„Louise wer?“ titelt ein nordbayerisches Regionalblatt und gibt damit ehrlicherweise zu, den Namen der diesjährigen Literatur-Nobelpreisträgerin noch nie gehört zu haben. SZ, FAZ, Spiegel, Zeit, t-online, ARD, ZDF, RTL, (Liste unvollständig) nennen Louise Glück eine US-amerikanische Essayistin oder Poetin, enthalten aber ihren Lesern und Zuschauern schlicht und einfach vor, dass es sich bei der Prämierten um eine Jüdin handelt. Sie stellen nicht einmal die Frage, wieso eine 1943 in New York geborene Frau 2020 noch immer mit einem deutschen Umlaut im Familiennamen geschrieben wird. Eine lebendige Jüdin oder gar Israeli(n) als Nobelpreisträger(in) passt offenbar nicht ins Konzept. Deshalb wird ihre jüdische Herkunft verheimlicht, vielleicht sogar unterdrückt. Hätte der oder die Person Mahmoud oder Fatma geheißen, Politik und Medien in Berlin und Brüssel hätten Festspiele veranstaltet. Seht her, liebe Integrations-Freunde, es ist doch möglich!
Bei Juden wird es geflissentlich weggelassen. Denn die Feuilleton-Redakteure und ihre Kollegen aus den Wirtschafts- und Wissenschaftsressorts hätten eventuell erinnern müssen, dass über 200 Israeli, Juden oder Menschen jüdischer Abstammung seit 1901 den renommiertesten Preis der Welt erhalten haben. Das sind immerhin 23 Prozent aller Nobelpreisträger. Bei den weiblichen Gewinnern sind es gar 33 Prozent. Von den sechs Physik-Nobelpreisträgern, die die Schweiz für sich in Anspruch nimmt, waren vier Juden. Israeli und Juden stellen aber nur ein bis zwei Promille der Weltbevölkerung. Wie ist das möglich?
Louise Glücks Vorfahren hatten jedenfalls das Glück, rechtzeitig auswandern zu können. Vermutlich hatten sie nicht mehr bei sich als das, was zwei Hände tragen können. Aber sie brachten ihre 3.000jährige Geschichte mit. Eine Geschichte des Lernens und der 613 jüdischen Ge- und Verbote, die in der jüdischen Thora, der Bibel, festgeschrieben sind. Darin geht es nicht um Sozialismus, Kapitalismus, Energiewenden oder Klimawandel. Das Buch der Bücher handelt von Gerechtigkeit, sozialem Verhalten, dem Leben als höchstem Gut und Verständnis für den Fremden. Das reicht bis heute meistens aus, den Lernprozess auszulösen, der im besten Fall zum Nobelpreis führt. Itzchak Bashewitz Singer (Literatur-Nobelpreis 1978) schrieb ausschließlich in Jiddisch. Auf die Frage, warum er in dieser Sprache schreibe, ließ er vernehmen: In welcher Sprache soll ich sonst schreiben, Türkisch etwa?
Juden müssen sich – wo immer die Flucht endet – nicht integrieren. Sie sind die personifizierte Integration durch das gelebte Buch der Bücher. Sie kamen nach der Hölle Europas 1948 zurück nach Israel und bauen dort seither den einzigen demokratischen Rechts- und Sozialstaat des Nahen Ostens auf. Oder sie leben außerhalb Israels (noch) in Frieden und Freiheit in Europa oder in den USA. Dort stellten sie im 20. Jahrhundert Präsidenten in Frankreich (Léon Blum), Außen- und Finanzminister in Deutschland und USA (Walther Rathenau, Henry Kissinger, Michael W. Blumenthal), bauten in Hollywood die Filmindustrie (Metro-Goldwyn-Mayer) auf und in Israel die Technologie von Morgen.
Deutschland mit einer neunfach höheren Bevölkerung und zudem als eine einst weltweit führende Industrienation wirkt in diesem Vergleich eher wie ein Tante-Emma-Laden. Wer im Internet Standards setzen oder zumindest mitbestimmen will, muss digital souverän agieren können. Nach aktuellem Stand ist Deutschland dazu nicht fähig, schreibt Christoph Meinel, Präsident und Vorstand des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam in der FAZ. Die Abhängigkeit von ausländischen IT-Produkten, digitalen Plattformen und Infrastrukturen sei so groß geworden, dass selbstbestimmte Entscheidungen im digitalen Raum kaum noch getroffen werden könnten – das habe nicht erst die Corona-Krise verdeutlicht.
Bundesregierung und Bundespräsident fühlen sich im Umgang mit Juden und Israel am wohlsten, wenn Sie die Gedenkhaltung einnehmen können – in Auschwitz, Yad Vashem, Hanau oder Halle. Da wird der „Nie-wieder“-Wortschatz abgespult und vor der drohenden Gefahr-von-Rechts gewarnt. Wehe, es kommt die Rede auf die aktuelle Nahost-Politik. Da packt Berlin, unterstützt von Brüssel, eine seltsame Individualität aus und wird bockbeinig. Mit dem Iran, dem größten Terrorförderer, muss man im Gespräch bleiben, und am Iran-Deal wird gegen die USA, aber mit China und Russland festgehalten. Die Zwei-Staaten-Lösung wird gepflegt wie eine seltene Pflanzenart. Die Pfleger haben nur noch nicht gemerkt, dass die Pflanze längst verdorrt ist.
Der wohl wichtigste arabische Bruderstaat in der Region, Saudi-Arabien, zeigt tiefe Verärgerung gegenüber der Reaktion der Palästinenser auf die neue Friedens-Initiative. „Die palästinensischen Führungen haben seit Generationen eines gemeinsam: Sie setzen stets auf die falsche Seite, und das hat seinen Preis“, sagt der frühere Geheimdienstchef und Botschafter in den USA , Prinz Bandar bin Sultan bin Abdulaziz aktuell in einem 40-minütigen anklagenden TV-Interview („Al-Arabiya“) gegenüber der palästinensischen Führung in Ramallah und Gaza. Was noch vor wenigen Monaten undenkbar war, nämlich dass arabische Politiker und Medien die palästinensische Sache offen und rückhaltlos kritisieren und in Frage stellen, ist inzwischen eine tägliche Erscheinung. Überall, nur nicht in den deutschen Medien.
In diesen Stunden läuft über die Nachrichtenkanäle: Paul Milgrom (USA) ist einer der beiden Nobelpreisträger 2020 für Wirtschaftswissenschaften. Sein Vater heisst Abraham Isaak Milgrom, seine Mutter Anne Lillian Finkelstein. Lassen wir uns überraschen, wie die Wirtschaftsredaktionen zwischen Hamburg und München den Prämierten ein- und wem sie ihn zuordnen.