„Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik“, lautet der Untertitel des Buches von Michael Wolffsohn. Naiverweise könnte man eigentlich davon ausgehen, dass dieser Kampf für einen Historiker keiner zu sein bräuchte, sondern die Suche nach Fakten und die Argumentation auf ihrer Basis eine Selbstverständlichkeit wissenschaftlicher Freiheit. Aber so ist es eben nicht.
Sehr viele zeitgenössische Historiker – in Deutschland und anderswo in der freien Welt – scheinen sich jedenfalls nicht besonders für Fakten, also das, was gemacht (lateinisch „factum“) wurde, zu interessieren. Stattdessen gilt es als angesagt, die vermeintliche Konstruktion, also „Erfindung“, von „Race, Class & Gender“ und von Nationen oder gar Völkern immer wieder neu zu entlarven. „Die Erfindung der Zigeuner“ von Stefan Bogdal ist dafür ein mit Preisen ausgezeichnetes jüngeres Paradebeispiel. Am Anfang dieses historischen (De-)Konstruktivismus stehen vor allem Edward Said mit seinem „Orientalismus“ und Benedict Anderson mit seinen „Imagined Communities“ (deutsch: „Die Erfindung der Nation“).
Am Ende steht der konsequente Dekonstruktivist dann vor einem großen Nichts: Alles, was man früher für wichtig hielt, ist schließlich nur erfunden und in Diskursen von bösen Herrschsüchtigen durchgesetzt, um andere Menschen zu diskriminieren und auszubeuten. Nichts ist essentiell. Der „Essentialist“ ist der Feind, der die Entlarvung der Konstruktion verhindern will. Nein, diese von Fakten befreite Geschichtsschreibung schafft nicht Erkenntnis, sondern Desorientierung und Ratlosigkeit.
Warum diese Vorrede? Weil Michael Wolffsohn, bis 2012 Professor an der Universität der Bundeswehr in München, eben nicht zu dieser Gilde gehört, die zwar immer neue Lehrstühle erobert, aber deren Bücher niemand lesen und deren Theoreme niemand außerhalb der eigenen Kreise nachvollziehen kann. Der vielfach preisgekrönte Historiker jüdischer Herkunft hat mit „Tacheles“ eine Sammlung von zum Teil bereits veröffentlichten Aufsätzen und Vorträgen vorgelegt, die die ganze Bandbreite dieses Gelehrten zeigen und erfüllen, was er sich selbst im Vorwort als Ziel aufgibt: „Wider die Fachidiotie“. Hier schreibt einer, der sich nicht auf enge Spezialgebiete zurückziehen und vor allem nicht nur zu Fachkollegen sprechen will. Wolffsohn kann, was viele zeitgenössische Historiker nicht können: über Geschichte populär und lehrreich schreiben.
Die Themen dieser 20 Aufsätze reichen von der Geschichte der Hohenzollern-Dynastie bis zum Holocaust-Mahnmal, von der SPD zu Judas als Namensgeber der Juden und von Willy Brandt bis zum Tod als vermeintlichem Tabu unserer Gesellschaft. Sie sind geordnet nach fünf Kategorien, die ein Panorama des Forschens und des Denkens von Wolffsohn geben: „Abendländische Geschichte und deutsches Gedächtnis“, „Von Menschen und Übermenschen“, „Zerrbilder, Realbilder – Über das Judentum“, „Ethik und Gewalt – Militär“, „Von fundamentalen und letzten Dingen“.
Drei der 20 Aufsätze seien herausgehoben (jeder der 17 anderen hätte es ebenso verdient):
Immer wieder sind das Judentum und insbesondere die Geschichte der Juden in Deutschland und ihre Beziehung zu den nichtjüdischen Deutschen Wolffsohns Thema. „Du sollst Dir kein Bildnis machen – Anne Frank und andere Juden“ heißt ein Aufsatz, in dem er das Mädchen Anne Frank, das 1945 in Bergen-Belsen sterben musste, von der „Märchen-Anne“ unterscheidet, die „nicht gestorben“ ist – und das Selbstverständnis der Juden vor und nach der Shoah von dem der nicht-jüdischen Deutschen.
In den Jahren vor 1933 hatten sich emanzipierte, assimilierte, bürgerliche Juden wie Wolffsohns Familie und die von Anne Frank gerade von dem Jahrhunderte alten Selbstbild der Juden – „Wir waren, sind und bleiben Opfer“ – gelöst. Viele übersahen deshalb die Gefahren zunächst. Doch Anne Franks Tagebuch ist auch ein Zeugnis dafür, wie dieser Prozess sich wieder umkehrte: „Das von Generation zu Generation bis Mitte des 19. Jahrhunderts in der jüdischen Tradition (wörtlich) ‚Weitergegebene‘ und von den meisten deutschen Juden seitdem Verworfene wurde durch Selbst-Erlebtes alt-neue Erfahrung: ‚Juden als Opfer‘. Dem jüdischen Traditionsbruch und dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch folgte die Rückkehr der (meisten) Juden zur Tradition jüdischer Weltsicht. Wer sich als Nichtjude darüber beklagt, befrage sich nach den Ursachen.“
Nie wieder! sagen beide, Juden und nichtjüdische Deutsche nach 1945. Aber beide fügen eine Winzigkeit hinzu, schreibt Wolffsohn, „und diese Winzigkeit ist riesig. Sie kennzeichnet den gegenwartsrelevanten und vergangenheitsbedingten Gegensatz zwischen ‚den‘ Nachkriegsjuden und ‚den‘ Nachkriegsdeutschen. Diese sagen nämlich: ‚Nie wieder Täter!‘ Jene, ‚die‘ Nachkriegsjuden, sagen wie Märchen-Anne Frank, ‚Nie wieder Opfer!‘ … und können einander nicht finden, nicht im heutigen politischen Alltag finden.“ Denn: „Mit der toten Mädchen-Anne tut sich der deutsche Michel erheblich leichter als mit der überlebenden Märchen-Anne der Gegenwart. Über Mädchen-Anne wird geweint, über Märchen-Anne wuchtvoll gewütet.“
Wolffsohn stellt sich die Frage: „Ist die Goldschicht unserer Freiheit dünner, als uns scheint?“ Er antwortet nicht unmittelbar mit ja, sondern so: „Große, grundsätzliche Sorgen plagen mich“. Sorgen vor dem „Duckmäusertum“, das „Politik plus Medien“ schaffen, wenn sie den „Einen“, der sich die Freiheit nimmt, anders zu sprechen als sie (Wolffsohn hat hier nachträglich die Namen Sarrazin und Maaßen eingefügt), „tatsächlich aber das Volk mit Parolen und Pädagogik“ bewerfen.
Die Sorgen macht sich Wolffsohn nicht allein – aber Hoffnung hat er den sich Sorgenden kaum anzubieten. „Der auch mich erschreckende, niederschmetternde Befund lautet: Die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Mehrheit sind auch und sogar unter den Rahmenbedingungen der Freiheit unseres Grundgesetzes gefährdet.“
Michael Wolffsohn, Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik. Herder Verlag, 320 Seiten, 26,00 €