Unter all jenen enttäuschten bis entsetzten Reaktion in Deutschland auf das Ausbleiben des vorausgesagten klaren Wahlsieges für Joe Biden stechen einige besonders hervor. Einerseits war und ist die deutsche Fernsehberichterstattung eifrig bemüht, in Grafiken und Worten den Eindruck zu vermitteln, dass Biden schon so gut wie gewonnen habe. Hier offenbart sich womöglich eine Fortentwicklung des Haltungsjournalismus zum Hoffnungsjournalismus.
Andererseits offenbaren auch deutsche Politiker einen Glauben, auf die Wahlen in den USA Einfluss ausüben zu können. Zum Beispiel Grünen-Chefin Annalena Baerbock: Sie habe ein „mulmiges Gefühl“, sagte sie im ZDF und wichtig sei nun, „dass sich nicht einer als Präsident erklärt, auch wenn die Stimmen final noch gar nicht ausgezählt sind“. Gerichte und andere Institutionen müssten nun „ihre Arbeit machen und sicherstellen, dass auch die letzte Briefwahlstimme ausgezählt wird“, forderte Baerbock, als ob der Supreme Court auf motivierende Ansagen deutscher Grünenpolitikerinnen angewiesen sei.
Offenbar glaubt mancher deutsche Beobachter tatsächlich, dass man hier irgendeinen Einfluss auf das habe, was da in den USA passiert. Vielleicht ist es aber auch einfach eine Spätfolge der in kulturwissenschaftlichen Seminaren dominierenden konstruktivistischen Ideologie, die nun auf ihrem Marsch durch die Redaktionen vor den Kameras angekommen ist: Demnach gibt es schließlich keine von Worten und Kommunikation unabhängige Wirklichkeit, sondern die wird „konstruiert“, salopp gesagt: herbeigeredet.
Man muss sich das konkret vorstellen: Sollen also demnächst die in den USA bestehenden Goethe-Institute aus Atlanta, Boston, Chicago, Los Angeles, San Francisco, Washington und New York in die Prärie von Wyoming umziehen? Oder passenderweise vielleicht in die kleine Hauptstadt von North Dakota, die passenderweise nach dem in Deutschland gar nicht mehr so hoch verehrten einstigen Reichskanzler Bismarck benannt ist? Und da sollen dann eifrige deutsche Germanistik-Dozenten den widerspenstigen Hinterwäldlern (oft mit deutschen Wurzeln!) im Zusammenspiel mit „Hollywood und Wallstreet“ beibringen, was sie zu denken und wen sie bei nächster Gelegenheit zu wählen hätten? So hört sich das zumindest an, was Lindner da vorschlägt.
Hier offenbart der Vorsitzende einer Partei, die einst von dem Literaten Theodor Heuß mitgegründet wurde, nicht nur ein befremdliches Verständnis von der Aufgabe von Bildungsinstitutionen und auswärtiger deutscher Sprach- und Kulturpolitik. Vor allem offenbart Lindner eine erschreckende Hybris: Ausgerechnet eine Institution des Staates, der als Demokratie erst mit amerikanischer Hilfe entstanden ist, soll den Amerikanern also demokratische Reife vermitteln.
Vielleicht spekuliert Lindner schon auf eine Vortragsreise durch die neuen Goethe-Institute. Schließlich könnte er dort aus erster Hand berichten, wie vorbildlich Demokratie in Deutschland funktioniert, wo die Bundeskanzlerin nach einer Wahl mit unerwünschtem Ausgang einfach feststellt, dass diese „unverzeihlich“ sei und „rückgängig“ gemacht werden müsse.
Begleiten könnte ihn dabei dann Margot Käßmann. Die frühpensionierte Bischöfin der evangelischen Kirche und Autorin mit Nähe zum Politikbetrieb hatte die Christen in den USA in ihrer Bild-Kolumne belehrt: „Donald Trump zerstört ganz bewußt Recht und Ordnung. Er befeuert Gewalt und Rassismus, Frauenverachtung und Lüge. Ich finde, Christen dürften ihn am 3.11. nicht wählen.“ Sehr viele Christen in den USA sehen das bekanntlich anders. Gerade die mehrheitlich von evangelischen Christen bewohnten Bundesstaaten im sogenannten Bible-Belt des Mittelwestens sind Trump-Hochburgen.