Jana aus Kassel, die sich öffentlich in eine Widerstandskämpferin einfühlte, dient vielen Medien als idealtypisch durchgeknallte Corona-Demonstrantin. Dabei ist sie so viel mehr: ein soziales Leitbild.
Seit wenigen Tagen kennt Deutschland Jana, 22, aus Kassel. Sie erklomm dort das Podest einer Querdenker-Veranstaltung und stellte sich mit folgenden Worten vor: „Ja hallo, ich bin Jana aus Kassel, und ich fühle mich wie Sophie Scholl, weil ich seit Monaten im aktiven Widerstand bin, Reden halte, Kundgebungen anmelde“.
Sie tut nicht nur, was Sophie Scholl bis zu ihrer in Hinrichtung 1943 auch tat, nämlich Kundgebungen anmelden und über ihre Gefühle reden. Sie sei, so Jana, außerdem 22 Jahre alt, „genau wie Sophie Scholl damals“. An dieser Stelle zieht ein Ordner seine Weste aus und verkündet, für diesen Schwachsinn stehe er nicht mehr zur Verfügung. Worauf Jana ihren Vortrag ab- und in Tränen ausbricht. Wie kommt man mit diesem Sekundenauftritt zu Ruhm? Beispielsweise dadurch, dass Bundesaußenminister Heiko Maas die Begebenheit verurteilt, denn Jana „verhöhnt den Mut, den es brauchte, Haltung gegen Nazis zu zeigen“. Und der damit ganz nebenbei auch die Bedeutungsebene zeigt, die ein Bundesaußenminister heute einnimmt.
Nichts verbindet Coronaproteste mit Widerstandskämpfer*Innen.
Aber auch Spiegel, FAZ und viele andere meldeten und kommentierten das Drama um Jana. Der WDR fragt: „Warum hinkt der Vergleich?“, womit der Sender die Skepsis durchblicken lässt, ob sein Publikum mit dem Namen Sophie Scholl viel anfangen kann, jedenfalls liefert er vorsichtshalber einen biografischen Abriss. Spätestens an dieser Stelle fällt auf, dass die Faktenchecker der Tagesschau im Fall Jana noch nicht tätig geworden sind, aber das kann noch kommen.
Heiko Maas und vielen Medienmitarbeitern dient Jana, 22, als Muster einer Querdenker-Aktivistin, die in dem Bevölkerungsschutzgesetz ganz selbstverständlich das Ermächtigungsgesetz von 1933 sieht und in der eigenen Person die Verkörperung der Weißen Rose. Das ist zu klein gedacht. Die junge Frau mit dem ausgeprägten Ich-Bewusstsein steht emblematisch für ein ganzes Land, außerdem für einen bestimmten Typus, der nun wirklich nicht nur im Milieu der Corona-Demonstranten vorkommt. Gerade Politiker und Redaktionsmitglieder könnten mühelos feststellen, dass die nächste Jana nur eine Armlänge entfernt von ihnen west, also dort, wo sie ihnen beim Zusammenstehen aller Guten und Wohlmeinenden wegen der großen Nähe nicht auffällt.
Wenn sich nach 1945 je so etwas wie eine deutsche Lockerheit durchgesetzt hat, dann beim Verwenden von Nazi-Vergleichen, was zwangsläufig den Selbstvergleich mit Widerstandskämpfern nach sich zieht. Wo Hitler als Adabei an jeder Ecke grüßt, stellt sich auch das Schollgefühl des Guten im Handumdrehen ein. Genau betrachtet bleiben in der Bundesrepublik heute nur ein paar fußbreit Boden übrig, den der erweiterte Faschismusbegriff noch nicht okkupiert. Die Partei, der Heiko Maas angehört – der Mann, der bekanntlich wegen Auschwitz beschloss, Politiker zu werden – plakatierte beispielsweise vor einiger Zeit am Willy-Brandt-Haus und im Internet: „Für uns gilt seit 156 Jahren: Kein Fußbreit dem Faschismus!“
Der Faschismus reicht also von Wilhelm I. bis zum gerade noch abgewehrten Kemmerichfaschismus in Thüringen, ein weites Feld, um mit Fontane zu sprechen. Maasens Partei unterscheidet sich von der Querdenkerdemonstration in Kassel hauptsächlich dadurch, dass bei der SPD kein Ordner öffentlichkeitswirksam einschreitet und mittteilt, er mache diesen ahistorischen Schwachsinn nicht mehr mit. Für den Bundesminister des äußersten Vergleichs ist übrigens auch der Hauch von Weimar nur eine Duftmarke unter vielen. In seinem Buch „Aufstehen statt Wegducken“ beschreibt er gleich im ersten Kapitel, wie er 2016 bei der Maikundgebung in Zwickau ausgebuht wurde. Das lag nach seiner festen Überzeugung nicht an seiner Person, vielmehr wetterleuchtete da der Untergang der Republik. „Ich spüre: Hier geht die Streitkultur unserer Demokratie vor die Hunde.“
Wie gesagt: Die Signifikanten „Hitler“ und „Widerstand“ entsprechen schon seit Jahrzehnten in Politik und Publizistik den Ausrufen Hatschi & Gesundheit im Zivilleben. Das nahm seinen Anfang mit „USA-SA-SS“ auf den Kundgebungen der Achtundsechziger; Reinhard Lettau spürte in den USA den „täglichen Faschismus“ auf. Über den damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler hieß es: „Frisch gegeißlert ist halb gefreislert“ (Dieter Hildebrandt). Die DDR ließ sich mit dem faschistischen Putsch von 1953 und dem Antifaschistischen Schutzwall nicht lumpen.
Spätestens seit 1968 stand der Faschismus immer vor der Tür und die Uhr auf fünf Sekunden vor Zwölf. Und die Drahtzieher des F. gleich dahinter. „Was steht eigentlich hinter Faschismus? Welche Rolle spielt das kapitalistische System?“, frug kürzlich die Grüne Jugend, um die Problemstellung wiederum mit der Klimafrage kurzzuschließen.
Zu diesem seit Dutschkes Zeiten übersteuerten Ton, der nur den nach oben aufgerissenen Regler kennt, kommt noch ein weiteres Problem, das sich in der Generation Heiko schon andeutete, aber erst in der Alterskohorte Jana zum Vollmeisenstatus reift: der innere Drang vorwiegend von jungen Frauen, ihr Gefühl für ein Erkenntnismedium zu halten, und die Beharrlichkeit von Medien- und sonstigen Sinnschaffenden, die junge fühlende und um Worte nicht verlegene Weltrettungsfrau zum gesellschaftlichen Leitbild hochzuquotieren. Seitdem ist das Zeitalter der Wasserfrau angebrochen.
„Es sind in der Gegenwart erstaunlicherweise junge Frauen (wie Sophie Scholl), die zu Symbolfiguren des Widerstands geworden sind: Greta Thunberg angesichts der mangelnden Verantwortung im Klimaschutz, Carola Rackete und Pia Klemp im Widerstand gegen das inhumane Wegsehen, wenn tausende von Migrant*innen im Mittelmeer ertrinken, weil sich Europa nicht auf eine faire Solidarität im Umgang mit Flüchtlingen einigen kann. Die Zivilcourage dieser jungen Frauen ist bewundernswert.“ Das schreibt im April 2020 Markus Vogt, erstaunlicherweise Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Und auch hier fährt kein Ordner dazwischen, weshalb Lehrstuhlinhaber Vogt nicht wie Jana heulend abgeht, sondern gottseisgeklagt weiter in christlicher Sozialethik macht.
Da kann Ulrike Guérot nicht zurückstehen, Talkshowinventar und Professorin an der Donau-Universität Krems, die Sophie Scholl zu ihrer Schwurzeugin gegen europäische Grenzkontrolle befördert: „Es findet eine Werteverschiebung statt von Europa als Friedensgemeinschaft – ich nenne es Friedenserzählung – hin zu einer Sicherheitserzählung. Wenn es momentan um Europa geht, dann wird von Abschottung gesprochen. Das generiert Angst. …Und manchmal muss man eben seine Sicherheit aufgeben, um die Freiheit zu verteidigen. Das hat Sophie Scholl gemacht.“
Wenn ein Sozialethikprofessor nur einen Kurzschlussgedanken von einer hingerichteten Widerstandskämpferin bis zu einer von der UNO bis zum Kanzleramt und von Stern bis Vogue und GQ hofierten Klimabewegungsfigur braucht, dann benötigt Jana aus Kassel nur noch einen halben Sockenschuss von diesem gemischten Akademikerhack bis zur Selbstausrufung als Widerstandfigur, die sich auf Durchreise zum Schafott befindet, aber zwischendurch noch Kundgebungen anzumelden nicht versäumt. Vielleicht liest sie nicht unbedingt bei Vogt und Guérot nach (das tut auch der Autor dieses Textes nur, damit Sie es nicht müssen), aber sie gehörte vielleicht zu den Zuschauern des ARD-Werks „Ökozid“, das kürzlich die CO2-Emission mit dem Holocaust engführte, indem seine Drehbuchautoren eine Art Nürnberger Prozess gegen die deutschen Klimasündenpolitiker in Szene setzten.
Mit Sicherheit nimmt Jana aber die unentrinnbaren Hundert-und Tausendschaften von jungen Redakteurinnen und sonstigen Aktivistinnen wahr, die eigens angeheuert wurden, um den Journalismus und die Politik weiblicher und weicher zu machen und damit neue Leserschichten zu erschließen, was ja auch tadellos klappt. Das Glockenspiel dieser Generation Fühlefühlefühle kommt mit nur drei Tönen aus: Ich fühle, ich spüre und ich meine. Ständig muss die Frage erörtert werden, was das mit uns macht, der mental load, diese tägliche Entscheidung, ob man heute gegen den 156 Jahre alten Faschismus, den globalen Klimatod oder mit den Tränen kämpfen soll. Die Teilnahme an einer FFF-Demo beziehungsweise ein mitfühlender Bericht dazu berechtigt jedenfalls zur vollwertigen Greta-Thunberg-Identifikation. Und von da aus führt nur noch ein winziger Upgrade zu Sophie Scholl. Statt auf der 22jährigen aus Kassel herumzuhacken, müsste jetzt ehrlicherweise der Ruf aus vielen Herzen kommen: Jana, du bist nicht allein. Als allererstes von Heiko Maas, aber nicht nur.
Es ist schwer bis unmöglich, Leuten zu sagen, sie mögen den Namen Sophie Scholl nicht unnütz gebrauchen, die sich auch sonst nicht um den Nutzen irgendeines Wortes scheren, mit einer Ausnahme: Ich.
Wenn von Auschwitz, Sophie Scholl bis Weltklimaökozid mittlerweile jede Maximalformel auf Instagram-Format gedimmt wurde: Was soll dann eigentlich die nächste Generation tun, um ihr serielles Emo-Dasein auszudrücken?
Ihr bleibt vielleicht nur noch eine allerletzte Einfühlung: „Ja hallo, ich fühle mich wie Jana aus Kassel.“
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