Tichys Einblick
Unhistorische und unaufrichtige Feierstunde

Angela Merkel lacht

Welche Ostdeutschen schafften es eigentlich in den letzten 30 Jahren nach oben? Und warum? Das wäre eine lästige Frage zur Einheitsfeier gewesen. Aber keine schlechte.

7. Oktober 1989: Die Staats- und Parteiführung feiert den 40. Jahrestag der Gründung der DDR

imago images / Sven Simon

Feierstunde zum Jahrestag der Deutschen Einheit, Potsdam. Günter Jauch steht auf der Bühne, um die DDR zu erklären. Der Moderator erzählt, wie er als Teenager das Weltjugendtreffen 1973 in Ostberlin als Gast miterleben konnte. Er sagt: „Ich habe die ganze DDR damals schon erfahren.“ Die Diskussionen mit den anderen Jugendlichen seien ziemlich locker gewesen. Aber er habe gemerkt, „die Leute von Horch und Guck waren immer mit dabei“.
„Nicht so schön“, sagt seine Co-Moderatorin.

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Dann die Gesprächsrunde zum Festakt des 30. Einheitsjubiläums. Jauch setzt sich und beginnt mit seinen gründlichen vorbereiteten Fragen. Ihm gegenüber auf der Bühne sitzen Ronja Büchner, 30, von Jauch vorgestellt als erstes Kind der deutschen Einheit, geboren am 3. Oktober 1990 in Leipzig, der Musiker Norbert Leisegang, 60, Sänger der Gruppe „Keimzeit“, und die frühere Bundesjugend- und Familienministerin Ursula Lehr, 90. Dem Organisationsteam lag offenbar an den Altersmaßen 30-60-90; Ursula Lehr sitzt außerdem da, weil sie am 9. November 1989, als die Mauer fiel und Helmut Kohl beim Staatsbesuch in Warschau die Nachricht bekam, zur deutschen Delegation gehörte. Sie übernimmt auf der Festaktbühne sozusagen die Rolle der Augenzeugin.

Jauch beginnt mit Ronja, dem Einheitskind. Sie sagt oft „ja, genau“. Ihr Status als erstes Baby Gesamtdeutschlands wirkt übrigens ein bisschen wackelig; genau der wurde nämlich in der Vergangenheit auch zwei anderen zugeschrieben, einem Hallenser, geboren vier Minuten nach Mitternacht, und einer Görlitzerin, die am 3. Oktober 1990 null Uhr fünf auf die Welt kam. Aber vielleicht war Ronja tatsächlich schneller. Jedenfalls erzählt sie, in ihrer Familie habe es damals Diskussionen über die Wiedervereinigung gegeben, „Kapitalismus, ja, genau, das sah man ein bisschen kritisch.“ Die Regie zoomt um auf Claudia Roth im Publikum. Sie lächelt versonnen. Ihre Ansichten zu sozialistischen Werten und der Vereinigung hatte Ronja Büchner schon einmal fast genau so in der ZEIT zu Protokoll gegeben, obwohl beides ein gutes Stück vor ihrem Erlebnishorizont liegt.

Zeitgeschichte im 30-60-90-Format

Als nächstes fragt Jauch den Leadsänger von Keimzeit ab. Von ihm und seiner Band muss man wissen, dass sie in den späten Achtzigern in der DDR den Status eines nicht mehr so geheimes Tipps besaß als Gruppe, die außerhalb der staatlichen Musikorganisation durch Kneipen tourte, Bluesrock ohne Linksromantik spielten und einmal ihre Lizenz verlor. Ihr berühmtester Song, Kling Klang, wurde ab 1990 von vielen Radiostationen und Discos gespielt. „Komm, lass uns heute noch nach England fliegen“, viele in der DDR Geborenen (auch der Autor) verstanden das damals als eine kleine Hymne auf die neue große Freiheit. Der Moderator fragt allerdings nicht nach Leisegangs Musik, sondern will von dem Musiker eine Armeeschnurre hören: „Das haben Sie im Vorgespräch erzählt.“ Wie er nicht vorschriftsmäßig grüßte. Leisegang hat erkennbar keine Lust, die NVA-Anekdote abzuliefern, er verweigert sozusagen wieder einmal den Salut. Weswegen Jauch flott zu Ex-Ministerin Lehr weiterhoppelt. Wie sie es denn sehe, dass Ostdeutsche auch 30 Jahre nach Vereinigung kaum Spitzenposten bekleiden: Nur eine Universitätsrektorin, kein Vorstandsmitglied und kein Aufsichtsrat eines Dax-Konzerns. Was, nebenbei, nicht ganz stimmt, Hiltrud Werner, geboren 1966 in Thüringen, sitzt im Vorstand von VW. Aber Beispiele wie sie gibt es tatsächlich selten.

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Lehr versteht die Frage erst nicht, sie antwortet dann, das liege eben an der unterschiedlichen Sozialisation, viele Ostdeutsche hätten eben ein Problem mit der selbständigen Lebensplanung. Zum Ende der Runde liest der Befrager noch ein paar Zahlen zum unterschiedlichen Rentenniveau ab. Ob die Runde das so in Ordnung finde? „Nicken genügt.“ Dann noch: Ost-Männer sterben statistisch 1,3 Jahre früher als Männer im Westen, referiert Jauch. In Leisegangs Kling Klang geht es um eine Fahrt nach Feuerland, vielleicht denkt er deshalb in diesem Moment an Bruce Chatwins Reisebuch „Was soll ich hier“, oder ihm fällt in dieser sich endlos schleppenden Zehn-Minuten- 30-60-90-Runde gerade das Stichwort Lebenszeit ein und warum man sie nicht unbedingt auf Staatsfestakten verbringen sollte. Jedenfalls sagt er zum rechnerischen Frühableben der Ostmänner, er wisse nicht, „ob das nun ein Fluch ist oder ein Segen“.

Kameraschwenk: Angela Merkel im Publikum lacht.

Wer auf der Bühne fehlt

Die Frage, warum es heute nur wenige Ostdeutsche in gesamtdeutschen Führungspositionen gibt, bleibt an diesem Feiertag von Potsdam unbeantwortet im Saal hängen. Die nächste Frage, woher die meisten der relativ wenigen Ostdeutschen in höheren Positionen 2020 kommen, stellte der Moderator gar nicht erst. Was schade ist, denn die Antwort fällt ganz interessant aus. Dazu später. Aber es bleibt auch die Frage offen: warum nimmt niemand auf der Bühne Platz (und auch, so weit die Kamera schwenkt, niemand im Publikum), der oder die 1989 und 1990 dafür sorgten, dass die DDR zusammenkrachte? Ein Christoph Wonneberger
vielleicht, der 1989 die Montagsdemonstrationen mitorganisierte? Ein Siegbert Schefke, der die entscheidende Demonstration am 9. Oktober heimlich filmte und die Aufnahme in den Westen schmuggeln ließ, wo sie dann in den Nachrichten lief?

Katrin Hattenhauer aus Leipzig, die am 4. September 1989 vor der Leipziger Nikolaikirche das erste Transparent der Montagsdemonstranten überhaupt hochhielt, auf dem stand: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“. Dafür saß Hattenhauer gut vier Wochen im Knast. Es gäbe auch andere frühere politische Häftlinge, beispielsweise Edda Schönherz, in den Siebzigern Nachrichtensprecherin des DDR-Fernsehens, die sich 1974 in der bundesdeutschen und der US-Botschaft von Budapest nach der Möglichkeit erkundigte, die DDR zu verlassen. Dabei wurde sie observiert, und dafür kam die für drei Jahre in das Frauengefängnis Hoheneck. Sie spricht heute über Hoheneck, übrigens ohne jeden Hass, wenn sie irgendwo eingeladen wird, was generell nicht so oft und bei dieser Feierstunde nicht passiert. Dann aus der symbolischen Symmetrie auf der Bühne nichts geworden, ein Einheitskind, einmal Ost- , einmal Westbiografie, 30-60-90. Vielleicht wären auch ein paar aus Sicht von Angela Merkel nicht hilfreiche Sätze gefallen.

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Auch die großen Medien bringen zum Feiertag kein Interview mit Wonneberger, Schönherz oder jemand anderem mit ähnlichem Lebenslauf. Zum 3. Oktober veröffentlicht die WELT einen Text über Bautzen und dessen Problem mit Rechtsradikalen. Die Existenz der DDR-Haftanstalt wird darin kurz in einem Satz erwähnt. SPIEGEL Online sendet ein Interview mit Petra Pau, heute stellvertretende Bundestagspräsidentin, früher Mitglied im Zentralrat der DDR-Staatsjugendorganisation FDJ.

Heidi Bohley hätten die Organisatoren der zentralen Einheitsfeier auch einladen können, Mitgründerin des neuen Forum in der DDR im Herbst 1989. Allerdings steht in Bohleys Kalender an diesem Tag schon ein Termin für einen anderen Festakt, über die viele Medien davor und danach mehr berichten als über die zentrale Feier in Potsdam: die Feierstunde im sächsischen Landtag. Parlamentspräsident Matthias Rößler hatte den CDU-Politiker Arnold Vaatz als Festredner eingeladen, vor 30 Jahren einer der Mit- beziehungsweise Wiedergründern des Landes Sachsen, zu DDR-Zeiten ein halbes Jahr Gefängnisinsasse, weil der den NVA-Reservedienst verweigerte. Die Fraktionen von SPD, Grünen und Linkspartei kündigten vorher an, wegen Vaatz der Feierstunde fernzubleiben. Als Grund führten sie unter anderem Vaatz’ Kritik an der Energiewende an, auch einen Meinungsartikel von ihm auf „Tichys Einblick“, in dem er die Corona-Maßnahmen der Regierung zwar unterstützt, die Verdammung aller Corona-Demonstranten von Berlin als Rechtsradikale und Covidioten aber kritisiert und – was einige besonders empört – in der medialen Behandlung der Demo Anklänge an die DDR erkennt.

Altes Muster, neuer Anstrich

Diesen Ansichten, meint der SPD-Landtagsabgeordnete Frank Richter vor der Feierstunde, „muss man widersprechen“. Weil das aber bei einem Festakt nicht möglich sei, müsse die Fraktion eben fernbleiben. Was ihn daran hindern sollte, Vaatz für dessen vergangene Aussagen zu kritisieren, sagt Richter nicht. Und die Rede des CDU-Politikers, von der er weiß, dass man ihr widersprechen muss, kann er zu diesem Zeitpunkt nicht kennen. An diesem Tag, meint Richter, sollte jemand reden, der „eint und nicht spaltet“.

Unfreiwillige Selbstdarstellung
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Wie müsste eigentlich so eine Rede zur deutschen Einheit aussehen, die alle eint, und an der niemand etwas auszusetzen hat, von der AfD, die als größte Oppositionspartei im Dresdner Landtag sitzt, bis zur Linkspartei? Eine Beschreibung des Wetters an diesem 3. Oktober? Aber es geht ja nicht um die AfD, die das rechte Ende des Spektrums im Parlament markiert, sondern darum, dass nach Ansicht der drei linken Parteien nur als Festredner in Frage kommen, wer schon vorher ihre Zustimmung findet. Die Linkspartei-Fraktion versucht sich per Twitter an dem Namenswitz, die Veranstaltung sei „eine Vaatz“, was irgendwie heißen soll: eine Farce.

Vaatz, seit 2002 einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion, vorher Minister in Sachsen, gehört zu einer sehr raren Sorte, nämlich zu den Ostdeutschen, die aus der Opposition stammen und es nach 1990 auf eine Führungsposition schafften. Zwar nicht in Universitäten und Dax-Konzernen, aber anderswo.

Leute mit ostdeutschem Lebenslauf und einer kleinen oder größeren Macht gibt es einige. Ihre Biografien sind interessant. Allerdings ähneln sie einander auch.
Die Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks Carola Wille etwa steht für viele, die aus einer Familie der DDR-Elite stammen und selbst eine Laufbahn einschlugen, die ungebrochen nach oben führte. Wille ist Tochter des letzten SED-Bezirkschefs von Karl-Marx-Stadt Siegfried Lorenz, der ab 1986 im Politbüro saß, dem Machtzentrum der DDR. Sie promovierte 1984 an der Universität Jena zum Thema „Der Rechtsverkehr in Strafsachen zwischen der DDR und anderen sozialistischen Staaten unter besonderer Berücksichtigung der Übernahme der Strafverfolgung“. In ihrer Doktorarbeit hieß es: „Die Vorzüge des Sozialismus sind auch im internationalen Rahmen umfassend zur Geltung zu bringen.“

Von Jena wechselte sie an die Universität Leipzig, wo sie Medienrecht lehrte. Dort schrieb sie unter anderem zusammen mit einem Staatssicherheitsoffizier im besonderen Einsatz eine Zusammenfassung der „Internationalen Konferenz zu aktuellen Fragen des Revanchismus in der BRD“.

Einseitiges Echo zum Festakt
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Nach dem Kollaps der SED-Herrschaft wechselte sie kurz in die Leipziger Stadtverwaltung, von dort in den frisch gegründeten Mitteldeutschen Rundfunk. Natürlich war ihre Laufbahn ab 1990 nicht von vorn herein durch ihre Vergangenheit definiert. Aber sie schimmert eben durch wie ein altes Wandmuster unter dünner Übermalung. Wille amtierte von Januar 2016 bis Dezember 2017 turnusgemäß als ARD-Intendantin. In dieser Zeit gab sie das berühmte gewordene ARD-„Framing-Manual“ bei Elisabeth Wehling, die sich als „kognitive Linguistin“ bezeichnet, in Auftrag. Dem Papier verdankt die Öffentlichkeit den innovativen Begriff ‚Faktenargument’:

„Wenn Sie Ihren Mitbürgern die Aufgaben und Ziele der ARD begreifbar machen und sie gegen die orchestrierten Angriffe von Gegnern verteidigen wollen, dann sollte Ihre Kommunikation nicht in Form reiner Faktenargumente daher kommen, sondern immer auf moralische Frames aufgebaut sein.“

Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden in dem Manual zu „Gegnern“, die Anstalten der ARD zu „Gemeinwohlmedien“. Bei ARD und ZDF gehört Wille mit ihrer Karriere nicht zu den Exoten. Ebenfalls im MDR amtierte bis 2012 Udo Foht als Unterhaltungschef, ein ehemaliger Chefredakteur des DDR-Fernsehens und IM der Staatssicherheit. Obwohl schon seit 2001 seine MfS-Tätigkeit gerichtsnotorisch feststand, durfte er noch11 Jahre bleiben, bis er über eine bis heute nicht aufgeklärte senderinterne Finanzaffäre stürzte. Ähnlich verlief der Weg von Hagen Boßdorf, ehemals Reporter bei Radio DDR, ab 2002 Sportkoordinator der ARD, laut Stasi-Akten als IM „Florian Werfer“ auf eine Göttinger Studentin angesetzt, die dem MfS interessant schien, weil sie in den westdeutschen Staatsdienst strebte. Am Ende verlor er den Job als Sportkoordinator eher wegen einer Schleichwerbeaffäre. Heute arbeitet er als Berater, 2019 organisierte er den von ARD und ZDF übertragenen Sportwettbewerb „Finals Berlin“ mit.

Kein Blick nach vorn
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Die bundesweit wahrscheinlich einflussreichste Figur mit ähnlicher Vergangenheit heißt Anetta Kahane, Tochter des früheren Chefkommentators im „Neuen Deutschland“ Max Kahane; sie diente dem MfS als IM „Victoria“, berichtete laut einem Gutachten des Historikers Hubertus Knabe intensiv über Personen ihrer Umgebung und konnte deshalb nicht wie gewünscht Ausländerbeauftragte von Berlin werden. Stattdessen entwickelte sich die von ihr gegründete Amadeu-Antonio-Stiftung von einem kleinen Verein zu einer mit Politik und Medien vernetzten Organisation, die 30 Mitarbeiter beschäftigt und ein eigenes Forschungsinstitut unterhält. Die Finanzierung des Instituts aus dem Bundeshaushalt erhöhte sich innerhalb weniger Jahre auffällig, 2010 waren es gerade 178.000 Euro, 2017 schon fast eine Million.

Die überwiegend von der Regierung finanzierte AAS beeinflusst wiederum Gesetzgebungsverfahren, etwa das Zustandekommen des Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Dessen Verschärfung, beschlossen im Sommer 2020, ein Gesetz, das Juristen des Bundestages und des Bundespräsidialamtes für verfassungswidrig halten, begründete Justizministern Christine Lambrecht ganz wesentlich mit einer Untersuchung des AAS-eigenen Forschungsinstituts. Dass sich Kahanes Stiftung wie eine politische Plattform verhält und dabei auch Falschinformationen verbreitet, beeinträchtigte die Finanzierung durch Steuermittel bisher nicht.

Unter den Politikern mit Erfahrung im DDR-Machtapparat finden sich auch einige Kabinettsmitglieder. Etwa Thüringens Sozialministerin Heike Werner, die ihre Laufbahn bei der FDJ-Kreisleitung Zwickau begann. Ihr Kollege, Bildungsminister Hartmut Holter, wie Werner Mitglied der Linkspartei, amtierte früher als Betriebsparteisekretär und absolvierte die Parteihochschule der KPdSU in Moskau. Berlins Innensenator Andreas Geisel gehörte der SED von 1986 bis 89 an, dann wechselte er zur SPD. Eine Presseanfrage zu früheren MfS-Kontakten beantwortete er nicht.

Einheitsgewinner

Bei den Aufgelisteten handelt es sich nur um die Prominentesten im medial-politischen Getriebe, die aus dem Unter- und Mittelbau der DDR kamen und weitermachten. Was umso erstaunlicher wirkt angesichts der Größe des damaligen Milieus. Die SED zählte 1989 2,3 Millionen Mitglieder und Kandidaten bei gut 17 Millionen DDR-Bürgern. Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi gab es am Ende 189.000, also nur etwas mehr als ein Prozent der Bevölkerung. Auch Funktionsträger in der FDJ – wie Petra Pau, Angela Merkel und Katrin Göring-Eckardt – bildeten rein nach Zahlen eine bescheidene Minderheit. Aus diesem relativ kleinen Personalpool schafften es also geradezu sensationell viele in der Bundesrepublik weit nach oben. Wie und warum, das wäre eine unharmonische Frage auf der Einheitsfeier gewesen. Aber keine schlechte.

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Und wie viele Ostdeutsche in höheren Ämtern stammen eigentlich heute, nach 30 Jahren Einheit, aus der DDR-Opposition? Arnold Vaatz, der CDU-Fraktionsvize und Redner von Dresden, muss eine Weile nachdenken. In seiner Fraktion, sagt er fällt ihm noch der sächsische Bundestagsabgeordnete Andreas Lämmel ein, allerdings einfacher Parlamentarier. Roland Jahn, der in der DDR als Oppositioneller im Gefängnis saß und 1983 ausgebürgert wurde, leitet heute die Stasi-Unterlagenbehörde. In der CDU gibt es noch Günter Nooke, ehemals Mitgründer des „Demokratischen Aufbruch“ in der DDR, dann Grüner, später Christdemokrat und heute Afrikabeauftragter der Kanzlerin.

Nooke redet etwas anders als die meisten Hauptstadtpolitiker, was auch daran liegt, dass er an Wochenenden oft zurückfährt in seinen Geburtsort Forst an der polnischen Grenze. Keine wohlhabende Gegend, demnächst soll die Braunkohlewirtschaft dort planmäßig stillgelegt werden, der letzte verbliebene Industriezweig. Nooke sagt, er könne die Frustration vieler Leute dort verstehen. Auch die Wut über die Windparks, von denen nur wenige profitieren, während der Wert der Häuser ringsum dadurch noch weiter fällt. Zurzeit organisiert er Unterstützung für ein Laufwasserkraftwerk im Kongo. Das wäre, sagt er, eine riesige Chance. Entwicklung am Ort, die vielleicht die Wanderung nach Europa bremsen könnte. Nooke spricht auch etwas anders über afrikanische Länder als andere Politiker. Er meint, nicht ausschließlich der Westen sei an den Problemen des Kontinents schuld. Und verweist auch auf die hohe Geburtenrate vieler Länder. Schon das brachte ihm den Vorwurf von Lobbygruppen ein, rassistisch zu sein. „Das ist doch unter der Wahrnehmungsschwelle geblieben“, meint der Beauftragte. Er nennt sich selbst ganz gern einen Lausitzer Granitschädel, eine Bezeichnung für die Leute dort, die sich so leicht nicht umkegeln lassen. Aber ob er den Posten des Afrikabeauftragten nach der Wahl behält, ist offen. Mit Roland Jahn endet die Zeit der vom Bundestag gewählten Chefs der Stasiunterlagen-Behörde (die einzige, an deren Spitze traditionelle ein Ostdeutscher ohne SED-Vergangenheit stand). Im Sommer 2021 geht der Aktenbestand ins Bundesarchiv über.

Arnold Vaatz will 2021 nicht wieder für den Bundestag kandidieren. Seine Außenseiterrolle reicht ihm schon jetzt manchmal. In dem Keimzeit-Song heißt es: „Bloß von hier weg, so weit wie möglich.“ Allerdings geht es auch in dem Lied wieder zurück, nach Hause. Nach seiner Rede in Dresden, sagt er, habe er über 250 Zuschriften per Mail und SMS bekommen. „Werde ich alle noch beantworten müssen“, brummt er. „So weit ich sie bisher gelesen habe, war keine negative dabei.“

Der Vorsitzende der Linkspartei-Fraktion im sächsischen Landtag Rico Gebhardt nennt Vaatz ein „politisches Irrlicht“. Das sagen auch viele kanzleramtstreue Unionsabgeordnete so. Er, Gebhardt, könne „überhaupt nicht erkennen, was Vaatz für diese Festrede qualifiziert“.

Als Vaatz gerade auf Bewährung entlassen worden war und ein halbes Jahr Zwangsarbeit hinter sich hatte, 1984, begann Gebhardt seine Laufbahn als hauptamtlicher FDJ-Sekretär.

In seiner Rede sagte der CDU-Mann, kein friedliches Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts habe eine solche Wirkung gehabt wie die Revolution von 1989, „von Berlin bis Wladiwostok“. Obwohl ihn andere irrlichtern sehen, fühlt er sich als Sieger, alles in allem. Er hat dafür gute Gründe.

Auch Rico Gebhardt von den Linken sieht sich vermutlich als Gewinner der Einheit.

Vielleicht sogar mit besseren Gründen, angesichts der Ausgangslage vor dreißig Jahren.

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