Tichys Einblick

Forscher warnen: Lockdown belastet depressive Menschen sehr stark

Jeder zweite Patient erlebt massive Einschränkungen. In Berlin steigen Suizidversuche stark an.

imago images / Stefan Zeitz

Nach einer Umfrage der Deutschen Depressionshilfe leidet jeder zweite an Depression Erkrankte seit dem ersten Lockdown unter massive Einschränkungen in der Behandlung seiner Erkrankung. Diese Ergebnisse sind vor allem wegen des zweiten Lockdowns brisant – zumal Politiker darüber spekulieren, ihn bis in den Dezember auszudehnen. Zwar finden Telefon- und Videosprechstunden und Online-Beratungsangebote mehr Akzeptanz als früher. Trotzdem, so das „Deutschland-Barometer Depression“ der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, sei die Behandlungsqualität für Depressive durch die Corona-Maßnahmen insgesamt stark gesunken. Depressive, so zeigen die Daten, leiden außerdem deutlich stärker unter Lockdown und Kontaktbeschränkungen als psychisch Gesunde. Für das „Deutschland-Barometer Depression“ befragten die Mitarbeiter der Depressionshilfe 5178 Personen zwischen 18 und 69 Jahren im Juni und Juli 2020.

Fast jeder zweite Betroffene (48 Prozent) berichtet in dieser Befragung von ausgefallenen Behandlungsterminen beim Facharzt oder Psychotherapeuten während des Lockdowns. Jeder zehnte an Depression erkrankte Befragte erlebte, dass sein geplanter Klinikaufenthalt nicht stattfinden konnte. Außerdem führte die Ansteckungsangst bei 13 Prozent der Betroffenen dazu, dass sie von sich aus Behandlungstermine abgesagten. „Depression ist eine schwere, oft lebensbedrohliche und dringend behandlungsbedürftige Erkrankung“, so der Vorsitzende der Deutschen Depressionshilfe Ulrich Hegerl. „Hochgerechnet auf die Bevölkerung in Deutschland haben mehr als zwei Millionen depressiv erkrankte Menschen eine Einschränkung ihrer medizinischen Versorgung mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen durch die Corona-Maßnahmen erlebt. Nur bei Beachtung dieser negativen Folgen kann die richtige Balance gefunden werden – eine Balance zwischen Leid und Tod, die durch die Corona-Maßnahmen einerseits möglicherweise verhindert und andererseits dadurch konkret verursacht werden.“ Hegerl hatte Politiker schon im Frühjahr davor gewarnt, sich einseitig auf die Eindämmung von Covid-19-Infektionen zu konzentrieren, und dabei negative Gesundheitsfolgen auf anderen Gebieten zu verdrängen.

Die Untersuchung der Deutschen Depressionshilfe zeigt auch deutlich, dass Menschen mit Depression stärker unter den Folgen der Corona-Maßnahmen leiden als die Allgemeinbevölkerung. Depressiv Erkrankte hatten demnach zwar nicht mehr Angst, sich mit dem Corona-Virus anzustecken als die Allgemeinbevölkerung (43Prozent versus 42 Prozent). Sie empfanden den Lockdown allerdings im Vergleich zur Gesamtbevölkerung als deutlich belastender (74 versus 59Prozent). Von der psychischen Krankheit Betroffene nehmen die fehlende Tagesstruktur fast doppelt so häufig negativ wahr wie die Allgemeinbevölkerung (75 versus 39 Prozent). In der häuslichen Isolation blieben depressiv Erkrankte zudem deutlich häufiger tagsüber im Bett als die Allgemeinbevölkerung (48 versus 21 Prozent). „Menschen in einer Depression sind hoffnungslos und erschöpft. Eine fehlende Tagesstruktur erhöht das Risiko, dass sich Betroffene grübelnd ins Bett zurückziehen. Lange Bettzeiten können die Depression jedoch weiter verstärken. Ein Teufelskreis beginnt“, so Depressionsforscher Ulrich Hegerl.

Während die Allgemeinbevölkerung (58 Prozent) dem veränderten Leben in der Corona-Krise auch Positives abgewinnen kann (beispielsweise den Frühling bewusster erleben), war dies bei depressiv Erkrankten weniger der Fall (38 Prozent). Auch Wochen nach dem Lockdown fühlen sich Betroffene durch die Situation belastet. Im Juli 2020 gaben 68 Prozent der depressiv Erkrankten und nur 36 Prozent der Allgemeinbevölkerung an, ihre Situation als bedrückend zu empfinden.
Als positiv bewerten es die Depressionsforscher, dass Telefon- und Video-Sprechstunden eine gute Akzeptanz finden: 82 beziehungsweise 85 Prozent bewerten sie positiv.

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Offenbar steigen durch die Corona-Maßnahmen und ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen Suizidversuche stark an. Der parteilose Berliner Abgeordnete Marcel Luthe fragte nach den Einsatzcodes von Rettungseinsätzen der Berliner Feuerwehr. Nach Angaben der Senatsverwaltung verzeichnete die Euinsatzkräfte ab April 2020 einen sprunghaften Anstieg von Selbsttötungsversuchen durch Erhängen. Zu dem Einsatzcode 25D03 – „Beinahe-Strangulierung/Erhängen, jetzt wach mit Atembeschwerden“ und Unterformen dieser Einsatzart gab es in Berlin im Jahr 2020 allein bis Oktober 294 Fälle. Zum Vergleich: im gesamten Jahr 2019 lag die Zahl dieser Einsätze bei drei, im Jahr 2018 bei sieben.

„Jeder einzelne dieser Fälle ist das Ergebnis einer tiefen Verzweiflung“, so Luthe. „Woher diese rührt, und weshalb es einen derart immensen Anstieg gibt, muss der Senat aufklären und die Ursachen, die in vielen Fällen Menschenleben kosten, sofort abstellen.“


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.

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