Nach dem Brexit-Votum der Briten ist die deutsche linksliberale Öffentlichkeit in einem Schockzustand. Hatte man bisher nur leise Zweifel am Europaprojekt zugegeben, so ist nun offenkundig geworden, dass die Europäische Union in ihrer jetzigen Form, von Wirtschaftspolitik bis zu Einwanderungs- und Grenzfragen, – gelinge gesagt – unattraktiv geworden ist. Das Vereinigte Königreich, ein Urvater der modernen Demokratie, hat sich, allen kurzfristigen wirtschaftlichen Schäden zum Trotz, von der EU in ihrer Gesamtheit abgewandt. Das ist kein Zeichen einer aufgestachelten, verängstigten Bevölkerung, sondern eine souveräne Absage an die supranationalistische Verheißung der ever closer union, an deren Ende, nimmt man die Formel ernst, ja nur ein europäisch-zentralistischer Bundesstaat stehen kann. Weil die Briten bereits in der jetzigen EU mehr Nachteile als Vorteile sehen, haben sie die Vereinigten Staaten von Europa gleich mit abgewählt, noch bevor es sie gab. Britischer Pragmatismus in einer gelebten, jahrhundertealten Demokratie, statt Euro-Euphorie und Durchhalteparolen in DDR-Manier.
Die deutsche Öffentlichkeit reagiert darauf erbost, nicht selten mit einer „Jetzt-erst-recht“-Mentalität. Statt sich einzugestehen, dass der missglückte Euro sowie der Zusammenbruch des Schengen-Systems logische Folgen der hierzulande praktizierten realitätsabholden Europatümelei sind, werden Volksabstimmungen per se in Frage gestellt, „die Alten“ zu den Schuldigen erklärt und der Kampf gegen den Populismus ausgerufen. „Was tun, wenn die Falschen gewinnen?“ Titelt die als linksliberal geltende Zeit, ohne zu bemerken, was sie dort eigentlich gerade in die Welt gesetzt hat. Bezeichnend ist auch der über die ARD verbreitete Kommentar der „Journalistin des Jahres 2015″, Anja Reschke, die in holprigen Sätzen formuliert: „Demokratie muss irgendwie auch das eigene Volk mitnehmen“. Irgendwie mitnehmen? Das klingt als stünde das gemeinsame Ziel schon fest, nur die Bevölkerung müsse noch irgendwie mitmachen – oder zumindest der Anschein erweckt werden, man kümmere sich noch um den Volonté générale. Man sollte meinen, nach einem Politik- und Geschichtsstudium sei die Kenntnis über den Wesenskern der Demokratie weiter verbreitet.
Die Reaktionen offenbaren in Wahrheit die immer noch dominante Entschiedenheit, mit der Journalisten und Politiker die Auffassung vertreten, Europa müsse nolens volens immer weiter zusammenwachsen und per Integration zum Bundesstaat werden. Dass man sich heute eingesteht, so schnell und so einfach sei das nicht zu machen, ist ein Schritt in die richtige Richtung, bezeugt aber nur in den seltensten Fällen eine Abkehr von der Ziellogik. Die Hartnäckigkeit, mit der ein großer Teil der classe politique an das letztendlich lineare Fortschreiten zum „richtigen“ Ziel der (europäischen) Geschichte glaubt, erinnert in ihrer Vehemenz schon fast an die – zum Glück begrabene – marxistische Geschichtsphilosophie, die Widersprüche in der Realität mal eben zu irgendwie dialektischen Beweisen der eigenen Richtigkeit erklärte.
Deutscher Sonderweg Vereinigte Staaten
Im Übrigen ist es auch ein deutscher „Sonderweg“, um mal einen missbrauchten Begriff aufzugreifen, am Endziel des vereinigten Europas festzuhalten. Für die Franzosen war die EU, beziehungsweise ihre Vorgänger Montanunion und EWG, meist nur Garant eines gebändigten, kooperativen Deutschlands und somit Friedensstabilisator, niemals Selbstzweck. Auch die Osteuropäer sahen in der europäischen Union mehr eine Eintrittskarte in die „westliche Welt“ mitsamt NATO-Mitgliedschaft und wirtschaftlicher Prosperität, den Nationalstaat aufzugeben lag den meist jungen Nationen Ost- und Mitteleuropas ferner als sich unsereins vorstellen könnte. Die erwähnten Briten traten in ihren Vorstellungen primär einer Freihandelszone bei, der Gedanke der „politischen Union“ scheiterte schon an den „besonderen Beziehungen“ zu Washington, was in den 2000er Jahren auf der Insel das Mantra NATO first hervorbrachte. Allein die Südeuropäer sind dem deutschen EU-Idealismus entfernt verwandt, was wenig tröstlich ist angesichts der sonst eher heterogenen Vorstellungen der Europäer , was „Projekt Europa“ eigentlich zu bedeuten habe.
Wenn die bundesdeutsche Öffentlichkeit nun also mit dem Brexit „Rückschritte“ auf dem Weg zur europäischen Einigung bedauert, führt sie eine Lebenslüge fort. In Wahrheit ist der Traum von der europäischen Republik eine politische Utopie. Und wie alle guten Utopien, hat sie keinerlei Realitätsbezug. Allein die abendländische Geschichte sollte hellhörig machen, wenn immer jemand aus Europa ein Imperium zimmern möchte. Napoleon ist daran ebenso gescheitert wie Hitler. Das soll nicht bedeuten, die heutige Europäische Union hätte mit den beiden inhaltlich etwas gemein, doch formal stand hinter der Grande Armée wie hinter der Wehrmacht der gemeinsame Gedanke, Europa in Zentralherrschaft zu überführen. Dass dies scheiterte – und dies ist auch der Grund, warum ein europäischer Bundesstaat scheitern muss – ist, neben den individuellen Faktoren der Epochenakteure, die Verschiedenheit des Kontinents. Der französische Philosoph Rémi Brague brachte diese Heterogenität auf den Begriff, als er von der „exzentrischen Identität Europas“ sprach. Gerade weil Europa nie ein Zentrum kannte, sondern im Gegenteil, die Diversität die eigentliche Natur des Kontinents ist, ist jeder weitere Integrationsschritt der EU ein Kräftemessen mit der Geschichte. Dass nun bereits seit mehr als einer Dekade der Integrationsmotor stottert, ist Anzeichen dafür, dass die Geschichte wieder die Oberhand gewinnt.
Das in linken Kreisen bereits vielrezipierte Buch – es soll hier exemplarisch dienen -, unterliegt allerdings einer idealistischen Fehldeutung. Die Idee, der Demokratiegedanke sei vom Nationalgedanken abzugrenzen, muss fehlschlagen. Richtig stellte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm vor einigen Jahren hierzu fest:
„Parlamentarische Formen gewährleisten noch keine demokratische Substanz. […] Information und Partizipation als Grundvoraussetzung demokratischer Systeme bleiben sprachlich bedingt. Eine europäische Öffentlichkeit und einen breiten öffentlichen Diskurs auf europäischer Ebene wird es deswegen noch auf lange Sicht nicht geben. Ein europäisches Staatsvolk, dem die Hoheitsgewalt zugerechnet werden könnte, ist gar nicht in Sicht. […] Die Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates lassen sich vorerst in vollem Umfang nur auf nationaler Ebene wahren.“
Auch historisch lassen sich Nation und Demokratie kaum trennen. In Deutschland war der aufkeimende Nationalismus des frühen und mittleren 19. Jahrhundert stets liberal-demokratischer Natur und der Demokratiegedanke national, man denke nur an das Hambacher Fest oder die Paulskirchenverfassung oder auch in Frankreich an den Patriotismus der Jakobiner. Die gereifte Nation ist Bedingung einer gesunden Demokratie, da sie aus beliebigen Individuen einer Gegend, Mitglieder einer einheitlichen Geschichts-, Sprach-, Kultur-, Solidar- und Rechtsgemeinschaft macht. Ohne Nation keine Demokratie.
„Kerneuropa“ und „europäische Konföderation“
Auch deswegen scheint es absurd, unter der Parole der vermeintlichen „Demokratisierung“ einen europäischen Bundesstaat zu verwirklichen. Wenn überhaupt ist eine „Republik Europa“ nur als Folge einer breiten Revolution von unten vorstellbar, die zum Inhalt hätte, aus Nationalmenschen Unionsbürger zu formen. Solange dies nicht geschieht (und das ist nicht verwunderlich), bedeutet jeder „Für-ein-neues-Europa“-Slogan aus dem linksliberalen Milieu nichts anderes als weitere Parlamentarisierung der riesigen EU-Bürokratie. Den „Geist der Demokratie“ (Mahatma Gandhi) vermag aber kein Technokrat den europäischen Institutionen einzuhauchen, er ist bisweilen dem Nationalen vorbehalten. Das merkt man auch an jeder Sitzung des europäischen Parlamentes, für das sich kein Bürger interessiert, wenn immer dort lustlos Anträge im halbleeren Saal runtergeleiert werden. Das mag parlamentarisch sein, demokratisch ist es hingegen nicht.
Aus dieser lang erkämpften Erkenntnis kann nur die Einsicht folgen, sich von der Idee des europäischen Zentralstaates zu verabschieden. Er ist weder realistisch, noch besonders wünschenswert – das totalitäre Potential hinter dieser Utopie ist enorm. Vielmehr muss der Gedanke der „Republik Europa“ transformiert werden in einen realistischen Europabezug an deren Ausgangspunkt die Nation mit ihren Interessen steht.
Den Widrigkeiten der deutschen Debatte zum Trotz, ist es notwendig, sich Gedanken über ein neues Europa zu machen. Denn die Tatsache bleibt ja bestehen, dass sich die Probleme globalisieren und nur eine zumindest einigermaßen gemeinsame Antwort der Europäer echte Gestaltungskraft in der Welt ermöglichen kann. Es ist nicht verwerflich, die Landesgrenzen zu schließen, wenn die EU versagt, besser wäre es allerdings die EU-Außengrenze würde gemeinsam geschützt. Und auch in außen- und sicherheitspolitischer Hinsicht ist enge Kooperation strikt notwendig, möchte man nicht bedingungslos der amerikanischen Außenpolitik folgen.
In den letzten Jahren hat sich allerdings offenbart, dass der deutsche EU-Idealismus für diese Zielsetzung eher kontraproduktiv wirkt, aber auch die Verweigerung jeder europäischen Zusammenarbeit wird nicht helfen. Dem neuen Europagedanken kommt daher die Aufgabe zu, Interessen zu bündeln und produktive Kooperation zu ermöglichen, ohne bei jeder Entscheidung das Einigungsprinzip zum Selbstzweck zur erklären. Überhaupt wird es notwendig sein, aus dem Institutionengefüge der EU, diesem riesengroßem Nichts, ein kohärentes Prinzip zu formen, egal ob dies nun „Europa der Vaterländer“, „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“, „Kerneuropa“ oder „europäische Konföderation“ lautet. Wichtig ist, dieses Durchwurschteln durch das Dickicht verschiedener Europaideen zu beenden und zu einem realistischen gemeinsamen Nenner zu kommen. Dafür müsste das deutsche juste milieu jedoch seine Europa-Schwärmereien beenden, die ja längst antidemokratische Züge tragen, und im gleichen Moment das Prinzip der Nation als Ausganspunkt souveräner Entscheidungen wiederbeleben. Für Ersteres stehen die Aussichten allerdings weitaus besser.