Die Welle aus Empörung, Angst und Wut ist gewaltig. Alles, was Rang und Namen hat, meldet sich zu Wort. Bemerkenswert: Auch der frühere Generalstabschef Pierre de Villiers erhebt seine Stimme. Er gilt für viele als heimliche Hoffnung in der Krise. Der Mord am Geschichtslehrer Samuel Paty, der seinen Schülern Gewissens- und Gedankenfreiheit beibringen wollte, wirkt wie ein kollektives Erwachen. Die Demos am Sonntag in zahlreichen Städten mit ihren Plakaten gaben es kund: „Frei zu glauben oder auch nicht zu glauben“, „Weder Hass noch Angst das ist unser Sieg“, „Lehren ja, dafür bluten nein“. Und dazu die Marseillaise, immer wieder der Marschgesang des Rouget de Lisle, den eine Kompanie Revolutionäre aus Marseille beim Einzug in Paris 1792 schmetterte. Manchen wird beim Singen auf dem Platz der Republik aufgefallen sein, wie sehr diese martialische Hymne zu Ereignis und Stimmung passte: „Zu den Waffen, ihr Bürger, das blutige Banner der Tyrannei ist gegen uns erhoben. Hört ihr auf den Feldern die Soldaten des Schreckens brüllen? Sie kommen, um Euren Söhnen und Frauen die Kehlen durchzuschneiden.“
Macron ist zum Handeln gezwungen
Das ist kein Chor der Machtlosen, ihre Stimmen zwingen den Herrn im Elysee-Palast zum Handeln. „Dort geht mein Volk, ich muss ihm hinterher, ich bin sein Führer“, pflegte Talleyrand zu sagen, der dem Volk in Zeiten von Revolution und Restauration diente. Es ist jetzt zur Devise Macrons geworden. Das Volk hat die Nase voll von seinen theatralischen Auftritten, von Worten ohne Taten, von rhetorischen Feuerwerken, die wie Sternschnuppen verpuffen. Seit Jahrzehnten gewinnt der radikale Islam wortwörtlich an Boden, besetzt er eine Banlieue nach der anderen, hier ein Dorf, da eine Stadt, dort eine NGO. 150 eroberte Gebiete zählen die Sicherheitsdienste. Millionen Franzosen leben unter dem Diktat der Radikalen und der Präsident redet von Separatisten und Spaltern der Republik. Nichts da. Sie wollen nicht spalten, sie wollen alles.
Islamische Verbände haben Zeichen der Zeit erkannt
Auch die islamischen Verbände haben die Zeichen der Zeit erkannt. Der Präsident des Verbands der Imame Frankreichs bittet die Familie des Mordopfers um Vergebung und unterstützt die Maßnahmen der Regierung. Gleichzeitig bittet er angesichts von Morddrohungen im Netz: „Schützt uns, schützt die Muslime Frankreichs!“ Er wird dafür bei Grünen und Linken Verständnis finden, die auch jetzt wieder vor einer Vermengung von Islam und Islamismus warnen. Aber der Islam ist wegen seiner Ambivalenz und seines totalitären Kerns eine gefährliche Religion. Das spüren immer mehr Franzosen. Noch weiß niemand, ob die Wende im Bewusstsein zu einer Reconquista oder zu einer Revolution führt. Eins ist sicher: Eine Unterwerfung wird es nicht geben. Macron aber ist ein Technokrat der Globalisierung, er hat kein Verhältnis zur Religion, er lebt im Geist der Freimaurerei. Wenn er diese Wende im Bewusstsein der Franzosen nicht versteht, ist seine Wiederwahl gefährdet.
Dieser Beitrag von Jürgen Liminski erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.