Die aktuellen Ereignisse in Minsk haben in Europa und der ganzen Welt eine Welle der Solidarität mit der belarussischen Opposition entfacht. Vor allem auch in Polen, das mit Belarus eine jahrhundertlange Beziehungsgeschichte verbindet. Das östliche Nachbarland gehörte einst zum polnisch-litauischen Imperium. Die Adelsrepublik (1569-1795) reichte in ihrer größten Ausdehnung im 17. Jahrhundert bis nach Lettland und Rumänien. Während des polnisch-russischen Kriegs 1609-1618 stand die Kavallerie der „Rzeczpospolita“ bereits vor den Toren Moskaus. Allerdings entsprach die damalige territoriale Expansion Polens nicht jener Art von Kolonialismus, wie ihn später Russland praktizierte. Unter der polnischen Krone genossen Weißrussen und Ukrainer große Freiheitsrechte. Auch im Vergleich zu den Machtambitionen der absolutistischen Herrscher im Westen Europas war die polnisch-litauische Union für diese Zeit überaus demokratisch. Nicht nur Papst Johannes Paul II. hat sie wiederholt als einen Vorläufer der EU bezeichnet (im Sinne Schumans, nicht Spinellis).
Mehr als ein Gegenentwurf
Zu den fruchtbarsten Kapiteln der polnisch-belarussischen Beziehungsgeschichte gehört zweifelsfrei der Unabhängigkeitskampf gegen Russland. Heute geschieht dies insbesondere auf wirtschaftspolitischer Ebene. In den vergangenen Jahren konnte der launische Kremlchef gezielt Druck ausüben, indem er immer wieder mit den Gashähnen herumspielte. Warschau versucht seit Jahren, das skeptische Orchester in Brüssel zu überzeugen, dass Russland auch künftig an seinem Kurs der wirtschaftlichen Erpressung und politischen Einschüchterung festhalten wird. „Moskau wird nur dann seine Haltung ändern, wenn es den finanziellen Spielraum für Projekte wie Nord Stream 2 verliert“, schreibt Polens Premier Mateusz Morawiecki in einem Gastbeitrag für die FAZ, in Anspielung auf den Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny.
Weitaus mehr als nur ein Gegenentwurf zu Nord Stream 2 ist die von der Visegrád-Gruppe inspirierte Drei-Meeres-Initiative (Trójmorze), ein Wirtschaftsforum aus zwölf baltischen, ost- und südosteuropäischen Staaten, die sich von der Ostsee bis zur Adria und dem Schwarzen Meer erstrecken und vor allem das Ziel verfolgen, sich von der Gasversorgung durch Moskau unabhängig zu machen. Während das Projekt noch vor einigen Jahren von westlichen Journalisten und einigen unverbesserlichen Russland-Romantikern als „Phantasma“ verlacht wurde, nimmt es spätestens seit 2016 deutliche Konturen an. Alljährlich finden bereits Konferenzen statt, an denen auch US-amerikanische Regierungsvertreter teilnehmen.
Allerdings ist „Trójmorze“ mehr als nur ein gegen Russland ausgerichteter Staatenblock im Osten Europas. Es geht um die Schaffung einer gemeinsamen Infrastruktur, folglich den Ausbau eines europäischen Verkehrs- und Eisenbahnnetzes auf einer mitteleuropäischen Nord-Süd-Achse, welche irgendwann die überlebte Ost-West-Achse ablösen soll. Neben dem Baltikum und den Visegrád-Staaten umfasst die Initiative inzwischen Länder wie Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Slowenien. Interesse zeigen auch Österreich und die Ukraine, ein demokratisches Belarus sowieso. Schon jetzt nimmt der längst wahr gewordene Traum vom „Trójmorze“ 27 Prozent der gesamten Landfläche der EU ein. Die ostmitteleuropäischen Länder holen wirtschaftlich nach, deren BIP wächst während der Pandemie schneller als in den „alten“ EU-Mitgliedsstaaten. Deutschland profitiert ebenfalls von den Handelsbeziehungen mit den Drei-Meeres-Ländern.
Trójmorze – eine deutsche Idee?
Historisch gesehen ist diese Initiative nicht neu, wobei Deutschland daran nicht ganz unbeteiligt war. Im Jahr 1915 veröffentlichte der Theologe Friedrich Naumann ein Buch unter dem Titel „Mitteleuropa“, in dem er die Schaffung einer deutschen Einflusszone im Herzen Europas vorschlug. In Polen wiederum, das nach dem Ersten Weltkrieg abermals auf der politischen Landkarte erschien, plädierte der informelle Staatschef Józef Piłsudski für das „Intermarium“-Projekt (Międzymorze), folglich eine erstarkte Konföderation von ostmitteleuropäischen Ländern, die sich gegen die territorialen Ambitionen Russlands behaupten sollte. Daher bemühte sich Piłsudski etwa regsam um gute Beziehungen mit Ungarn und Rumänien. Das Problem an dieser Idee war, dass keine der westeuropäischen Großmächte sie unterstützen wollte.
Der Zerfall des sowjetischen Imperiums und das Ende der bipolaren Welt im Jahr 1989 erweckten bei den einstigen Intermarium-Verbündeten neue Hoffnungen. Im Jahr 1991 wurde der Warschau Pakt aufgelöst, acht Jahre später traten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei. 2004 sind diese Staaten der EU beigetreten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt konnten ostmitteleuropäische Länder wieder gemeinsame Interessen verfolgen. Die Drei-Meeres-Initiative gilt dabei als eine Erweiterung des „Intermariums“, reicht sie doch jetzt bis ans Schwarze Meer. Die heranreifenden Ideen verblieben jedoch lange in den Schubladen „proeuropäischer“ Regierungen, bevor 2016 Kroatiens Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović und Polens Staatschef Andrzej Duda das Projekt offiziell ins Leben riefen. Dabei hoben sie hervor, dass „Trójmorze“ keineswegs als eine Alternative zur EU zu werten sei (wie es von einigen Nord-Stream-Befürwortern weiterhin dargestellt wird), sondern Ziele verfolgt, die lange in dieser Region vernachlässigt wurden.
Es geht vornehmlich um neue Infrastruktur sowie um die Intensivierung wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Insbesondere aber auch darum, EU-Gelder vernünftig zu investieren. Im Jahr 2019 wurde dank der Initiative Polens und Rumäniens ein für die Region immens wichtiges Trójmorze-Investitionsfonds gegründet. Eines der hauptsächlichen Ziele der Drei-Meeres-Initiative ist die Schaffung eines Nord-Süd-Korridors („Baltic Pipe“), welcher auf der Ostsee-Insel Usedom beginnt und in Kroatien endet. Die Realisierung des Vorhabens ist in greifbare Nähe gerückt, weil im polnischen Gashafen in Świnoujście bereits seit einigen Jahren erste LNG-Tanker anlegen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Trójmorze-Projekts ist die „Via Carpatia“, eine Strassen- und Autobahnverbindung, welche die baltischen Länder sowie ganz Ostmitteleuropa mit Griechenland verbinden soll. Bereits im Bau befindet sich die „Rail Baltica“, eine Bahnstrecke, die von Warschau über Kaunas, Riga und Tallin nach Helsinki führt. Die Drei-Meeres-Partner arbeiten jedoch auch an gemeinsamen Maßnahmen gegen Cyberkriminalität. Die Vergangenheit hat bekanntlich gezeigt, dass sogar westeuropäische Parlamente ihr zuweilen schutzlos ausgeliefert sind.
Unterstützung der USA
Ein sicherlich wichtiges Kapitel in der Entstehungsgeschichte von „Trójmorze“ war der Warschau-Besuch von Donald Trump im Juli 2017. Der US-Präsident nahm an der Drei-Meeres-Konferenz teil und sagte dem Projekt seine finanzielle Unterstützung zu. Seitdem hat sich viel getan: Dank der Mühen des damaligen polnischen Chefdiplomaten Witold Waszczykowski konnten Länder wie Deutschland die Initiative nicht mehr ignorieren. Auch Brüssel schenkte ihr plötzlich mehr Aufmerksamkeit. Auf dem Trójmorze-Gipfel in Bukarest im Jahr 2018 war auch der damalige EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker zugegen, der sich gar einige gebührende Worte für diese Idee abringen konnte und als „eine Chance für ganz Europa“ bezeichnete.
Denn auch wenn einige deutsche „Russlandversteher“ immer noch auf unbestimmte Zeit für „Spekulationen“ nicht zu haben sind, wächst auch in der BRD derweil das Interesse an der Drei-Meeres-Initiative, die längst über den Status eines „originellen Vorschlags“ hinausgeht. Der Wert deutscher Exporte in die Trójmorze-Staaten übersteigt inzwischen den Gewinn, den der Außenhandel mit Russland oder Frankreich abwirft. Dennoch fallen vielerorts im Westen die Reaktionen auf die polnische Initiative eher verhalten aus. In den Statements westeuropäischer Politiker sind leider immer noch einige Töne neokolonialer Arroganz (oder einfach nur überheblichen Unwissens) zu vernehmen. Um Europa zu „festigen“ und den Kremlchef bei Laune zu halten, müssen nach ihrer Poetik einige Trójmorze-Staaten „finanziell ausgehungert“ werden. „Bevor sie uns angreifen, sollten sie uns lieber die Jahre zurückgeben, die sie uns genommen haben“, ärgerte sich der polnische EU-Abgeordnete Patryk Jaki (PiS).
Wie recht er hat. Einst hat der Westen tatenlos zugeschaut, wie Polen und Ungarn östlich des Eisernen Vorhangs verschwanden und jahrzehntelang wirtschaftlich stagnierten. Nun sollen diese Länder noch einmal „kolonisiert“ werden, diesmal von der Brüsseler Zentrale aus, im Geiste eines linksgrünen „Fortschritts“. Die Regierungen der Trójmorze-Staaten täten gut daran, an ihren Zielen weiterhin festzuhalten – auch ohne die „Unterstützung“ von Frau Barley.
Dr. Wojciech Osiński ist Auslandsredakteur des liberal-konservativen Wirtschaftsmagazins „Gazeta Bankowa“ sowie des Polnischen Hörfunks. Für die Online-Zeitung „Tygodnik Solidarność“ schreibt er über Politik und Kultur. Zu seinen journalistischen Schwerpunkten gehört die Ideen- und Wirtschaftsgeschichte Osteuropas.