«Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf» (homo homini lupus) sagt Hobbes; und damit sie sich nicht gegenseitig zerreißen, müssen sie allesamt ihre wölfische Gewalt auf eine gemeinschaftliche Institution, genannt «Staat» übertragen, der nun als der große Wolf all ihre Macht in sich vereinigt und sie, die zu Schafen gewordenen Einzeltiere, genannt «Bürger», überwacht, um ihre innere Wolfsnatur durch allgemein geltende Rechtsverhältnisse zu zähmen.
In welcher Variation auch immer die neuzeitliche Vertragstheorie des Staates auftrat, eines ist allen gemeinsam: Die Macht des Staates ist eine direkte Funktion der Ohnmacht der Einzelnen, mit ihrer wechselseitigen Gefährdung umzugehen, also ihrer Schutzbedürftigkeit. Alle Staatsmacht legitimiert sich durch diesen Fehl und Mangel; und je gefährdeter und darum schutzbedürftiger sich die Einzelnen selbst erscheinen, desto größer die Machtübertragung an die staatliche Allgemeinheit, desto größer aber auch die Selbstentmündigung des Einzelnen, mit den Gefährdungen des Lebens autonom und selbständig umzugehen.
In der Entwicklung des modernen Staates zum Fürsorgestaat qua Universalversicherung gegen alle Unbill erodiert die freie Kraft des Selbstseins, mit Gegensätzen umzugehen, Herausforderungen durchzustehen und daran zu wachsen. Der Mensch wird zunehmend verletzlicher, schutzbedürftiger – und veräußert seine Ohnmacht an die Therapie oder die politische Ideologie, die ein gegensatzloses Heil im universellen Guten verspricht.
Wo sich die Legitimation der Regierungsmacht nicht mehr aus handgreiflichen inneren und äußeren Gefahren ergibt, müssen andere Gefahrenpotentiale – ob real oder imaginär – in Szene gesetzt werden: Es ist der geschichtliche Augenblick der Heranziehung von Infektionskrankheiten als Quelle staatlicher Selbstermächtigung, wie sie nach den gescheiterten Versuchen der Vogelgrippe (2006), dann der Schweinegrippe (2009) auch von der Rockefeller Stiftung (2010) theoretisch durchgespielt wurde und nun endlich: mit der Corona-Krise 2020 – auch Erfolg verspricht. Mit der neuesten Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (IsFG), dem Entwurf eines 3. Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Drucksache 19/23944 vom 3.11. 2020), das am Freitag, den 6.11. in erster Lesung dem Bundestag vorlag, soll dem bisherigen «Verordnungsregime» auch nachträglich eine gesetzliche Grundlage gegeben werden, die eine massive Einschränkung von Grundrechten (Artikel 7) nach dem neu eingefügten § 28 a vorsieht und der alleinigen Entscheidungsgewalt des Ge-sundheitsministers untersteht.
Der Schutz vor Infektionen, die zum allgemeinen Lebensrisiko gehören, wird damit erstmals zur Legitimation einer umfassenden Aufhebung von Grundrechten herangezogen (der Freiheit der Person, der Versammlungsfreiheit, der Freizügigkeit, der Unverletzlichkeit der Wohnung), die als Willkürakt der Regierung ohne zureichende sachliche Begründung verhängt werden kann. Entsprechend vermerkt die Stellungnahme des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages: «Der Deutsche Bundestag ist mithin frei, (jeweils) eigene Kriterien für die Ausrufung der epidemischen Lage zugrunde zu legen. Die in § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG angesprochenen „Voraussetzungen für ihre Feststellung“, nach deren Wegfall die epidemische Lage aufzuheben wäre, sind nicht durch weitere Merkmale unterlegt. Der Beschluss des Bundestages ist also maßgebend, unabhängig davon, ob tatsächlich eine epidemische Lage angenommen werden kann». Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen!
Das Schema sachlicher Unbestimmtheit und damit eines eklatanten Rationalitätsdefizites ist nicht neu; es folgt ganz dem Vorbild der von der WHO schon im Vorfeld der Schweinegrippe vollzogenen Aufweichung des Pandemiebegriffs, der nun nicht mehr die Schwere und Letalität («eine enorme Zahl von Todes- und Erkrankungsfällen»), sondern nur noch die vermutete (!) Infektionsgefahr beinhaltet.
Aber es liegt auf der Hand, daßssnur die Schwere der festgestellten klinischen Verläufe und ihre Letalitätsrate den Alarmruf einer «Pandemie» rechtfertigt, der von der Allgemeinheit als angstauslösendes Bedrohungsszenario verstanden wird.
Der Gesetzesentwurf widerspricht so den eigenen Begriffsbestimmungen des IsFG; und überspringt, ganz wie die veränderte Pandemiedefinition der WHO, auch die festzustellende Bedrohlichkeit einer Infektion. Sie besteht, nach dem IsFG § 2, 3a darin, dass «schwere klinische Verläufe» zu erwarten sind und die Infektion damit eine «schwere Gefahr für die Allgemeinheit» darstellt. Was bei Covid-19 außer für eine wohldefinierte Risikogruppe gerade nicht der Fall ist. Ist dann einmal unter Missachtung aller rationalen Grundlagen des IsFG eine «epidemische Lage» ausgerufen, die sich auf eine durch Massentests herbei inszenierte xte Welle beruft, dann folgt der Rest: die Aufhebung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung – wie von selbst aus der Bevollmächtigung der Regierung und ihres Gesundheitsministers.
Man würde erwarten, dass für Grundrechtseinschränkungen, die das ganze öffentliche Leben lahmlegen, besonders starke und evidenzbewährte Gründe geltend gemacht werden. Nichts davon ist der Fall – im Gegenteil, es bleibt so einfach und leicht, dass man noch nicht einmal auf die objektive Daten Rücksicht nehmen muss, die das eigene Institut, das RKI, liefert, aber politisch weisungsgebunden in jene alarmistischen Kundgebungen umkehrt, die zur massenspsychologischen Auslösung der Schutzbedürftigkeit politisch erwünscht sind.
Die ideologische Kontamination von Wissenschaft und Politik und ihre medial flächendeckende Verbreitung kommt dann als grundsätzlicher Vertrauensverlust der Bevölkerung zum Zuge, der durch keine «Faktenchecker» mehr einzufangen ist. Besonders kurios wirkt dann, wenn im Begründungsteil des Gesetzesentwurfs (S. 18 ff.) auch noch das Grundgesetz selbst bemüht und behauptet wird, die Maßnahmen der Grundrechtseinschränkungen erfolgten «in Umsetzung der Gewährleistung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit» (GG Art. 2.2.). Nun gilt aber als Rechtsgrundsatz, dass kein Grundrecht dazu mißbraucht werden darf, andere Grundrechte aufzuheben. Aber auch abgesehen davon ist es fraglich, ob der Infektionsschutz überhaupt dem «Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit» subsumiert werden kann. Denn dieses hat es in erster Linie damit zu tun, das staatliche Gewaltmonopol auf den Schutz der Allgemeinheit zu beschränken, etwa in der Bekämpfung von Gewaltverbrechen. Deren Urheber aber können dem Staate gegenüber keineswegs ein «Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit» gelten machen. «Gewährleisten» kann ein Mensch bzw. der Staat als menschliche Institution nur, worüber er verfügt, also ursächlich bestimmende Macht hat: Dazu gehört aber weder das Leben noch die körperliche Unversehrtheit oder Gesundheit, die als rein physisch-biologische Gegebenheiten weitgehend dem eigenverantwortlichen Handeln des Einzelnen überantwortet und vom Staate nur im Ausmaße seiner Möglichkeiten zu schützen sind. Sowenig es Sache des Staates ist, den Einzelnen vor Unfällen zu schützen, sowenig vor Krankheiten und Infektionen. Der Versuch, das Infektionsschutzgesetz unter das Grundgesetz Art. 2.2. zu subsumieren, könnte geradezu zynisch erscheinen angesichts der gesundheitlichen Schäden, die durch die Maßnahmen selbst bewirkt wurden und werden; nicht nur die Verschiebung von zahlreichen notwendigen Operationen (ca. 90 000 schon im Frühsommer), sondern all die Vernachlässigungen und Beeinträchtigungen der individuellen Gesundheitsfürsorge, die unzähligen Einzelnen in ihrer Lebensgestaltung und psychosozialen Existenzführung abgenötigt wurden. Ein Gesetzesentwurf, der sich in seinen Begründungen ad absurdum führt, wirkt zumindest – schamlos.
Was als Ermächtigungsgesetz für den Bundesgesundheitsminister wie eine kindliche Trotzreaktion auf die wachsende Opposition der Corona-Maßnahmen erscheint («Jetzt erst recht»!), gerät zum Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung, gegen den der Bürger nur noch sein Widerstandsrecht nach Grundgesetz Artikel 20 Absatz 4 geltend machen kann, «wenn andere Abhilfe nicht möglich ist». Diese Abhilfe aber kann aufgrund der politischen Identität von Parlamentsmehrheit und Regierung nicht aus dieser diffusen Einheit von Legislative und Exekutive qua Bundestag kommen, sondern allein von der Judikative, die damit unter dem erheblichen Erwartungsdruck ihrer Bürger steht, die grundgesetzliche Ordnung wieder herzustellen. Was geschieht, wenn sie dies nicht zustande bringt, liegt im Unwägbaren geschichtlicher Prozesse – nicht zuletzt der freien Selbstermächtigung der Bürger.