Vor den Zeiten Trumps, als Hillary Clinton gerade die Vorwahlen der Demokraten gewonnen hatte, wurde Angela Merkel im kleinen Kreis gefragt, ob sie sich, rein theoretisch und nur vom Verfahren her gedacht, vorstellen könnte, US-Präsidentin werden zu können. Das, sagte sie, würde sie nicht durchstehen. In den Vorwahlen werden die Kandidaten zermahlen. Zu hart, zu lang die Marathonstrecke bis zur eigentlichen Präsidentenwahl.
Der Sturz der Kandidaten
Jetzt schaut sie genüsslich zu, wie sich die Kandidaten für ihre Nachnachfolge im Parteivorsitz und damit auch als Kanzlerkandidat fertig machen und aus dem Rennen kippen. Gestern war es der, den sie am wenigsten mag, und der ihr hätte am gefährlichsten werden können: Friedrich Merz.
Denn der Krönungs-Parteitag vom 4. Dezember fällt aus. Für alle Kandidaten wie auch für Armin Laschet und Norbert Röttgen, nicht nur für Friedrich Merz. Aber der nimmt übel, wie er anschließend jedem erzählte, der es nicht hören wollte:
„Es gibt Teile des Parteiestablishments, die verhindern wollen, dass ich Parteivorsitzender werde und damit wird jetzt auch dieser Parteitag verbunden“, sagte Merz noch vor der Absage-Entscheidung am Montag. Am Abend zuvor hatte er mit seinen Mitbewerbern Armin Laschet und Norbert Röttgen sowie der ihre Restlaufzeit absitzenden Parteichefin Kramp-Karrenbauer über das weitere Vorgehen beraten. Sollte die CDU sich gegen einen Digitalparteitag am 4. Dezember entscheiden „gibt es offensichtlich Gründe, die mit Corona wenig oder gar nichts zu tun haben“, sagt Merz nun. Die entsprechende Entscheidung des Bundesvorstands kommentiert er später mit den Worten: „Die Verschiebung des Parteitags ist eine Entscheidung gegen die CDU-Basis.“
Merz sieht sich als Kandidat der Herzen der CDU-Mitglieder. Bloß blöd, dass die ihn gar nicht wählen dürfen, sondern die 1.001 Delegierten. Im Hintergrund sieht er seinen Konkurrenten Armin Laschet die Fäden zeihen:
„Ich habe ganz klare, eindeutige Hinweise darauf, dass Armin Laschet die Devise ausgegeben hat: Er brauche mehr Zeit, um seine Performance zu verbessern.“ Dem CDU-Außenpolitiker Röttgen werden ohnehin kaum Chancen zugerechnet. Auch das Szenario eines Konsenskandidaten Jens Spahn könnte aus Sicht seiner Anhänger realistischer werden, je mehr Zeit vergeht und diverse Peinlichkeiten der Vergessenheit anheim fallen.
Die Absage des Wahlparteitages am 4. Dezember sei „der letzte Teil der Aktion „Merz verhindern“ in der CDU. „Und das läuft mit der vollen Breitseite des Establishments in Berlin“, klagt Merz.
Die Söldnerheere der innerparteilichen Demokratie
Klar ist: So richtig weit her mit der innerparteilichen Demokratie ist es auch in der CDU nicht. Der weitaus größte Teil der Delegierten sind festangestellte Funktionäre, viele Amtsträger auf Landes- und Bundesebene bis hin zu Kabinettsmitgliedern sind dabei, die allen ihre Anhängern helfen, bei Abstimmungen richtig die Händchen zu heben. Da werden Köpfe gezählt, Landesverbände in Stellung gebracht wie Söldnerheere, Frauenverbände rechnen ihre Tränen ab und es werden jede Menge Posten auf Kosten der Steuerzahler versprochen oder auch nur Pöstchen; da wird in Hinterzimmern gekungelt, immer mit dem Gedanken: „Und was kommt hinten für mich dabei raus?“
Dieser virtuelle Parteitag der CDU sortiert Kandidaten aus wie die US-Vorwahlen und das schon seit zwei Jahren, als Merz 2018 nur knapp gegen Annegret Kramp-Karrenbauer unterlag. Zwischendrin, im November 2019, erschien auf dem Parteitag, der das Grundsatzprogramm debattieren sollte, ihre Unfähigkeit so offenkundig, dass Friedrich Merz nur nach dem Amt hätte greifen müssen. Dachten damals viele. Er hätte damals die Wahl erzwingen können auch um das Risiko, sie zu verlieren. Aber Friedrich Merz zögerte.
Er war wie der schmächtige, hochgeschossene Junge, der auf dem Sprungturm ganz oben steht und alle sagen: „Spring“! Aber er springt nicht und steigt mit hängenden Schultern wieder herab, war das Bild. Schon damals siegte seine Angst vor den Delegierten über seinen Machtanspruch, und brav wie erkennbar unehrlich lobte er Kramp-Karrenbauers „mutige, kämpferische nach vorne weisende Rede“. Statt zuzugreifen wurde mit seiner Hilfe die Kandidatenkür auf den März vertagt und wegen Corona dann auf Dezember und wegen jetzt schon wieder Corona auf unbestimmte Zeit.
Und immer redet sich Merz durchs Land und durch die Hinterzimmer, wird er überall brav beklatscht – aber nicht gewählt. Merz ist ein Dauerredner, der Parteimitglieder überzeugt und dann wieder überzeugt, bloß dürfen genau die ihn nicht wählen. Er verkauft ständig immer neue Staubsauger an der Haustür und darf dann weder liefern, noch die Rechnung schreiben. Allmählich stehen zu viele nicht gelieferte Staubsauger um ihn herum.
Die Macht vom Rhein und der Rabauke aus München
Sein Gegenspieler Armin Laschet hat es da leichter. Der wartet einfach als Ministerpräsident in Düsseldorf mit Blick über den Rhein, bis die Macht vorbeischwimmt und er sie herausfischt. Und in Bayern putzt sich der dortige Pfau Markus Söder das Gefieder, wobei auch er unter dem gnadenlosen Ablauf der Zeit leidet wie Friedrich Merz: Zunächst hochgelobt wächst neuerdings der Widerstand gegen ihn. Söder gab den starken Mann in der Corona-Krise im Frühjahr und glaubte das Spiel im Herbst wiederholen zu können. Dumm nur für Söder, dass ein zweiter Lockdown, den er so gerne hätte, die Menschen überfordert. Besonderes Pech: Im Landtag auf dem Amtsessel des Ministerpräsidenten prügelte er mit haßerfüllten Gesichtszügen und mit aggressiven Faustschlägen in die Luft eine daneben stehende, biedere Rednerin der AfD vor laufenden Kamera des Bayerischen Fernsehens symbolisch nieder: Dieses pubertäre und kaum getarnte Rabaukentum wandert jetzt durchs Netz und läßt Menschen gruseln und seine Chancen ruhen.
Und jetzt macht also Merz den Söder und verliert die Nerven, und das nicht nur vor einer heimlichen Handy-Kamera, sonder vor jeder, die irgendwo neugierig herumsteht.
Lockdown nur unterm Weihnachtsbaum?
Denn klar ist auch: Eine Regierung, die gerade das ganze Land in einen ruinösen Corona-Lockdown hineinredet, kann nicht einen Parteitag mit 1.001 Delegierten und weiteren rund 3.000 Teilnehmern und Mitarbeitern drum herum durchführen. Das gebietet schon der Respekt vor den Teilnehmern, die nun mal Angst vor der Ansteckung haben, sei es nun zu Recht oder Unrecht. Aus der Sicht des nach einer Infektion bereits immunen Friedrich Merz und seines Machtanspruchs mag das alles nicht zählen. Aber polizeilich zu kontrollieren, ob mehr als das erlaubte halbe Dutzend Familienmitglieder um den Weihnachtsbaum stehen und kurz vorher eine Massenparteiparty durchführen – das geht nicht einmal unter Angela Merkel und ihrer CDU.
Nun kann man ja Merkel viel vorhalten; aber dass sie den Lockdown nur herbeiredet, um keinen Krönungsparteitag für Merz durchführen zu müssen, das trauen ihr selbst eingefleischte Kritiker nicht zu. Oder doch? Dann ist man bei Friedrich Merz, dem ewigen Hasen, der hin und her rennt – und wenn er ankommt, sagen schon Herr oder Frau Igel: „Bin vor Dir da!“
Politik kann ein unterhaltsames Schauspiel sein. Leider geht es in der Politik im Ernstfall ums Leben und derzeit viel um den Tod. Um den wirtschaftlichen Tod eines Landes, das in einen wirtschaftlichen Winter geschickt wird und um Bürger, die möglichst zu Hause bleiben sollen, wie die Kanzlerin fordert. Dass bei anderen Menschen das Geld nicht automatisch auf dem Konto landet, sondern sie es erst verdienen müssen, hat die Kanzlerin vergessen. Es ist der soziale und kulturelle Tod eines Landes, in dem Verwaltungsbeschäftigte, die die Corona-Krise nutzen, um sich endgültig vom Bürger abzuschotten, eine fette Gehaltserhöhung von 3,7 Prozent plus einen Corona-Bonus von denen ausgezahlt erhalten, die um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen oder schon Pleite sind.
Es geht um die fortgesetzte Zerstörung seiner Infrastruktur durch eine hirnrissige Energiepolitik, die in der kältesten Zeit einen Black-Out immer näher rücken lässt und es geht um die außenpolitische Isolation in Europa, die ausgerechnet während der EU-Ratspräsidentschaft der Kanzlerin offenbar wird. Es geht um den Verfall der inneren Sicherheit, die jedem noch so gewalttätigen Migranten fürsorglich die Sicherheit des immerwährenden und dauerbezahlten Aufenthalts in Deutschland garantiert, aber seinen Bürger nicht mehr die Sicherheit auf Straßen und Plätzen.
Wofür steht Friedrich Merz außer für Friedrich Merz?
Es wäre ja nicht nur einiges anzupacken, sondern vieles. Wovon übrigens auch Friedrich Merz nur ganz allgemein und nie im Besonderen spricht. Er spricht Bandwurmsätze für Friedrich Merz ohne Folge.
Bis 4. November sei noch Zeit, den Parteitag einzuberufen. In der ARD sagt er über die angebliche Verschwörung, die ihn verhindern soll: „Da wo Rauch ist, ist auch Feuer. Natürlich wird das versucht. So eine schwierige Lage beendet man am besten durch Entscheidungen.“
Aber genau für notwendige Entscheidungen steht Merz bislang nicht. Weil er raunt, aber die Missstände nicht konkret anspricht. Und damit steht er für das grausige Schauspiel, das die Bundesregierung und die CDU/CSU derzeit anbieten: Der Kanzlerin zerrinnt die Macht in den Händen, sie klammert sich zittrig an ihr Kanzleramt ohne die geringste Vorstellung davon, wie es weitergehen soll.
Sie mag mit den Mitgliederinnen ihres Küchenkabinetts darüber kichern, wie es ihr wieder gelungen ist, alle an der Nase herumzuführen und wie alt und wie lächerlich Friedrich Merz jetzt auf der Marathonstrecke der Vorwahlen in Deutschland aussieht. Sie mag sich darüber freuen, wie um sie herum jede politische Gestaltungskraft zerfällt; die CDU, die CSU, die SPD und längst auch die FDP und die orientierungslosen Grünen. Ein bißchen Widerspruch – und schon fühlt sich Friedrich Merz vom „Establishment“ gemobbt? Er hatte es immer einfach. Mal mit dem Moped und längeren Haaren durchs Sauerland, und schon fühlte er sich als Revolutionär. Viel hat sich seither nicht geändert an Friedrich Merz, nur die CDU ist nach links gerückt und längst eine inhaltlich entleerte Partei, sieht man von einem kleinen Fähnlein der Aufrechten ab, den ewigen Mahnern am Rande der Partei. Mit denen allerdings wollte Merz auch nie was zu tun haben. Er wollte immer Establishment sein, und jetzt ist er beleidigt.
Merkel ist die Meisterin der gewollten Destruktion und des geduldigen Zuwartens auf den für sie glücklichen Moment, an dem Machtkonkurrenten die Nerven verlieren. Merz hat wieder die Nerven verloren. Dass er es nicht kann, ist nicht so schlimm. Schlimm ist nur die Alternativlosigkeit.