Nee, Virus. Hast du denn gar nichts aus der Evolution gelernt? Wir werden dir zeigen, dass du dir den falschen Wirt ausgesucht hast. Wer spricht da? Eine Regierungschefin zu Abgeordneten im Saal und den erwachsenen Bürgern draußen? Oder die oberste Kindergärtnerin der Nation?
In ihrer Rede vor dem Bundestag zitierte Angela Merkel zwar nur eine Fernsehjournalistin, die es originell fand, SARS-CoV-2 zu einer Art Comicfigur zu machen. Aber genau dieser Ton passt zu Angela Merkel, auch in der bizarren Nichtdebatte über den zweiten Covid-Lockdown in diesem Jahr. Aus Sicht der Kanzlerin handelt es sich um einen Kampf des Guten gegen das Böse. Und den muss sie den Menschen draußen so erklären, als hätte sie es mit Minderjährigen, Begriffsstutzigen und jedenfalls Unmündigen zu tun. Wieder fahren Bundesregierung und Länder das Leben in Deutschland aufgrund von Covid-19-Maßnahmen herunter.
Zwar nicht so hart wie im Frühjahr. Doch der neuerliche Lockdown trifft Branchen, die schon im Stillstand des Frühjahrs besonders zu leiden hatten und entsprechend geschwächt nun um ihr Überleben kämpfen: Gastronomie, Hotelgewerbe, Kinos, Theater, Kleinkunstbühnen, Sportstudios.
Wo Cafés, Restaurants und Hotels schließen, veröden auch viele Innenstädte. Viele Einzelhändler dürften diesen zweiten Schlag innerhalb eines Jahres nicht überleben. Am härtesten trifft sie die Unsicherheit. Denn für die neuen Maßnahmen gibt es keine Begrenzung. Merkel verkündet ausdrücklich, sie wolle über ein Ende des „Wellenbrecher-Lockdowns“ zum 30. November „nicht spekulieren“. Stattdessen stellt sie eine kleine Festtagsbescherung in Aussicht, aber nur, falls sich die Bürger
entsprechend benehmen: „Wenn wir im November alle sehr vernünftig sind, dann werden wir uns mehr Freiheiten zu Weihnachten erlauben können.“
Entlassungen und „großer Neustart“
Dass der Staat zumindest in Gastronomie und Hotelgewerbe den ausgefallenen Umsatz zu 75 Prozent ersetzen will – mit dem Geld der Steuerzahler natürlich – hilft vielen Unternehmern kaum, wenn sie nicht wissen, wie es weitergeht. Sehr viele verschieben Investitionen. So, wie auch viele Bürger erst einmal ihr Geld zurückhalten. Denn sie kennen die Zahlen zu bevorstehenden Pleite- und Entlassungswellen gut. Laut der Wirtschaftsauskunftei Crif Bürgel waren schon vor dem „Wellenbrecher-Lockdown“ 14,5 Prozent aller Gastronomiebetriebe in Deutschland insolvenzbedroht.
Der Einzelhandelsverband sieht etwa 50.000 der gut 450.000 Einzelhandelsgeschäfte Deutschlands in ihrer Existenz akut gefährdet. Es trifft aber nicht nur Restaurants und Läden. Bei der Lufthansa, die um ihre Zukunft kämpft, steht die Entlassung von 26.000 Mitarbeitern bevor. Ganz ähnliche Zahlen melden Autoindustrie und Reisebranche.
Sicher ist nur: Ab 1. Januar steigt die Mehrwertsteuer wieder. Dazu kommt mit der CO2-Steuer ein flächendeckender Aufschlag auf Kosten und Preise. Es gibt also kurzfristig ein bisschen Steuergeld als Entschädigung zurück. Aber
an eine grundsätzliche und langfristige Entlastung von Unternehmern und Selbstständigen, die nötiger wäre als je zuvor, denkt der Politbetrieb offenbar keine Sekunde. Und schon gar nicht an einen Verzicht auf den milliardenteuren „Green Deal“.
„Alles muss transformiert werden“
Im Gegenteil: Von Ursula von der Leyens EU-Kommission über die Fridays-for-Future-Bewegung bis zu „Vordenkern” wie dem Weltwirtschaftsforum-Organisator Klaus Schwab scheint das alte Motto von Barack Obama zu gelten: „Lass nie eine Krise ungenutzt vorüberziehen.“
Corona und die Angst vor Corona liefern den Schlüssel zum „Great Reset“, dem „großen Neustart“, der am besten alle westlichen Länder umformatieren soll. Die Klimaaktivistin Carla Reemtsma etwa fordert, in der wirtschaftlichen Krise dürften keine alten Industrien unterstützt werden, sondern nur neue, ausreichend grüne, es dürfe nicht „zurückinvestiert“ werden.
Klingt zu düster? Zu unrealistisch? „Um ein besseres Ergebnis zu erreichen, muss die Welt schnell alle Bereiche unserer Gesellschaft und Wirtschaft umgestalten“, so Schwab in seinem Buch „The Great Reset“, „von Bildung und Gesellschaftsverträgen bis zu den Arbeitsverhältnissen. Jede Gesellschaft, von den USA bis China, muss mitmachen, und jede Industrie, von Öl und Gas bis Techplattformen, muss transformiert werden.“ Und wer nicht mitmachen will? Mit dieser Möglichkeit will sich Schwab nicht näher befassen. In der neuen Welt sollen große Lenkungsgremien offenbar eine weit größere Rolle spielen als bisher – und Bürger eine viel kleinere.
Der EU-Fonds „Next Generation EU“ (NGEU) etwa, der bisher 672,5 Milliarden Euro umfasst, soll Mittel zur wirtschaftlichen Ankurbelung in den Mitgliedsstaaten ausschütten – aber nur, wenn die Länder „Wiederherstellungs- und Resilienzpläne“ vorlegen, die die Kommission bis April 2021 prüfen will. Mit ihren Plänen müssen die Regierungen sieben vorgegebene Planpunkte erfüllen, darunter auch verstärkte Investitionen in erneuerbare Energie und den Umbau des Verkehrs.
In diesen Vorstellungen zeichnet sich schon konkret die Sehnsucht von Politikern und Gesellschaftsingenieukutiert werden sollen. „Nur das Parlament ist durch Wahlen vom Volk hierzu legitimiert; die Exekutive hat sie zu vollziehen, nicht zu ersetzen“, erinnert Papier an die Verfassungslage. Um dann festzustellen, dass die Realität anders aussieht: Die Abgeordneten, meint er, mussten von der Exekutivgewalt nicht einmal wirklich verdrängt werden: „Ganz überwiegend haben sich die meisten Parlamentarier selbst aus dem Spiel genommen.“ Stattdessen verfügte eine Runde aus Kanzlerin und Ministerpräsidenten der Länder in nichtöffentlicher Sitzung die Corona-Maßnahmen der vergangenen Wochen inklusive des zweiten Lockdowns, bevor Abgeordnete überhaupt darüber sprechen durften. Ein solches Gremium sieht das Grundgesetz nicht vor. Dennoch bestimmt es mittlerweile den Takt der Politik.
Gefährdete Verfassung
Bundestagsvizepräsident Hans-Peter Friedrich (CSU) warnt vor einer „Aushöhlung des Parlamentarismus“. Das „Regieren mit Podcasts und Pressekonferenzen“, meint er in Anspielung auf den Stil Merkels, sei „einer parlamentarischen Demokratie nicht angemessen“. Sein Vizepräsidentenkollege Wolfgang Kubicki von der FDP schlägt ganz ähnliche Töne an: Wenn eilig im Hinterzimmer zusammengeschusterte Corona-Maßnahmen der Exekutive von Gerichten gleich reihenweise wegen Rechtswidrigkeit wieder kassiert werden müssten, dann gerate etwas grundsätzlich aus dem Gleichgewicht: „Es treibt mich wirklich um, dass wir schon rund 60 Entscheidungen haben, die im Eilverfahren staatliche Maßnahmen für verfassungswidrig erklärt haben. Das sind zehn pro Monat – in einem Rechts- staat eigentlich ein undenkbarer Vorgang“, so Kubicki in der „Welt“.
Viele Politiker scheinen sich weder von diesen Mahnungen noch von Gerichten oder murrenden Bürgern sonderlich beeindrucken zu lassen. Welches Gesellschaftsbild sie pflegen, zeigen sie in der Viruskrise ganz unverblümt. Der CDU-Fraktionschef der Bremischen Bürgerschaft Thomas Röwekamp etwa fordert, die Benutzung der staatlichen Corona-App zur Pflicht zu machen – für alle, die ein Smartphone besitzen. Das, so Röwekamp, müsse „bußgeldbewehrt“ werden: Wer sich weigere, solle bestraft werden. Zur Erinnerung: Als die Warn-App eingeführt wurde, versicherten die Politiker, natürlich werde sie freiwillig bleiben.
Niedersachsens Stephan Weil (SPD) fordert die Bürger dazu auf, Verstöße von Mitbürgern gegen die Corona-Auflagen bei staatlichen Stellen zu melden. „Das macht keiner gerne. Aber ehrlich gesagt: Im Moment geht es um richtig viel. Und deswegen können wir eine solche Mithilfe aus der Bevölkerung gut gebrauchen.“ Die Stadtverwaltung Essen bastelte sogar ein Onlineformular, mit dem aufmerksame Zeitgenossen auch anonym Nachbarn wegen tatsächlicher oder erfundener Corona-Unbotmäßigkeiten anschwärzen sollten.
Weils SPD-Genosse Karl Lauterbach brachte nicht nur eine Kontrolle von Privatwohnungen bezüglich verbotener Menschenansammlungen ins Spiel. Er forderte auch die Abberufung des Chefs der Kassenärztlichen Vereinigung, Andreas Gassen, der – wie etliche Mediziner – den Sinn mancher staatlicher Corona-Eindämmungsmaßnahmen bezweifelt. Entfernung von Kritikern statt Diskussion – so stellt er sich offenbar die ideale Gesellschaft vor.
Einwände fegen die Politiker neuen Typs kurzerhand vom Tisch. Etwa den Hinweis, dass sich so gut wie keine Covid-Ansteckungen in Hotels und Restaurants nachweisen lassen. Nach den Zahlen des baden-württembergischen Sozialministeriums etwa lag der Prozentsatz nachgewiesener Corona-Ansteckungen in Hotels und Pensionen in der 39. Kalenderwoche in dem Bundesland bei 0,5 Prozent, in der 40. und 41. Woche bei null (siehe Grafik Seite 20). In anderen Ländern sehen die Daten ähnlich aus: Restaurants, Hotels und Kultureinrichtungen spielen im Infektionsgeschehen kaum eine Rolle. Trotzdem müssen sie zusperren – weil Politiker entschieden haben, dass jetzt eben irgendetwas geschlossen werden muss. Mit der „letzten Frage der Gerechtigkeit“, so Merkel, sei das nicht zu erklären.
Alternativlose Maßnahmen
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Marie-Luise Dreyer räumte auf Twitter ein, die Zahlen sprächen zwar nicht für eine Virusverbreitung im Hotel- und Gastrogewerbe, aber in drei von vier Fällen könnten die Behörden nicht mehr nachverfolgen, wo die Menschen sich anstecken würden. Mit anderen Worten: Hotel- und Restaurantbetreiber können nicht nachweisen, dass sie an der Ansteckungswelle im Herbst unschuldig sind, also werden sie zum Opfer pauschaler Staatsmaßnahmen.
Alternativen, etwa einen besseren Schutz für besonders gefährdete Personengruppen, debattieren die meisten Politiker nur flüchtig. Genauso wie die Frage, ob der Lockdown des Frühjahrs das Infektionsgeschehen tatsächlich so stark zurückgedrängt hatte wie behauptet. Hier zeigt sich auch die eigentliche Spaltung des Landes: in diejenigen im Politikbetrieb, in den öffentlich-rechtlichen Medien, im öffentlichen Dienst, deren Einkommen auch in der Corona-Krise pünktlich aufs Konto kommt, selbst nach einem dritten oder vierten Lockdown, und in die kleineren Unternehmern und Selbstständigen, die ihr Geld selbst erwirtschaften müssen. Die beschlossenen Maßnahmen „sind für uns alle schmerzhaft“, so Dreyer. Meint sie das wirklich ernst?
Corona trifft die Staaten weltweit. Und so könnte man sich auch einmal in der Welt umschauen, mit welchen Rezepten man anderswo dem Virus zu Leibe rückt und wie man die Lasten verteilt. Nicht alles ist grundfalsch, nur weil es nicht in Deutschland erfunden oder erdacht wurde. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden die schlimmsten Corona-Langfristschäden an der Demokratie, der Marktwirtschaft, an den Bürgerrechten entstehen.
Am Ende der Pandemie könnte in Deutschland und EU-Europa eine fürsorgliche Autokratie stehen, in der nicht die Freiheitseinschränkung begründet werden muss – sondern die Freiheit. Das hat dann aber gar nichts mit dem Virus, sondern allein mit den Politikern zu tun. Von der EU-Kommission über die EZB, der Bundes- bis zu den Landesregierungen finden viele Entscheidungsträger Geschmack daran, ihre Pläne ohne lästige Parlamente durchzusetzen, Regeln zu umgehen und renitente Bürger als Begriffsstutzige herunterzuputzen.
Die großen Medien müssten eigentlich als vierte Gewalt gegenhalten. Stattdessen fällt ihre Kritik oft sacht aus, das Regierungslob dafür dröhnend. Merkels Lockdown für Hotels, Restaurants und Kultur, so befand etwa die „Frankfurter Allgemeine“, sei zwar „ungerecht, aber praktisch“. Auf den Münchner Medientagen erklärte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, die Medien – zumindest die meisten – seien „sehr systemrelevant“, und stellte weitere Staatshilfen in Aussicht, wenn Werbeerlöse wegen Corona wegbrächen. Ungerecht, aber praktisch.
Das Virus des Autoritären setzt sich fest. Dagegen hilft nur ein Mittel. Selbst- bewusste Bürger müssen frei nach Merkel sagen: „Du hast dir den falschen Wirt ausgesucht.“ Sie haben es selbst in der Hand.