Heinrich Heine rang sich zu dem Glauben durch, dass den Kommunisten die Zukunft gehören würde, und als habe er die kulturzerstörerische Bewegung des Culture Cancelling vorausgesehen, räumte er schließlich ein, dass er nur mit „Schauder und Schrecken … an die Zeit, da diese finsteren Bilderstürmer zur Herrschaft gelangen werden“, denkt. Sie werden mit ihren „schwieligen Händen … erbarmungslos alle Marmorstatuen der Schönheit zerbrechen“, die seinem „Herzen so teuer sind“. Sein „Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dazu dienen, Tüten zu drehen, in die er den armen, alten Frauen der Zukunft Kaffee und Tabak schütten wird“. In Heine zumindest rangen Ideologie und Ästhetik noch miteinander. In den modernen Culture Canclern ringt nichts mehr miteinander, weil sie nicht mehr wissen, was Ästhetik ist.
Die Marmorstatuen und Denkmäler werden vor das Standgericht der Ideologen gezerrt, und nicht die Gewürzhändler zerreißen die Bücher, sondern die politisch-korrekten Zensoren, deren Lektüre einzig im Aufspüren von Begriffen und Worten besteht, die zwar über eine lange Existenz in der Sprachgeschichte verfügen, aber nun unter das Sage- und Leseverbot fallen und die man deshalb durch andere ersetzt.
Aus „Negerkönig“ wird ein „Südseekönig“
Aus Astrid Lindgrens „Negerkönig“ machte der Oetinger Verlag den „Südseekönig“. Steht zu erwarten, dass eifrige Zensoren auch die Werke der deutschen Klassik, die Werke von Thomas Mann und Hermann Hesse, im Grunde die ganze Literatur nach Worten und Schilderungen durchschnüffeln, die nicht den politisch-korrekten Sprech- und Schreibgeboten entsprechen? Verlage, die das exekutieren, entweder aus Opportunismus oder aus Überzeugung, sind keine Institutionen der Freiheit, sondern Anstalten der Unfreiheit.
Statuen und Denkmäler ohne Schwielen an den Händen zerstört
Aber Heinrich Heine irrte auch, denn nicht von Menschen mit „schwieligen Händen“ werden die Marmorstatuen und Denkmäler zerbrochen, beschädigt oder beschmiert, sondern von Menschen, deren Hände keine Schwielen aufweisen, weil sie mit ihnen niemals gearbeitet haben. Womit wir es bei dem Sturm auf unsere Kultur und unsere Geschichte, im Grunde auf unsere Existenz, auf die Art und Weise, wie wir leben, was wir für unsere Kinder erhalten und verbessern und weiterentwickeln wollen, zu tun haben, ist die Autoimmunerkrankung unserer Kultur. Inzwischen muss man leider wieder daran erinnern. Nicht zuletzt für die Freiheit gingen die Menschen in Ostdeutschland 1989 auf die Straße, dafür, sagen zu können, was sie sagen wollten, und lesen zu dürfen, wonach ihnen der Sinn stand, sich nicht mehr die Bewertung von Literatur als „Schmutz und Schundliteratur“ vorgeben zu lassen.
Angst vor linker Gewalt lässt Veranstalter einknicken
Schauspieler weigern sich, Stücke von Shakespeare zu spielen, weil in ihnen zu viel Gewalt geschildert wird. Jüngst sorgte die Ausladung der Kabarettistin Lisa Eckhart vom Harbour-Literatur-Festival in Hamburg für Schlagzeilen, weil einige Autoren nicht mit Lisa Eckhart gemeinsam auf einem Podium zu sitzen wünschten. Unlängst setzten Autoren ihren Verlag unter Druck, um die Publikation der deutschen Übersetzung von Woody Allens Autobiografie zu verhindern. Dem renommierten Leipziger Maler Axel Krause teilt der BBK Leipzig e.V. mit: „Wir bedauern mitteilen zu müssen, dass der BBK Leipzig e. V. auf deine Teilnahme an der Ausstellung Viola! 30 Jahre BBK Leipzig e.V. verzichten muss, um die maximale Sicherheit für die Werke aller Beteiligten zu gewährleisten. Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass es unverantwortlich wäre, der veränderten … Versicherungslage nicht Rechnung zu tragen.“ Aus Angst vor Leipzigs linksextremistischer Szene, die ihr Demokratieverständnis und ihre Friedfertigkeit vor kurzem in Leipzig Connewitz wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, trug der Verband der Versicherungslage Rechnung.
Um Geschichte, Kultur und Wissenschaft dreht es sich längst nicht mehr, auch nicht um den rationalen, auf Argumenten beruhenden Diskurs, denn die an der FU Berlin zu Fragen der Diversität „forschende“ Chan de Avila stellt klar: „Es gibt vor allem in Deutschland noch immer diese Idee, Wissenschaft sei objektiv und neutral.“
„Der Hauptfeind ist letztlich der Rationalismus, die Vernunft und die Aufklärung.“
Im Grunde dreht es sich ausschließlich um die Frage der Macht. Nachdem der Linken das Subjekt des revolutionären Kampfes, nach klassisch-marxistischer Lehre das Proletariat, abhanden kam, halfen die Liberalen um den Philosophen John Rawls aus, für den eine Gesellschaft dann als gerecht gilt, wenn „die Gesetze zum Wohle der am stärksten benachteiligten Gruppe“ gestaltet worden sind. Alles, was als unterdrückt angesehen wird: die People of Color, die Homosexuellen, die Angehörigen der 666 Geschlechter werden zum neuen revolutionären Subjekt erhoben, zum Maß aller Dinge.
Aber vielleicht ist der irrationale Furor, den wir derzeit erleiden, auch eine Chance. Ist unsere Kultur nicht zum Museum geworden, zu etwas, das man eigentlich nicht mehr benötigt und zu vergessen beginnt? Schleppen wir nicht achtlos inzwischen die europäische Geistes- und Kunstgeschichte mit uns herum? Ist der Versuch, die Kultur Europas zu vernichten, indem sie unter den Verdacht der Unmenschlichkeit gestellt wird, nicht vielleicht eine freilich unbeabsichtigte Aktualisierung? Wird sie durch die Museumsstürmerei, dadurch, dass die Kultur buchstäblich auf die Straße gesetzt wird, nicht wieder aktuell, weil sie sich behauptet als letztes Residuum unserer demokratischen Gesellschaft und der Freiheit?
Wollen die Bilderstürmer das Schlechte und erreichen dennoch nur „das Gute“?
Erreichen die neuen Klassenkämpfer, die Culture Canceler nicht das Gegenteil von dem, was sie so inbrünstig ersehnen, indem sie die museale Bedeutungslosigkeit aufsprengen und auch dadurch Kultur und Geschichte wieder aktuell werden, weil sie zum Kampfplatz gemacht wurden? Wird uns in all der dumpfen Bilderstürmerei nicht wieder zu Bewusstsein gebracht, was wir eigentlich verlieren? Nämlich uns. Muss man den Dekadenten, den armselig Übersättigten, arm an Kultur, aber übersättigt an Konsum und Wohlleben, nicht eigentlich dankbar dafür sein, weil sie die Vitalität dessen, was sie zu bekämpfen und zu vernichten trachten, freigelegt haben?
In der ZEIT fand sich unlängst ein Artikel, in dem Wege empfohlen werden, den Zorn zu besiegen. Als größten Feind und mithin Quell des Zorns machte die ZEIT „das eigene Gedächtnis“ aus und tröstete: „Das kann man überwinden.“ Wollen wir wirklich unser Gedächtnis verlieren? „Singe mir, oh Muse, den Zorn des Peleiaden Achilleus.“ Sie wollen vernichten, was sie nicht mehr verstehen und ahnen dabei nicht, dass es auch den Heiligen Zorn gibt. Aus Freude aber, und aus Zorn, aus dem Geist der Freiheit ist unser Gedächtnis gemacht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Tagespost – Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur.