung immer wieder zu konkretisieren und zu überprüfen. Das heißt, es muss eine laufende Kontrolle der Regierung stattfinden.

Genau diese Kontrolle halten viele in der Corona-Krise für Luxus. Mit einem Virus, heißt es, könne man nicht verhandeln, deshalb müsse jetzt „die Wissenschaft“ den Kurs vorgeben. Nach dieser Logik wären Expertenräte die richtigen Entscheidungsgremien.

Schon immer kennt man den Spruch: „vier Juristen, fünf Meinungen“. Seit Neuestem weiß man allerdings auch: „vier Corona-Wissenschaftler, fünf Meinungen“. Es stimmt, mit einem Virus kann man nicht verhandeln, aber gegen seine Weiterverbreitung kann man sinnvolle, verhältnismäßige und milde Mittel wählen – oder überzogene und unverhältnismäßige. Die einen von den anderen zu unterscheiden, das ist eine Frage, die das Wissen von Virologen verlangt, aber auch die Abwägung von Grundrechten und die Debatte, welche ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen eine Maßnahme hat. Das alles zusammenzuführen kann und muss ein Parlament leisten.

Viele Entscheidungen zur Corona-Bekämpfung greifen tief in Grundrechte ein, etwa in die Freizügigkeit und die Gewerbefreiheit. Wie viel Ausnahme- zustand verträgt eine Demokratie?

Die Grundrechte finden ihre Schranken jeweils dort, wo andere Grundrechte zum Tragen kommen. Leib und Leben von Menschen zu schützen ist ein Ziel, das auch die Einschränkung von Freiheitsrechten rechtfertigt. Aber der Zweck heiligt nicht die Mittel. Die Einschränkung von Freiheitsrechten zum Schutz von Leben und Gesundheit muss wohlbegründet und verhältnismäßig sein, also geeignet, erforderlich und angemessen. Auch in einem Ausnahmezustand bleiben die Grundrechte bestehen. Kommt es zu Einschränkungen, müssen diese nachvollziehbar begründet werden.

Hat sich bei vielen Politikern möglicherweise die Ansicht durchgesetzt: Wenn etwas verfassungswidrig beschlossen ist, dann werden uns die Gerichte das schon sagen? Eine ganze Reihe von Maßnahmen der Exekutive – etwa zum Beherbergungsverbot – sind ja von Gerichten kassiert worden. Das Gesetz gegen „Hasskriminalität im Internet“ wurde trotz schwerer Bedenken beschlossen – und wird jetzt geändert, weil das Bundesverfassungsgericht es andernfalls verwerfen würde.

Diese Kritik ist mir zu pauschal. Das Beherbergungsverbot ist übrigens nicht vom Verfassungsgericht, sondern von Verwaltungsgerichten gekippt worden. Die Anforderungen der Rechtsprechung an die Maßnahmen sind sehr hoch, was mit Blick auf die Intensität der Grundrechtseingriffe ja auch richtig ist. Wegen der fehlenden Erfahrungswerte fällt es den Ländern noch sehr schwer, die Wirksamkeit der Maßnahmen nachzuweisen. Und das ist der Grund, weshalb die Gerichte die Maßnahmen kippen. Aber was Ihre allgemeinen Fragen angeht: Es stimmt, dass mancher Konflikt mit der Verfassung vermeidbar gewesen wäre, wenn man denen, die verfassungsrechtliche Bedenken geltend machen, nicht nur Destruktion unterstellen würde. Wer verfassungsrechtliche Bedenken leichtfertig beiseitewischt und damit die Beanstandung durch das Bundesverfassungsgericht provoziert, braucht sich nicht zu beschweren, wenn das Gericht dann schon mal der Versuchung erliegt, weitergehende „Hinweise“ zu geben, die die Handlungsspielräume weiter begrenzen als notwendig.

Gerade die Bayern waren immer Lordsiegelbewahrer des Föderalismus. Jetzt fordern immer mehr Ministerpräsidenten möglichst bundeseinheitliche Corona-Regeln. Gilt jetzt auch gegen den Föderalismus, was gegen den Parlamentarismus ins Spiel gebracht wird: zu langsam, zu schwerfällig?

Mich haben gerade zu Beginn der Krise im März die Vorzüge unseres föderalistischen Systems überzeugt. Auf allen Ebenen, ob Bund, Land, Landkreis oder Kommune wurden Entscheidungen getroffen von Funktionsträgern, die verantwortungsbewusst und für ihren Bereich passgenau entschieden haben, ohne auf Anweisungen „von oben“ zu warten oder sich dahinter zu verstecken. Der Föderalismus hat sich gerade in der Krise bewährt. Ein vergleichender Blick auf unsere zentral regierten Nachbarländer bestätigt das übrigens. Was die Forderung nach einheitlichen Corona-Regeln angeht, so wäre eine ausführliche Debatte und Beschlussfassung im Deutschen Bundestag auch für alle Landesregierungen zumindest eine politische Vorgabe gewesen, von der man nur mit guten Gründen hätte abweichen können.

Bundesumweltministerin Svenja Schulze plädiert dafür, den Bundestag durch „Räte für Generationengerechtigkeit“ zu ergänzen, die in das Gesetzgebungsverfahren eingreifen dürfen sollen. Bundestagspräsident Schäuble spricht sich für geloste „Bürgerräte“ aus. Reicht das Parlament nicht mehr? Befinden wir uns auf dem Weg in eine Räterepublik?

Jeder Abgeordnete hat genügend Möglichkeiten, sich Fachkenntnis zu verschaffen. Wer als Abgeordneter in seinem Wahlkreis unterwegs ist, den Kontakt zu Bürgern sucht und pflegt, braucht keine neuen „Räte“. In dem Vorschlag, Räte zu etablieren, liegt möglicherweise der Verdacht, dass immer weniger Abgeordnete sich der Mühsal der Wahlkreisarbeit unterziehen und Meinungen der Bürgerinnen und Bürger vor Ort einholen. Tatsächlich verdankt schon heute die Mehrheit der Abgeordneten ihr Mandat nicht dem Votum der Wahlkreisbürger, sondern dem guten Platz auf der Liste, die von der Partei aufgestellt wird. Die Profilierung in der eigenen Partei droht dann wichtiger zu werden als die Kommunikation mit dem Bürger vor Ort.

Im öffentlichen Streit um Corona-Bekämpfungsmaßnahmen gibt es eine Zweiteilung im Land: öffentliche Bedienstete, Berufspolitiker und Angestellte der Öffentlich-Rechtlichen, bei denen wegen der Pandemie weder der Job wackelt noch das Einkommen, sehen harte Einschränkungen sehr viel gelassener als Unternehmer, Selbstständige, Angestellte der Dienstleistungsbranche. Kommen diese Gruppen angemessen zu Wort?

Tatsächlich fällt in dieser Diskussion über Corona-Maßnahmen auf, dass diejenigen, deren wirtschaftliche Existenz bedroht ist, sich völlig anders äußern als Leute, die unabhängig davon sind und sich vielleicht freuen, im Homeoffice arbeiten zu können. Es waren meine Kollegen – die Wahlkreisabgeordneten –, die in den letzten Monaten auch intensiv Kontakt hatten zu Mitarbeitern der Gastronomie, zu Selbstständigen, Künstlern, Schaustellern, zu allen, die in der Pandemie um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen. Die Hilfen für Soloselbstständige und andere, die unter starkem wirtschaftlichem Druck stehen, mögen vielleicht nicht perfekt funktionieren. Aber dass sie gekommen sind, liegt daran, dass Abgeordnete, die Kontakt mit der Basis in ihren Wahlkreisen haben, dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben. In Parlamentsdebatten sollte noch deutlicher bewusst gemacht werden, dass nicht alle Bürger gleich betroffen sind von der Pandemie und den staatlichen Maßnahmen. Die Leute, denen es an die Existenz geht, müssen sich politisch repräsentiert fühlen.

Es hat gerade eine zwischen Regierungsfraktionen und Opposition heftig umstrittene Reform des Bundestagswahlrechts gegeben. Demnächst soll die Zahl der Wahlkreise verkleinert werden. Sind Sie mit diesen Schritten zufrieden?

Jede Verringerung der Zahl der Direktwahlkreise verwässert das Prinzip des den Bürgern vor Ort verantwortlichen Abgeordneten und stärkt den Einfluss der Parteifunktionäre. Wer die Direktmandate reduziert oder gar abschafft, riskiert, dass der eine oder andere Abgeordnete das schicke Leben im Glanze der Hauptstadt der Kärrnerarbeit im Wahlkreis vorzieht. Ob das der parlamentarischen Demokratie zuträglich ist, darf bezweifelt werden.

Dass gerade wichtige Themen nicht ausreichend im Parlament diskutiert und entschieden werden, ist nicht neu. Den Kurswechsel in der Migrationspolitik entschied die Exekutive 2015 praktisch allein. In der Europolitik musste das Bundesverfassungsgericht mehrmals daran erinnern, wer das letzte Wort haben sollte – nämlich der Bundestag. Das ist doch ein grundsätzliches Problem.

Wir haben eigentlich Instrumente, die es auch der Opposition ermöglichen, Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Aber offenbar reichen sie nicht aus. Das ist ein Grund, in uns zu gehen und zu überlegen, wie wir strittige Themen der Gesellschaft stärker auf die Agenda des Parlaments bekommen. Das Parlament besteht zwar aus Oppositions- und Regierungsfraktionen, aber es hat auch als Ganzes eine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung.

Eigentlich – so sagt man – hält sich das Parlament eine Regierung, nicht umgekehrt. Ist dieses Verhältnis nicht gekippt?

Das Parlament hat jedenfalls guten Grund, selbstbewusster zu werden.


Dieses Interview wurde am 10.11.2020 im Magazin „Tichys Einblick“ veröffentlicht

Anzeige
Die mobile Version verlassen