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Man kann zwar alles sagen, wird aber nicht mehr differenziert gehört

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki über die Meinungsfreiheit und die Gefahren, die ihr drohen. Im Interview mit Sebastian Sasse plädiert er für mehr Mut zum Meinungsstreit und sieht im Parlament das Vorbild.

Sebastian Sasse: Herr Kubicki, der Meinungsstreit ist ein Kernelement der Demokratie. Sie machen sich Sorgen um die Meinungsfreiheit in Deutschland. Warum?

Wolfgang Kubicki: Ich kann mich an keine Phase in der Geschichte der Bundesrepublik erinnern, in der es um die Freiheit der Meinung so schlecht bestellt war wie heute. Aber das ist nicht so, weil wir nicht alles sagen dürften. Heute hat jeder vor allem durch die sozialen Medien die Möglichkeit, so viel öffentliche Bühne für seine geistigen Ergüsse zu haben wie er möchte. Und seien sie noch so simpel, ekelhaft oder dumm. Es ist um die Meinungsfreiheit heute deshalb so schlecht bestellt, weil die Offenheit und Vorurteilsfreiheit für andere Meinungen noch nie so schwach ausgeprägt waren. Man kann zwar alles sagen, wird aber nicht mehr differenziert gehört.

„Man kann zwar alles sagen, wird
aber nicht mehr differenziert gehört“

Aktuell geht wegen der Präsidentenwahl unser Blick in die USA. Droht das Meinungsklima dort auch uns?

In Deutschland gibt es noch nicht diese zwei festen Blöcke, die sich gegenüberstehen und deren Anhänger nicht mehr miteinander sprechen können und sich nicht mehr zuhören. Aber auch hier kommt es immer öfter vor, dass in der Debatte nicht die vorgetragene Meinung zählt, sondern die Person und welcher politischen Richtung sie zugerechnet wird. Dazu kommt ein anderer Aspekt: Es gibt den Trend, Meinungen, die von einem bestimmten Pfad abweichen, abzudrängen und aus dem gesellschaftlichen Konsens heraus zu definieren. Das ist aber undemokratisch, weil das Hauptziel unserer Demokratie die friedliche Integration von Meinungen und Interessen ist, nicht deren Ausgrenzung.

Warum ist der Meinungsstreit aus Ihrer Sicht so wichtig?

Für Fairness und gegenseitige Achtung
Das gefährliche Spiel mit der Demokratie
Ohne den produktiven Meinungsstreit gibt es letztlich keinen Fortschritt in Erkenntnissen. Das bedeutet allerdings auch: Im Meinungsstreit müssen Tatsachen, die feststehen, berücksichtigt werden.

Es wird allerorten betont, wie stabil unsere Demokratie sei. Wieso fällt es uns dann aber offenbar so schwer, diesen Meinungsstreit zu führen?

„Immer mehr gilt: Bist du auf der richtigen Seite?
Und nicht: Hast du das bessere Argument?“

Unsere Demokratie ist grundsätzlich auch sehr gefestigt. Es besteht ja etwa keine Gefahr, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird oder der Staat Zensur ausübt. Das Problem geht eher von den einzelnen Diskursteilnehmern aus. Hier gilt immer mehr: Bist du auf der richtigen Seite? Und nicht: Hast du das bessere Argument? Möglicherweise ist diese Entwicklung auch der Tatsache geschuldet, dass die Bundeskanzlerin gerne davon gesprochen hat, diese oder jene politische Entscheidung sei alternativlos. Es ist aber nichts alternativlos. Noch ein Beispiel: Als Alexander Gauland sagte, die frühere Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, solle in Anatolien „entsorgt werden“, habe ich das kritisiert und gesagt, so eine Aussage verstoße gegen die Menschenwürde. Dafür habe ich große Zustimmung im Bundestag erhalten. Als vor einigen Monaten eine Journalistin der taz schrieb, Polizisten gehörten auf den Müll, habe ich ebenfalls dagegen protestiert. Die Folge war ein Shitstorm bei Facebook – im Grunde für dieselbe Aussage. Hier wird also von vielen bei der taz-Journalistin mit einem anderen Maß gemessen als beim AfD-Vorsitzenden.

Sie sind Bundestagsvizepräsident. Müsste das Parlament nicht ein Vorbild für die Debattenkultur im Land sein?

Ja, müsste es. Das Parlament ist es aber aktuell leider nur eingeschränkt. Das liegt etwa auch daran, dass es an freier Rede mangelt und manche Abgeordnete nur das ablesen, was ihnen ihre Referenten aufgeschrieben haben. So findet aber keine sinnvolle Debatte statt. Als Bundestagsvizepräsident bemühe ich mich darum, einen kollegialen Umgang zwischen allen Abgeordneten zu fördern. Dazu gehört auch die Erkenntnis: Nicht alle Argumente, die von der politischen Konkurrenz vorgetragen werden, sind automatisch falsch. Man muss sich schon inhaltlich mit ihnen auseinandersetzen.

Sie sehen vor allem die Art und Weise, wie in den sozialen Medien kommuniziert wird, skeptisch. Für die Mehrheit der jüngeren Generation ist diese Kommunikation mittlerweile selbstverständlich. Sie kennen nichts anderes mehr. Wie soll eine Lösung aussehen?

„Es geht also nicht darum, andere durch
Argumente zu überzeugen, sondern darum,
seine richtige Haltung zu dokumentieren“

Verteidiger der Meinungsfreiheit
Lonesome Kubicki und der schwindende Kern der FDP
Meine Generation ist durch die großen Parlamentsdebatten in den 60er und 70er Jahren politisiert worden. Denken Sie an Wehner oder Strauß. Das hat man sich im Fernsehen angeschaut, auch wenn man nicht mit der Meinung des Redners einverstanden war. Heute bewegen sich die Leute in bestimmten Blasen. Hier treffen sie nur auf Leute, die ihre Haltung mehr oder weniger teilen. Das zweite Problem: Diese social community wird mit der wirklichen Welt gleichgesetzt. Das Ziel besteht darin, Postings in den Netzwerken abzusetzen, mit denen man vor allem in der eigenen Community reüssiert. Es geht also nicht darum, andere durch Argumente zu überzeugen, sondern darum, seine richtige Haltung zu dokumentieren. In dieser Blase fühlt man sich wohl und sieht gar nicht die Notwendigkeit, sich mit anderen Meinungen inhaltlich auseinanderzusetzen. Ich schreibe zum Beispiel bei Facebook immer relativ lange Texte. Da haben auch schon Fraktionskollegen, die sich mit den sozialen Medien besser auskennen, zu mir gesagt, solche langen Texte würden nicht gelesen. Ich mach es trotzdem.

Das klingt ziemlich pessimistisch.

Gar nicht. Wer will mich daran hindern, in der analogen Welt die Auseinandersetzung zu suchen? Wer will mich daran hindern, mit AfD-Politikern zu diskutieren? Oder mit Verschwörungstheoretikern? Bei einer der großen Corona-Demos in Berlin bin ich an einer Fußgängerampel mit einer Gruppe junger Leute ins Gespräch gekommen, die ein Transparent dabei hatte, wo „Merkel-Diktatur“ draufstand. Ich habe ihnen gesagt: „Wenn das eine Diktatur ist, warum ist denn dann eure Demo genehmigt worden?“ Solche Gespräche sind möglich.


Das Interview mit Wolfgang Kubicki führte Sebastian Sasse, Chef vom Dienst der katholischen Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur DIE TAGESPOST, wo es zuerst erschienen ist. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.


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