Schon vor der Einrichtung der Behörde gab es heftige Widerstände in West und Ost. Die damalige Bonner Regierung unter Helmut Kohl wollte die Akten der Stasi eigentlich für immer wegsperren. Doch die Proteste der Ex-DDR-Bürgerrechtler waren so stark, dass schließlich eine eigene Behörde installiert wurde, die sich um die Dokumente der SED-Terrorherrschaft kümmern sollte. Mit vollem Namen: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Bekannt wurde die Behörde schließlich unter dem Namen ihres ersten Leiters, des späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck.
Der laute Protest von damals, unmittelbar nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft, ist heute weitgehend verstummt, die Behörde soll abgewickelt werden. »Geschichte lässt sich nicht abwickeln!« So heißt es immer wieder, wenn es um die Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde geht. Schon seit Jahren wird darüber diskutiert, was mit Behörde und Akten geschehen soll.
Eine Anhörung fand Anfang November im Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages statt. Nach Ansicht des derzeitigen Leiters der Behörde, Roland Jahn, sei gewährleistet, dass die Akten als Teil des „kulturellen Gedächtnisses der Nation“ sowie der Zugang und die Erforschung unter den speziellen Bedingungen des Stasi-Unterlagengesetzes erhalten blieben. Ebenso werde die regionale Verankerung durch den Erhalt der Außenstellen der Behörde gewährleistet.
»Rettet die Gauck-Behörde!« So rief dagegen Hubertus Knabe schon vor einem Jahr. Die Auflösung der Stasi-Unterlagenbehörde hält der Historiker für unverantwortlich. »Sie zerstört die größte Einrichtung zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte und wird die Arbeit von Historikern und Journalisten über Jahre hinweg lähmen.« Ihm erschließt sich nicht, wie man »etwas abwickelt, um es dauerhaft zu sichern«.
»Kein Bundesbeauftragter wird dann mehr den gesetzlichen Auftrag haben, die Öffentlichkeit über das Wirken der Stasi zu informieren. Die Zahl der Außenstellen in den ostdeutschen Ländern wird mehr als halbiert werden, was erhebliche Folgen für die dortigen Bildungsprogramme haben dürfte. Die geplante Verschmelzung wird beide Archive zudem über Jahre hinweg mit sich selbst beschäftigen – und entsprechend lähmen.«
Knabe weiter: »Es wird schwieriger, die Akten einzusehen und der Bildungsauftrag fällt weg.«
Gauck selbst spielte die Bedeutung herunter und behauptete später vor dem Bundestag, es seien nur 15 Stasi-Mitarbeiter dabei gewesen. Falsch war außerdem, dass sich im eigenen Sicherheitsdienst keine ehemaligen Stasi-Mitarbeiter befinden würden, wie im ersten Tätigkeitsbericht der Gauck-Behörde zu lesen war.
Es handelt sich um gewaltige Mengen von Dokumenten: 111 km Akten, 41 Millionen Karteikarten, 1,8 Millionen Fotos, 2870 Filme sowie 23.000 Tonbandaufnahmen – die Hinterlassenschaften der Stasi sind fast unüberschaubar. Die Materialberge zeugen davon, in welch ungeheurem Ausmaß die SED und ihre Truppen die Menschen im ehemaligen Ostblock bespitzelt und drangsaliert haben. Umso unerträglicher erscheint es für ihre Opfer, dass deren Nachfahren wieder im Bundestag sitzen und lauthals die Deutungshoheit über die DDR-Geschichte übernehmen wollen.
Der letzte Bundestag hatte die Auflösung der Stasi-Untersuchungsbehörde und die Eingliederung der Akten in das Bundesarchiv beschlossen. »Durch den mutigen Einsatz von Bürgerinnen und Bürgern, die gemeinsam die Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) besetzten, konnte die weitere Vernichtung der Unterlagen verhindert werden«, heißt es im Gesetzentwurf, in dem ausdrücklich die Bedeutung betont wird: »Auch 30 Jahre später bleibt dieser Archivbestand, der in seiner Gesamtschau das Vorgehen des Ministeriums für Staatssicherheit dokumentiert, von großer Bedeutung. Er belegt, wie Bürgerinnen und Bürger ausgespäht und bespitzelt, verfolgt und oftmals schweren Repressionen ausgesetzt wurden und stellt damit eine wesentliche Grundlage für die Aufarbeitung des SED-Unrechts bereit. Es ist daher für die Zukunft die dauerhafte Sicherung der Stasi-Unterlagen zu gewährleisten, um sie auch für spätere Generationen zu bewahren und nutzbar machen zu können.«
Die bisherige Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde soll nach dem Gesetzentwurf ebenfalls wegfallen. Obwohl noch längst nicht alle Akten aufbereitet wurden.
Das wird vielen zupasskommen – sowohl im Osten als auch im Westen. Denn weitgehend ungeklärt sind etwa die teilweise intensiven Verstrickungen westlicher Politiker mit der Stasi. Da liegen noch viele Leichen im Keller. Schon der ehemalige DDR-Geheimdienstchef, Mischa Wolf, rühmte sich bekanntlich, die Stasi sei früher in Fraktionsstärke im Westen vertreten gewesen.
Das Mantra der SED in Ostberlin: »In Westberlin darf nichts passieren, was wir nicht wissen. Wir müssen einen Zustand erreichen, wo in Westberlin jeder Agent damit rechnen muss, dass er in kurzer Zeit bei uns ist, ein Gefühl der Unsicherheit und drittens wir müssen bei den Agenten in Westberlin eine solche Psychose erzeugen, dass sie auf verlorenem Posten stehen, und auch bei den Angehörigen des Staatsapparates in Westberlin, der Senatsverwaltung usw.«
Wie Knabe weiter ausführt, verstärkte die DDR ihren Kampf im Westen in den achtziger Jahren parallel mit ihrem politischen und ökonomischen Niedergang: »Zugleich unterwanderte man systematisch Parteien, Organisationen und Bewegungen, um dort im Sinne der SED Einfluss zu nehmen. Allein die BV Berlin betrieb 1984 die namentliche Aufklärung von ca. 800 Westberliner Politprominenten«.
Journalisten und Schriftsteller im Westen wurden von der DDR mitfinanziert; Verlage wie der ehemalige Pahl-Rugenstein Verlag (auch als „Rubelschein“ verballhornt) waren von Ostberlins Geldgaben abhängig. Er ging pleite, als die Zahlungen nach dem Zusammenbruch der DDR ausblieben.
Neben dem Abhören der Gespräche im Westen infiltrierten Agenten der Hauptabteilung XX Parteien, Vereine und Verbände, bis hin zur damaligen »Aktion Sühnezeichen« in Westberlin und sogar den »Zeugen Jehovas«.
Knabe: »Für die Aufklärung der Umweltschutzorganisation »Greenpeace« war die Hauptabteilung XVIII zuständig, während die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) von der Zentralen Koordinierungsgruppe bekämpft wurde.«
Die Affäre um Kanzleramtsspion Günter Guillaume im unmittelbaren Umfeld des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt war nur die Spitze des Eisbergs. Schon Jahre zuvor, im März 1959, ließ der oberste DDR-Geheimdienstler Mischa Wolf den Schriftsetzer Georg Angerer in Leipzig verhaften, einen Bekannten Brandts, der nach monatelangem Gefängnis Erklärungen über angebliche frühere Gestapo-Verbindungen des späteren Bundeskanzlers abgeben sollte. Das sollte das politische Todesurteil Brandts werden, hoffte Ost-Berlin. Wolf behauptete später: »Vielleicht der einzige Haftbeschluß, den ich je unterzeichnet habe.«
Gegen fast alle führenden Politiker der CDU zettelte das Ministerium für Staatssicherheit Kampagnen mit Vorwürfen über NS-Belastung an. Ebenso wurden die Anti-Raketenproteste und Friedensbewegung in Westdeutschland unterstützt. Der CDU-Abgeordnete Julius Steiner wurde 1972 mit 50.000 DM dazu gebracht, dass er nicht mit seiner Fraktion dem konstruktiven Misstrauensantrag gegen Willy Brandt zustimmte. Ein »Konzept für aktive Maßnahmen zur Förderung der Friedensbewegung in der BRD« wurde in der HVA ausgearbeitet, das auch eine »zentrale Steuerung des inoffiziellen Netzes« im Westen durch eine spezielle Leitstelle im MfS vorsah. Die »Generäle für den Frieden« wurden mit 100.000 DM unterstützt.
Die Marschrichtung gab Erich Mielke 1983 vor: »Notwendig: Stärkere Unterstützung der Bewegung gegen Stationierung in westlichen Ländern, besonders BRD, durch geeignete, wirksame aktive Maßnahmen, unter Nutzung der Mittel und Möglichkeiten des MfS. … Zunehmenden Differenzierungsprozess nutzen. Ihn fördern! Kräfte in der SPD unterstützen, die Parteiführung drängen, endlich klar Stellung zu beziehen … Die SPD darf nicht länger lavieren. Bei Kontakten mit Grünen konzentrieren auf Berührungspunkte im Kampf um Friedenssicherung. Voraussetzung für effektive Maßnahmen: Noch bessere Analyse, auf welche Kräfte man sich stützen kann (Funktionäre, Landesverbände, Parteibasis).«
Zersetzen – das war eine Hauptaufgabe der Stasi. Beispiel: Das Telefon von Roland Jahn, dem ausgebürgerten und abgeschobenen DDR-Dissidenten und heutigen Leiter der Stasiunterlagenbehörde, wurde rund um die Uhr abgehört, die Gespräche in seinem Stammcafé konnten mithilfe einer Wanze abgehört werden. Zusätzlich wurde das Gerücht verbreitet, der in Westberlin lebende Bürgerrechtler betreibe sein Engagement nur aus reiner Geldgier.
Es war ein umfassender Informationsfluss von West nach Ost, 1988 kam allein die berüchtigte Hauptverwaltung Aufklärung HVA auf knapp 10.000 konspirativ beschaffte Informationen, von denen rund ein Viertel als wertvoll oder sogar sehr wertvoll eingestuft wurde.
Knabe: »In einem Kurzbericht des Sektors „Wissenschaft und Technik“ lautete der erste Punkt einer langen Liste über die wichtigen Arbeitsergebnisse der wissenschaftlich-technischen Aufklärung im ersten Halbjahr 1971 beispielsweise: „Die wesentlichen Nachfolgetypen der Starfighter (geplante und in der Planungsdiskussion befindliche) konnten vollständig oder in wichtigen Teilen dokumentiert werden“.«
Mischa Wolf lobte 1969 die Leistungen der HV A: »Die Abteilung 1 konnte in zwei Hauptobjekten (BMZ, BMWI)(= Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Bundesministerium für Wirtschaft) erstmalig Quellen schaffen, … zwei Vorgänge, Sekretärinnen in CDU-Spitze, befinden sich vor Abschluss der Werbung. Zwei Vorgänge, MdB der SPD, konnten von der politischen Kontaktierung in die Phase der Abschöpfung politischer Informationen übergeleitet werden. Ein IM wurde in die Friedrich Ebert Stiftung eingeschleust. … Die Abteilung vier konnte einen IM in ein Hauptobjekt (BMVtg. Fü1) einschleusen.« Damit meinte Wolf das Verteidigungsministerium.
Kein Wunder also, dass sich auch der Westen eher zurückhaltend an die Auswertung der Risiken der riesigen Stasiunterlagen machte. Doch die Aufarbeitung des Wirkens der Stasi sei eine gesamtdeutsche Angelegenheit, wie Roland Jahn, der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde betont.
Viel zu tun also noch, und es ist alles andere als gleichgültig, wer die Lufthoheit über die Auswertung der Akten hat: die Täter von früher oder die Opfer. Mit Hubertus Knabe soll einer der wenigen, der heute noch unermüdlich dokumentiert, wo Macht und Geld der alten Seilschaften geblieben sind, mundtot gemacht werden.
Jetzt sollte auch die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und das Stasi-Archiv sang- und klanglos beerdigt werden. Neben Bürgerrechtlern ist es nur noch eine Partei, die im Wesentlichen laut die Stimme erhebt. Es blieb dem Abgeordneten Götz Frömming (AfD) vorbehalten, im Bundestag auf die starken Kräfte hinzuweisen, die den Themen Stasi und DDR verhindern wollen. »Denn die Täter sind ja noch unter uns. Sie sitzen in Aufsichtsräten, in Stiftungen, in den Schulen und auch in den Parlamenten«, rief der AfD-Abgeordnete. Frömming zitierte den verstorbenen Publizisten Ralph Giordano, der in Bezug auf die unterbliebene Auseinandersetzung mit den NS-Tätern von der zweiten Schuld sprach: »Auch die Union hat allen Lippenbekenntnissen zum Trotz längst ihren Frieden mit den Tätern gemacht … Heute flirten Sie mit den Grünen, morgen gehen sie mit ihnen ins Bett, und übermorgen wachen sie neben den Linken auf.« Frömming wunderte es deshalb nicht, dass die CDU von einigen Ausnahmen abgesehen kaum einen Finger mehr gerührt hat, als der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, aus dem Amt entfernt wurde.