Eine Woche lang beschänkte sich das britische Königshaus in der nicht nur das Vereinigte Königreich erschütterten Brexit-Frage auf interne Gespräche hinter verschlossen Türen. Eines der unmittelbaren Ergebnisse war, dass der Wortführer und Überraschungssieger der Brexit-Kampagne, Boris Johnson, von seinem Traum Abstand nehmen musste, David Cameron als Premierminister zu beerben. Ein anderes ist die mittlerweile von bald allen einflussreichen Akteuren des Königreichs geteilte Auffassung, dass man eine Umsetzung des Referendums nicht übereilen dürfe.
Die politische Unfähigkeit der Spitzen von EU und ihrer Mitgliedsländer
Ob EU-Parlamentspräsident Martin Schulz oder EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, ob Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier oder dessen Parteichef Sigmar Gabriel – sie alle haben in dieser einen Woche nach dem britischen Referendum eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sie auf ihren politischen Positionen fehl am Platze sind.
Bereits am vergangenen Montag wies ich hier bei TE nicht nur auf die tiefgreifenden Bedenken des britischen Königshauses hin – ich legte auch dar, dass das Referendum weder innerhalb des Königreichs bislang irgendeine staatsrechtliche Relevanz hat, noch für die Europäische Union von faktischer Bedeutung ist. Tatsächlich hat in einem Mitgliedsland der EU eine Volksabstimmung über die Mitgliedschaft in der Union stattgefunden. Da aber im UK nicht das Volk der Staatssouverän ist, sondern „The House of Parliament“ als Einheit von König, Ober- und Unterhaus, kann eine Rechtswirksamkeit des knappen Referendum-Ergebnisses erst dann konstatiert werden, wenn dieses Gremium der Parlamente sich das Ergebnis des Referendums per unabweisbarem Beschluss zu eigen gemacht hat. Das ist bislang nicht geschehen – und es ist derzeit nicht einmal abzusehen, ob es überhaupt jemals dazu kommen wird.
Solange das aber nicht geschehen ist, wird das Königreich keinen Austrittsantrag an die EU stellen. Und es ist damit mangels anderer Rechtslage mit allen Rechten und Pflichten Mitglied dieses Staatenbundes. Daran ändert sich nicht dadurch, dass Juncker und Schulz als beleidigte Potentaten durch die Gegend laufen und den amtierenden Premierminister Cameron schneiden. Und es ändert sich erst recht nichts dadurch, dass Steinmeier und Gabriel offenbar nichts Eiligeres zu tun haben, als das ungeliebte Vereinigte Königreich schnellstmöglich aus der EU zu drängen – und damit der europäischen Sache vorsätzlich und gezielt Schaden zufügen und ihren Amtseid verletzen. Denn sie haben gemäß Grundgesetz in ihrer Verantwortung vor Gott und dem Volk geschworen, als Vertreter Deutschlands als „gleichberechtigtem Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
Wer aufgrund eines bis auf Weiteres rechtsunwirksamen Bescheids von exekutierten Fakten ausgeht, der hat die Grundprinzipen der Parlamentarischen Demokratie nicht begriffen und stellt – sowohl als EU- wie als Außenpolitiker – seine absolute Unkenntnis der britischen Verfassungs- und Staatstradition und damit seine Unfähigkeit zum Bekleiden der von ihm innegehabten Ämter unter Beweis.
Wenn Juncker und Schulz gemeinsam mit den anderen EU-Chefs Cameron als Vertreter eines der wichtigsten EU-Mitgliedsländer bei ihren Gesprächen – wie geschehen – vor die Tür setzen, dann ist dieses mehr als nur eine Unverschämtheit – es ist ein vorsätzlicher Angriff auf die Souveränität Englands und die Idee der Europäischen Union. Denn – wie gesagt – bislang ist außer einem dumpfen Bauchgrummeln einer knappen Abstimmungsmehrheit im Vereinigten Königreich nichts geschehen, was von staatsrechtlicher Bedeutung wäre.
Die Königin eröffnet das Schottische Parlament
Unbeschadet des europäischen Umgangs mit ihrem Premier hat nun Queen Elizabeth II. erstmals öffentlich das Wort ergriffen. Sie tat dieses anlässlich der feierlichen Eröffnung der fünften Legislaturperiode des Schottischen Parlaments in der Heiligkreuz-Kammer zu Edinburgh.
Der Ort konnte kaum besser gewählt sein, denn die schottischen Untertanen des Hauses Windsor hatten sich bei dem Referendum mit 62 Prozent für ihren Verbleib in der EU ausgesprochen und sehen sich nunmehr in ihrer Auffassung bestärkt, das britische Empire abschließend verlassen zu müssen, um nicht erneut von der englischen Dominanz im Süden der Insel in eine Zukunft gezwungen zu werden, die sie selbst nicht wollen.
Der Parlamentspräsident bringt den Ball ins Rollen
Parlamentspräsident Ken Macintosh wies bereits in seiner Begrüßung der Königin die Richtung. Er unterstrich, das Parlament sei „bereit für die Herausforderungen, die vor uns liegen und jedes einzelne Mitglied dieser Kammer ist als Mitglied des Schottischen Parlaments stolz darauf, die Menschen Schottlands zu repräsentieren“. Er, Macintosh habe in diesen wenigen, kurzen Wochen „unvergleichlicher politischer Turbulenzen“ den unverfälschten Willen aller gesehen, kollegial und gemeinsam die notwendige Arbeit anzugehen.
Macintosh fuhr fort: „Ich habe das Entstehen einer gemeinsamen Agenda gesehen, die bereit ist, die Identität und die Rolle des Schottischen Parlaments ebenso zu definieren wie die gemeinsame Erkenntnis, dass es heute wichtiger ist als jemals zuvor, dass dieses Parlament seine eigene Sprache spricht – eine Sprache der Hoffnung, um Donald Dewar zu zitieren, eine Stimme der Zukunft.“ Donald Dewar war Erster Minister Schottlands nach Gründung des Parlaments 1999.
Wie auch der amtierende Erste Minister Nicola Sturgeon gab Macintosh mit seinen Worten einen Impuls, der für Schottland immer noch zwei Wege gehen lässt. Auf der einen Seite zielen seine Worte darauf hin, die Identität eines schottischen Volkes als solches zu definieren und diesem schottischen Volk das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht sowohl in der Abtrennung vom Königreich als auch bei seinem Verbleib in der EU zuzusprechen. Auf der anderen Seite aber lässt dieser Anspruch immer noch auch den Raum, im Vereinigten Königreich zu verbleiben, sollte dieses seinen für die Schotten nicht akzeptablen Schritt des Austritts aus der Europäischen Union nicht vollziehen.
Sturgeons Kampf für eine bessere Welt
Sturgeon, die bereits unmittelbar nach dem Referendum unmissverständlich deutlich gemacht hatte, dass es mit ihr einen schottischen Ausstieg aus der EU nicht geben werde, nahm den Ball Macintoshs auf und unterstrich ihre Amtsauffassung als den Auftrag, „unsere Stellung in der Welt zu verbessern und niemals eine Verschlechterung zuzulassen“.
Schottland, so unterstrich der Erste Minister in einer fast schon pathetisch anmutenden Rede, werde eine „offene und alle einschließende“ Gesellschaft bleiben: „Gleich ob wir seit Generationen hier leben oder als Neuschotten von Europa, Indien, Pakistan, Afrika und Ländern überall auf dem Globus kommen, sind wir all dieses und mehr. Wir sind in dieser Vielfalt, die uns prägt, so viel stärker. Wir sind ein Schottland. Und wir sind nichts anderes als die Heimat all jener, die sich entschieden haben hier zu leben. Das ist wer und was wir sind!“
Sturgeon schloss mit einem Appell, der dann doch deutlich über das kleine Schottland hinausreichte: „Heute, wo wir einen Neuanfang feiern, lasst uns mit Hoffnung vorwärts sehen und in gemeinsamer Entschlossenheit unermüdlich zum Wohl aller Menschen Schottlands arbeiten – und indem wir dieses tun, nehmen wir unsere Aufgabe wahr in einem stärkeren Europa und einer besseren Welt“.
Mit dieser letzten Zeile unterstrich der Erste Minister Schottlands einmal mehr die aus seiner Sicht unverbrüchliche Bindung zu Europa, welche für Sturgeon untrennbar verbunden ist mit dem Ziel einer besseren Welt. Das schien neben dem Scexit als Schottlands Separation eine weitere, unmissverständliche Kampfansage gegen die Selbstzerstörung der Engländer zu sein.
Und doch verzichteten Sturgeon wie Macintosh darauf, explizit das Ausscheiden der Schotten aus dem Vereinigten Königreich bereits als unabänderlich zu bezeichnen. Beide ließen keinen Zweifel daran, dass es dazu kommen werde, sollten die Londoner den Brexit exekutieren. Aber in der Gegenwart ihrer Königin beließen sie es bei einem klaren Bekenntnis zur schottischen Identität und zum schottischen Selbstbehauptungswillen – und sie unterließen es, das Ausscheiden aus dem Königreich ihrer Monarchin als unvermeidliche Perspektive aufzuzeigen.
Die Queen positioniert sich
Das hatte gute Gründe. Denn diese nach dem Referendum erste Sitzung eines Parlaments auf der Insel, bei dem die Königin anwesend war, hatte weitaus mehr Symbolkraft als jener kleinkarierte, verfloskelte Schlagabtausch, den sich Noch-Premier David Cameron und sein Labour-Konkurrent Jeremy Corbin vergangene Woche im Unterhaus geliefert hatten.
So nutzte die Queen ihre Stunde, um zwischen der Begrüßung durch den Parlamentspräsidenten und der Regierungserklärung des Ersten Ministers erstmals nach dem Brexit öffentlich Stellung zu beziehen. Dabei hielt sie sich traditionsgemäß daran, Tagespolitik nicht zum Gegenstand ihrer Überlegungen zu machen – und nahm sich gleichzeitig das Recht heraus, unmissverständlich zu dem, was sie als Manifest britischer Staatstradition betrachtet, klare Worte zu sagen.
Es ist bekannt, dass nichts an diesen tradierten Abläufen spontan abläuft und dem Zufall überlassen bleibt. Sowohl die Eröffnungsrede Macintoshs wie die Einlassungen der Queen und die Regierungserklärung Sturgeons waren fein säuberlich aufeinander abgestimmt – und sie hatten eine gemeinsame Zielrichtung: Den Verbleib eines geeinten Königreichs in der Europäischen Union zu bewirken.
Da nun die Queen eben traditionell nie in konkrete Tagespolitik eingreift, bewegte sie sich auf der Ebene des Grundsätzlichen – und nutzte dabei die spezifische Situation des zur Separation neigenden Schottischen Parlaments für deutliche Signale an das heimatliche London – und darüber hinaus.
Die Neunzigjährige, die nach wie vor geistig höchst präsent ist und deren Ziel seit eh der Zusammenhalt des Königreichs ist, gemahnte die Abgeordneten, „in einer sich rasant ändernden Welt ruhig und gefasst (‚calm and collected‘) zu bleiben“. Politische Führer müssten in der Lage sein, den „Raum für ruhiges Nachdenken und Besinnung“ zu schaffen. Gleichzeitig riet sie dennoch zur Eile: In einer ständig komplexer und anfordernder werdenden Welt könnten Entwicklungen und damit sich verändernde Beurteilungen von Sachverhalten in bemerkenswerter Schnelligkeit geschehen.
Ein selbstbewusstes Parlament unterwirft sich keinen tagesaktuellen Befindlichkeiten
Klarer konnte Elizabeth II. ihre Forderung, weder den Brexit noch den Scexit vom Brexit übereilt anzugehen, kaum formulieren. Ihre ungesagte Forderung liegt auf dem Tisch: Weder soll das Königreich die Europäische Union noch soll Schottland das Königreich verlassen.
Den Weg dazu wies sie mit Blick auf die britische Verfassungswirklichkeit, nach der – siehe oben – nicht das Volk der Souverän ist, sondern „The House of Parliament“. Mit dem Hinweis darauf, dass „die Fähigkeit standzuhalten, ruhig und bedacht zu bleiben, zu bestimmten Zeiten hart sein kann“, formulierte sie ihre scheinbar nur an das schottische Parlament gerichtete Erwartung, die sich tatsächlich an jene Members of Parliament im fernen London richtete:
„So wie dieses Parlament erfolgreich über all die Jahre gezeigt hat, dass in solch einer schnell-lebigen Welt Führung sein Markenzeichen ist, so muss es den ausreichenden Raum lassen, mit welchen tieferen Überlegungen diese Herausforderungen und Möglichkeiten am besten gerichtet werden können.“
Mit anderen Worten: Die Parlamentarier von Schottland wie vom Königreich mögen nun bitte erst einmal in sich gehen. Sie mögen sich ihrer Aufgabe und Verpflichtung besinnen, ein einiges Königreich erfolgreich in die Zukunft zu führen und dabei bereit sein, sich in ihrer Verantwortung für das Königreich über den Referendums-Beschluss hinwegzusetzen.
Nicht das Königreich vernichten
Wäre es nicht die Queen, so hätte sie vermutlich noch deutlichere Worte gefunden, um ihren politischen Irrläufern den Kopf zu waschen. Da sie aber die Königin des immer noch bedeutendsten Herrscherhauses der Erde ist und sich tief in den Traditionen ihrer parlamentarischen Monarchie verankert fühlt, ist sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit ihrer Aufforderung an das Parlament, selbstbewusst in seiner Verantwortung vor dem Staat zu handeln, bis an den Rand ihrer Möglichkeiten gegangen. Das Signal, welches nicht nur in Edinburgh, sondern auch in London ankommen soll, lautet: Unser Vereinigtes Königreich steht über jedem undurchdachten, vielleicht aktuell populären Grummeln des Bauches des Volkes. Kein verantwortungsvoller Politiker hat das Recht, dieses Königreich aus einer solchen Laune heraus zu vernichten.
Deshalb ist nun nach Cameron wie bereits am vergangenen Montag geschrieben auch Johnson abschließend durch das Rost der königlichen Gunst gefallen und auf dem Boden der Realität seiner selbstvernichteten politischen Zukunft gelandet – und die Parlamentarier in England wie in Schottland wissen nun, dass weder Fraktionszwänge noch Referenden sie von Ihrer Verantwortung für das Königreich befreien können und sie ihrer Verantwortung für das Königreich gerecht zu werden haben.
Elizabeth – nicht anders ist ihre Einlassung in Edinburgh zu verstehen – hat all jenen Volkstribunen und politischen Gauklern, die sich mit kurzfristigen Stimmungsmehrheiten persönliche Vorteile zu verschaffen suchen, eine vernichtende Absage erteilt. Das Volk kann nicht sich selbst überlassen bleiben – es bedarf der Führung. Und diese liegt bei Politikern, die sich ihrer Verantwortung für Volk und Land bewusst und fähig sind, in dieser Verantwortung bedacht und zukunftsorientiert zu handeln.
Die Schotten ziehen mit der Queen an einem Strang
Die Schotten, die Teil dieses wohlgesetzten Auftritts ihrer Königin waren, haben die Aufforderung verstanden. Der Ball des Scexit als Austritt der nördlichen Inselbewohner aus dem UK liegt im Moment in London. Setzt sich das Unterhaus über den Brexit-Beschluss hinweg, verbleibt Schottland im Königreich und das Königreich in der Europäischen Union. Unterwirft sich der Londoner Souverän hingegen dem Referendums-Beschluss, so vernichtet Britannien das Vereinigte Königreich, scheidet als Klein-Britannien aus der EU und Schottland wird mit dem Einverständnis der Königin seinen Weg in der EU weitergehen.
Die Mahnung der Königin vorrangig an das britische Parlament, nicht unbegrenzt Zeit verstreichen zu lassen, ist dabei von der berechtigten Sorge getragen, den bereits entstandenen Schaden für ihr Königreich und dessen Wirtschaft nicht ins Unermessliche steigen zu lassen. Wie weit die unsägliche Kleingeistigkeit europäischer Spitzenpolitiker dabei eine Rolle spielt, sei an dieser Stelle offen gelassen – doch die mahnenden Worte der Queen richteten sich auch an Juncker, Schulz und Co: Nehmt Euch die Zeit, besonnen abzuwägen und dann erst Beschlüsse zu fassen, die dem Gemeinwohl langfristig dienen – und nicht irgendwelche kurzfristigen Stimmungslagen bedienen.
Die Perfektion, mit der Elizabeth den Balanceakt zwischen öffentlicher Einmischung in die Tagespolitik vermieden und dabei dennoch unmissverständlich die Darlegung ihrer Position hinsichtlich der Zukunft des Königreichs gemeistert hat, nötigt jeden Respekt ab. Und so könnte man angesichts des Hühnerhaufens, als welcher sich die Kontinentaleuropäischen Politik-Eliten dieser Tage präsentiert haben, fast versucht sein, den Wunsch zu formulieren, dass diese Elizabeth II. mit ihrer Weisheit und Zukunftssicht trotz ihres hohen Alters ihren Dienstsitz in Brüssel nehmen möge, um künftig nicht nur ihren britischen Politikern bei Bedarf den Kopf zu waschen, sondern um endlich auch die unerträgliche Verkalkung und Borniertheit aus den Köpfen der EU-Politiker herauszublasen.