Passend zur Ferienzeit bringt der SPIEGEL einen wenig originellen Urlaubstitel. Jenseits dessen ist es ein buntes, lesenswertes Heft mit unterhaltsamen Beiträgen und interessanten Informationen.
Touristen wollen Willkommenskultur
Die Titelgeschichte „Ausweitung der Angstzone“ von Dieter Bednarz und anderen ist schnell erzählt: Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer auf der Urlaubswunschliste der Deutschen in Zeiten von Terrorangst. Touristen fahren zur Entspannung nun mal lieber in Regionen, in denen sie willkommen sind und nicht dahin, wo möglicherweise Terroristen und Dschihadisten lauern. Die Abkehr zeigt das Ende eines großen Missverständnisses: Über Jahrzehnte meinten die Deutschen ein Recht darauf zu haben, mit sehr kleinem Geld sehr großen Luxus erleben zu dürfen. Einen Luxus, den man sich zuhause im Alltag in der Regel nicht leisten konnte. Es war der Kolonialismus des kleinen Mannes, der die Ferienflieger in mehr oder weniger exotische Destinationen brummen ließ. In der Fremde durfte man sich in einer Scheinwelt zugleich zuhause fühlten. Man durfte an der Welt des Naiv-Exotischen teilhaben und begegnete ihr dennoch mit der größten Vorsicht, die abgeschottete Ferienanlagen bieten. Die Welt ist nicht brüchiger geworden. Sie war es immer schon – nur die Brüche sind jetzt nicht mehr zu übersehen.
Melanie Amann und andere beschreiben im Beitrag „Die Meuterei“ anschaulich, wie die AfD sich möglicherweise in die Bedeutungslosigkeit katapultiert, ehe sie Bedeutung erlangt, wobei Frauke Petry durchaus Geschick zeigt als Chefin. Solche Machtkämpfe passieren scheinbar immer dann, wenn nicht integrierbare rebellische und egomanische Populisten aufeinandertreffen und mehr oder minder mächtige Positionen in Reichweite kommen. Wenn die AfD scheitert, kommen bald ähnliche Gruppierungen, in denen sich die Unzufriedenen zusammenschließen, um auf die „die da oben in Brüssel und in Berlin und in …“ zu schimpfen. Hauptsache, das Feindbild stimmt. Die Zustimmung für die AfD kommt nicht immer aus Begeisterung, sondern aus Frust über die anderen Parteien. Insofern wird der Streit der AfD nicht so sehr schaden. Denn ansonsten wird alles getan, um die bösesten Ahnungen zu erfüllen:
Die peinlichen Europäer
Dafür spricht das aalglatte SPIEGEL-Gespräch mit Martin Schulz und Jean-Claude Juncker. Zu glatt, um diejenigen zu überzeugen, die nach dem Brexit auf neue Impulse aus Brüssel warten. Und peinlich: Die Herren telefonieren jeden Morgen, die Herren stützen einander. Dummerweise ist es die Aufgabe des Parlamentspräsidenten, mit seinen Parlamentariern den Kommissionspräsidenten zu kontrollieren. Und jetzt also diese demonstrativ vorgeführte Kumpanei? Das ist sogar das, was an Europa so verbittert: Dass die selbstverständlichen Kontrollen und Usancen außer Kraft gesetzt werden. Cliquen-Wirtschaft ist keine Demokratie. Insofern hat das Interview die Qualität, in die Zeitgeschichte einzugehen – als Versagen der Eliten, die auf diese Weise Europa verspielen. Und das Europaparlament hat nur eine Chance, seinen Ruf zu retten: Indem es Cliquen-Schulz abwählt. Aber natürlich wird das nicht geschehen: Europa ist doch Frieden. Kritik wird da zur Kriegshetze.
Ann-Kathrin Müller, Ann-Kathrin Nezik und Ruben Rehage beschreiben in „Die Ohnmächtigen“ die Generation Y, die von der eigenen Elterngeneration um ihre Zukunft gebracht wird und noch nicht einmal dagegen aufbegehrt. Na und? Wer sich politisch raushält, ist selber schuld. In der Demokratie entscheiden Mehrheiten.
Ein kleines Juwel steuert Frank Dohmen mit „Sportschau privat“ und dem Bericht über die kleine pfiffige Firma Wige Media aus Köln bei, an der inzwischen der chinesische Internetriese Ali Baba beteiligt ist. Wige Media bietet automatische Live Streams von Sportveranstaltungen via Internet. Noch sind es die großen Medienhäuser, die den Dienst nutzen. Die zukunftsbringende Geschäftsidee hat aber die unzähligen Amateursportvereine im Blick, die für die Medienanstalten zu uninteressant sind, aber ihre eingefleischten Fans haben. Eine coole Idee.
Majestätsbeleidigung
Peter Ahrens und andere feiern in „Mit ruhiger Hand“ den mittlerweile zum „Nebenkanzler“ aufgebauten Joachim Löw. Wenn schon, dann hätten die Autoren das geopolitisch bestens getimte Ausscheiden gegen die Franzosen lobenswert erwähnen sollen. EU-politisch waren die Art und Weise des Ausscheidens sicherlich förderlich zur Vertiefung der deutsch-französischen Freundschaft. Es ist ein Stück, das den neuen Spiegel zeigt: Jogi ist König, und die Redaktion scheut Majestätsbeleidigung. Früher war das anders.
Für jeden Fußballfan ein Muss ist das Interview von Rafael Buschmann mit Lucien Fabre „Sind die denn alle verrückt?“ Einfach herrlich erfrischend. Und jetzt wissen wir, dass 4-4-2 und 4-3-3 ebenso out sind wie BVB-Dauerpressing. Die Zukunft gehört dem 5-5-System.
Matthias Schulz berichtet in „Der nullte Weltkrieg“ über bisher unbekannte kriegerische Seevölker, die in der Bronzezeit von der Türkei aus heftigste Schlachten im östlichen Mittelmeerraum geschlagen haben und inzwischen nicht zuletzt für den Untergang der Hethiter verantwortlich gemacht werden. Die Schlachten werfen auch einen ganz neuen Blick auf den von Homer beschriebenen Trojanischen Krieg.
Und noch eine Entdeckung: Das SPIEGEL-Gespräch „Ist das jetzt göttlich?“ mit dem US-Mathematiker Ken Ono über mathematische Aha-Momente und das in Europa weitgehend unbekannte indische Mathematik-Genie Ramunajan, das vor hundert Jahren bereits epochale Zusammenhänge erkannte.
Sehr lesbar sind in diesem Heft wieder einmal die Kolumnen und Meinungsbeiträge, wobei mich „Die vergiftete Mitte“ von Walid Nakschbandi – gebürtiger Afghane, als Jugendlicher in Solingen aufgewachsen, heute Produzent und Geschäftsführer der AVE Fernsehproduktionsgesellschaft – besonders beeindruckt hat. Der ehemalige Mitschüler, mit dem man sich zu Schulzeiten in ethischen Fragen einig war, der Freund und Weggefährte, der erfolgreiche Medienunternehmer ist für viele in diesen Zeiten nur noch „der Muslim“. Offen bleibt die Frage, wie es dazu kommen konnte; Nakschbandi stammt aus einer Oberschicht-Familie; die Familie wurde von den Amerikanern vor den Angriffen von Russen und Taliban gleichermaßen gerettet und ausgeflogen. Man kann Gesellschaften auch überfordern; das gilt für die afghanische, wie für die deutsche. Der völlig ungebremste Zugang nach Deutschland führt dazu, dass jene Probleme bekommen, die man sich als Mitbürger wünscht wie den ebenso klugen wie erfolgreichen Autor. So bleibt es bei den üblichen Klischees von den bösen Deutschen.
Vox populi, vox dei
Politikprofessor Herfried Münkler betont in „Der Augenblick der Entscheidung“, dass bei Referenden das Motto vox populi vox dei gelte: Wenn das Volk entschieden hat, sind die Würfel gefallen. Ergo: Der Brexit ist weder korrigierbar noch relativierbar.
Zum Schluss: Apropos „Ausweitung der Angstzone“: Christoph Reuter steuert mit „Tage des Terrors“ wieder den spiegelobligatorischen Beitrag über den an Bedeutung verlierenden IS bei. Hört doch endlich mit der IS-PR und dem Generve über die Steinzeit-Islamisten auf!