Es ist eine merkwürdige Stimmung in Deutschland 2016. Es ist Juli. Wir, der Fußballweltmeister, sind im Halbfinale an der EM gescheitert. Es war nicht unser Gegner, der uns besiegte. Wir waren es selbst. Unsere Niederlage begann mit dem Aussetzer eines unserer Besten, Bastian Schweinsteiger. Kurz vorm Tor hob er die Hände, sich zu verteidigen. Der Ball traf seine Hand. Die Angst des Fußballers führte zum Elfmeter. Griezmann schoss und traf das Tor. Griezmann tanzte den Drake-Tanz. Ob Schweinsteiger den Drake kennt? Der Drake-Tanz wird als Dad-Dance veralbert. Griezmann hat Freundin und Kind. Schweinsteiger heiratet bald. Er will nicht sagen, wo. Wahrscheinlich Mallorca. (Nachtrag: Es ist Venedig.)
Doch die ungewonnene, also: verlorene, Europameisterschaft ist natürlich nicht wirklich, was unsere Stimmung niederdrückt. Das Erschöpfungs-Aus in Frankreich ist nur stellvertretend, symptomatisch. Wir haben etwas Größeres verloren.
»Wir schaffen das«, hatte die Kanzlerin gesagt. Sie hatte wohl gemeint: Wir, also Deutschland, können den Geschundenen und Hilfesuchenden dieser Welt ein neues Zuhause bieten. Wir ahnen, einige von uns gestehen sich inzwischen sogar in Worten ein, dass wir an dieser Aufgabe scheitern werden, dass wir bereits an ihr scheitern. Merkel hat ein unmögliches Ziel gesetzt. Einem Menschen zu helfen ist moralische Pflicht. Der Welt zu helfen ist logistische Unmöglichkeit, wenn man bei seiner Hilfe die Standards deutscher Sozialarbeiter und Moralbewegter erfüllen will.
Merkels unmögliches Ziel
Merkel bezahlt nun Erdogan, um die Unmöglichkeit von Deutschland fernzuhalten. Erdogan hat eigene Standards. Und immer weniger Bewegte. Wir hören von syrischen Kindern, die in der Türkei nun für Billigstlohn arbeiten. Wir ersetzten das praktische durchs moralische Ärgernis. Das schlägt weniger auf die Wahlergebnisse. Merkel bannte die Flüchtlinge in dunkle Lager vor Europas Kanten. Das sorgt für’s paradoxe Ergebnis, dass Menschen politisch hinter Merkel stehen und sich doch elend dabei fühlen können.
Es ist, als platzte eine Seifenblase in Zeitlupe. Die Oberfläche ist zerrissen, ihre Form noch erkennbar. Wir warten, schauen zu, ahnend, wie es ausgehen wird. Ihre dünne Haut war von mehr Hoffnung und Liebe als struktureller Plausibilität zusammengehalten.
Wer ist schlimmer dran? Die zu Anfang hoffnungsfrohen, die am Bahnhof rote Rosen verteilten? Oder diejenigen, welche im Default kritisch waren, und jetzt jammern: Hätte man nur auf sie gehört! Diejenigen, die glaubten, alle Flüchtlinge seien auch wirklich Flüchtlinge, zudem von übermenschlicher Güte und konstruktivem Willen? Oder die, die schon immer Misstrauen hegten gegenüber dem Fremden?
Merkels Traum funktioniert selbst da nicht, wo er funktioniert. Grundschullehrer berichten etwa von Kindern aus »nur« armen, aber »kriegslosen« Ländern, deren Eltern auf Merkels Einladung hin nach Deutschland gekommen waren. Einige von ihnen lernten Tag und Nacht, gaben Unvorstellbares, um sich zu integrieren. Sie prügelten sich nie, sie schrieben gute Noten. Und kurz vor den Sommerferien, mitten in der EM, wurden sie abgeschoben.
Die Friedlichen werden abgeschoben
Friedliche, integrierte Familien abzuschieben geht leicht. Derweil wollen die Grünen verhindern, dass brutale männliche Gewalttäter nach Nordafrika abgeschoben werden. Das scheint falsch und das drückt die Stimmung, auch wenn die Details oft nicht in den Berliner Medien vorkommen. Subkutan spürt die Gesellschaft das. Vielleicht sind die sozialen Netzwerke schuld. Früher wusste und glaubte man eben, was die Markenjournalisten zu berichten geruhten. Eine einfache, ordentliche Welt. Heute ist der korrigierende Hinweis auf die Realität oft schneller als die staatstragende »Einordnung«.
Nun mögen notorische Optimisten einwenden: Moment, vieles läuft doch, einigermaßen! Und es wird noch besser werden! Immer besser! Nie lange schlechter! Ich habe nichts gegen Optimisten. Einige meiner besten Freunde sind Optimisten. Doch die Realität scheint die Optimisten zeitweilig in die Nähe von Delirierenden zu rücken.
Wir könnten von NRW-Gefängnissen berichten, wo Wärter schon mal Angst vor den Gefangenen haben. Wir könnten von Großkriminellen berichten, die über deutsche Gerichte nur noch lachen. Wir könnten auf jene Terroristen schauen, die unsere Welt in eine »Steinzeit mit Handys« zurückbomben wollen und auch in Deutschland schon mit dem Tod zu flirten begonnen haben. Wir könnten in die USA schauen, wo erste (vielkritisierte) Schlagzeilen vom Bürgerkrieg sprechen.
Die USA sind zwar geografisch »weit weg«. Kulturell und politisch sind sie uns nah. Merkels »wir schaffen das« war ein Echo des »yes we can« Obamas. Üblicherweise laufen deutsche Trends den Entwicklungen in den USA um viele Jahre nach. Etwas hat diese Spanne eliminiert. »Yes we can« und »wir schaffen das« zerbröckeln hüben wie drüben zeitgleich, in transatlantischer Verschränkung des öffentlichen Gemüts.
Bundeswehr-Einsatz im Innern
Ich möchte die Aufmerksamkeit auf ein Detail lenken, nämlich auf unsere bestausgestattete Bundeswehr. Die deutsche Armee (darf man »deutsche Armee« überhaupt noch sagen?) bereitet sich aktuell auf einen »Einsatz im Innern« vor. Es ist eine präventive Maßnahme. Natürlich, nur. Eigentlich bräuchte es für solche Einsätze eine Änderung des Grundgesetzes. Außer bei »schweren Unglücksfällen«.
Setzen wir den Gedanken zusammen: Deutschland bereitet sich auf »schwere Unglücksfälle« vor. Die natürlich nicht eintreten werden. Wir sind ja alles Optimisten hier. Die Bundeswehr bereitet sich darauf vor, dass die »Polizei an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit stößt«. Werden Panzer auf den Marktplätzen auffahren? Natürlich hat es nicht direkt mit Flüchtlingen zu tun. Mit offenen Grenzen, organisierter Kriminalität und Toleranz gegenüber Extremisten vielleicht schon eher. Deutschland wird regiert von einer Kanzlerin, die Land und Gesellschaft auf Verschleiß fährt.
Diese Schwere, die auf uns liegt, sie ist auch ein Gefühl der Hilflosigkeit. Wir fühlen uns ausgeliefert. Wir fühlen uns Merkel ausgeliefert, einigen ist es sogar bewusst, andere mögen das. Einige fühlen sich übermächtiger Meinungsmacht ausgeliefert.
Was tun? Verzweifeln? Resignieren? Das wäre verständlich. Menschlich sowieso. Brächte nur nichts. Vor allem würde es diese bleierne Stimmung nicht beheben.
Unsere Optionen
Einige »High Potentials« wandern still und leise aus. Von diesen kommen übrigens viele später wieder zurück, neu motiviert, an Deutschland mitzubauen.
Wir könnten auf die nächsten Wahlen hoffen, auf dass alles leichter und freier wird, wenn erstmalig Die Linke im Bund mitregiert.
Auch Wut und blinder Protest sind verständlich und menschlich. Für einige, die es via Wut und Protest in Parlamente schaffen, können Wut und Protest auch finanziell einträglich sein, eine Zeit lang zumindest. Doch es führt nirgends weiter.
Vielleicht haben die Benediktiner den Schlüssel. Ihr Motto ist bekanntlich »Ora et labora et lege«, »Bete und arbeite und lies«. Wenn wir »beten« mit »in sich gehen« übersetzen, funktioniert das Motto auch für Atheisten.
Wir werden der »Neuen Deutschen Trübsal« nicht entfliehen, indem wir nichts tun, oder bloß schimpfen, was auch nur eine ungesunde Form des Nichtstuns ist.
»Arbeiten« schlagen die Benediktiner vor. Moderne Arbeit ist Projektarbeit, also das Beginnen, Voranbringen und Abschließen von Projekten. Etwas Eigenes zu schaffen soll ungeheuer befriedigend sein. Es soll sogar manchmal die Ursache der Trübsal ganz praktisch beseitigen.
Um Einen zu paraphrasieren, von dem sich die deutsche evangelische Kirche jüngst distanzierte: Wenn ich wüsste, dass morgen Deutschland unterginge, würde ich heute ein Projekt beginnen.