Heutige deutsche Universitäten unterscheiden sich wesentlich von den Hochschulen, wie wir sie in Deutschland noch vor 30 oder 20 Jahren kannten. Sie verstehen sich als selbständig agierende Unternehmen, die von den Ministerien zwar noch juristisch beaufsichtigt werden, aber deutlich mehr Entscheidungen als früher in eigener Regie treffen können, etwa mit Blick auf ihre Finanzen.
Aber sind die Hochschulen damit wirklich freier und autonomer geworden? Das muss man leider dennoch bezweifeln. Mehr denn je sind heute Universitäten von der Gunst der jeweiligen Landesregierungen abhängig, weil diese am Ende eben doch über die Zuweisung finanzieller Mittel entscheiden. Noch wichtiger ist die zunehmende Konkurrenz zwischen den Hochschulen, die nicht zuletzt durch die sogenannte Exzellenzinitiative seit 2005/06 ganz neue Dimensionen angenommen hat. Im Wettbewerb mit anderen Hochschulen kann man in der Exzellenzliga nur erfolgreich sein, wenn man die volle Unterstützung der jeweiligen Landesregierung hat. Kritische Äußerungen über die Wissenschaftspolitik haben da natürlich eine fatale Wirkung und kommen dem Selbstmord gleich.
Das kann man auch in Bundesländern wie Baden-Württemberg sehen, wo die Rektoren der Landesuniversitäten vor einigen Jahren die Abschaffung einer Lehrerausbildung mit wissenschaftlichem Charakter schweigend hingenommen und oft sogar noch schöngeredet haben. Bei manchen mag das Naivität gewesen sein, bei den meisten aber wohl eher Angst davor, dass öffentliche Kritik an den fatalen Plänen der Stuttgarter Regierung (damals noch Grün-Rot) zu Sanktionen politisch-finanzieller Art führen würde.
Worum geht es? Die SPD in Berlin befindet sich wie fast überall im Niedergang, aber eine begrenzte Zahl von Abgeordneten wird man 2021 vielleicht doch noch einmal in den Bundestag schicken können. Angesichts der geringen Unterstützung durch die Wähler sind freilich die wenigen Wahlkreise, in denen Aussicht auf Erfolg besteht, besonders umstritten, zumal die Direktkandidaten hier wohl auch mit einer Absicherung auf einem der ersten Plätze der Landesliste werden rechnen können.
Der jetzige regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, hatte schon lange klar gemacht, dass er die Landespolitik verlassen will und die Kandidatur für den Bundestag im Bezirk Wilmersdorf anstrebt. Gegenkandidatin war die SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli. Müller ist eine eher farblose Figur, Chebli in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil. Von der Zeit wurde sie als „social-media-Berühmtheit“ und als „junge dynamische Migrantin“ bezeichnet. Dem wird man ungern widersprechen wollen, auch wenn der Tagesspiegel weniger freundlich war und von der „Ich-AG Chebli“ sprach. Das ist wirklich nicht sehr nett, aber Chebli hat offenbar nicht nur Freunde, auch in der SPD. Als Nicht-SPD-Mitglied sollte man sich im übrigen eines Urteils darüber, wer die alternde und im terminalen Niedergang befindliche Partei besser im Bundestag vertreten würde, ohnehin enthalten.
Eine solche Zurückhaltung hielten die Berliner Universitätspräsidenten oder drei von ihnen aber für grundfalsch. Sie publizierten kurz vor der Entscheidung des zuständigen SPD-Bezirkes einen offenen Brief, in dem sie Müller als genialen Wissenschaftssenator (dieses Amt übt Müller im Senat auch aus) lobten und die SPD-Mitglieder direkt dazu aufriefen, ihn als Kandidaten für ein Bundestagsmandat zu nominieren. Wörtlich: „Es wäre dringend zu wünschen, dass diese Sachkenntnis und dieses Engagement zukünftig im Bundestag wirksam werden können“.
Das ist freilich bemerkenswert. Die Präsidenten, Frau Prof. Sabine Kunst, Prof. Christian Thomsen und Prof. Norbert Palz, nutzen ihre amtliche Autorität um Wahlkampf zu betreiben. Werden wir dann im nächsten Bundestagswahlkampf auch einen Auftritt des Generalinspekteurs der Bundeswehr – in Uniform – erleben können, wie er Werbung für die CDU und für Frau Kramp-Karrenbauer, seine Dienstherrin, macht? Das läge ja absolut in der Konsequenz der Berliner Aktion, müsste aber streng genommen ein Disziplinarverfahren nach sich ziehen.
Davor müssen die Berliner Magnifizenzen vermutlich keine Angst haben. Man könnte sich den Vorgang vielleicht so erklären, dass möglicherweise Personen, die Bürgermeister Müller in dieser oder jener Form nahestehen, diese Ergebenheitsadresse initiiert und gewissermaßen in Auftrag gegeben haben. Es müsste dabei sicherlich gar nicht ausgesprochen worden sein, dass die Hochschulen von der Gunst und Gnade des Senators unmittelbar abhängig sind; das wissen die Universitätspräsidenten ja selber. Unter diesen Bedingungen wäre es natürlich riskant, ein solches Ansinnen abzulehnen. Immerhin steht allerdings der Name des Präsident der Freien Universität nicht unter dem Schreiben.
Wie freilich sieht die Rechtslage aus? Auf der Internetseite des Deutschen Beamtenbundes kann man zur politischen Betätigung von Beamten folgendes lesen: „Private Meinung und dienstliches Handeln müssen immer getrennt bleiben. Der Grundsatz steht, dass jeder Einfluss der persönlichen Überzeugungen auf das berufliche Handeln und auf Entscheidungen mit dem Neutralitätsgebot unvereinbar ist.“ Entspricht das Handeln der Berliner Universitätspräsidenten diesen Prinzipien? Das ist sehr fraglich. Eigentlich sollte man also annehmen, dass jetzt Disziplinarverfahren eingeleitet werden. Aber das wird wohl nicht geschehen, man ist ja in Berlin.
Man fragt sich freilich, ob es gerade jetzt in einer nationalen Notsituation klug ist, das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen in die Integrität des Beamtenapparates und in die wirksame Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze so stark zu unterminieren, wie es die drei Berliner Universitätspräsidenten getan haben. Je geringer das Vertrauen der Bürger in den Staat ist, desto weniger werden sie bereit sein, im Kampf gegen die Pandemie Solidarität und Disziplin zu zeigen.
Aber das dürfte Berliner Hochschulpolitikern wohl gleichgültig sein. Hauptsache Michael Müller bekommt sein Bundestagsmandat, um dann vielleicht in einer Grün-Rot-Roten Bundesregierung segensreich als Wissenschaftsminister des Bundes Forschung und Wissenschaft voranzubringen. Mit einer Koalition der drei linken Parteien hat man ja in Berlin exzellente Erfahrungen gemacht und wer würde nicht darauf hoffen, das die Berliner politischen Rezepte von der Mietpreisbremse über das jahrhundertelang entbehrte Damen-Pissoir (korrekt: Missoir) bis hin zur Lahmlegung der Polizei durch Anti-Diskriminierungskampagnen auf ganz Deutschland übertragen werden? Die Berliner Hochschulpräsidenten oder zumindest drei von ihnen wünschen sich offenbar nichts sehnlicher herbei als dieses irdische Paradies.