Ja, ich finde es auch schlimm. Ja, ich halte mich daran. Trage Maske, desinfiziere mir die Hände, beachte alle Hygienevorschriften, obwohl das Wort mir missfällt, sofern es sich auf zwischenmenschlichen Umgang bezieht. Aber lassen wir das, ist schon recht. Ich habe auch keine Demos von Querdenkern besucht, obwohl Querdenken eigentlich meinem Ideal von politischer Meinungsbildung entspricht und ich diesen Leuten allein schon dafür dankbar bin, dass sie das Wort in Umlauf gebracht haben.
Dennoch teile ich mit ihnen und mit vielen anderen, glaube ich, dieses dumpfe Gefühl: Irgendetwas stimmt hier nicht. Gibt es irgendein Wort, einen Namen, den ich in den vergangenen Monaten so oft höre wie Corona? Es ist ein schönes Wort, ein schöner Klang. Wie ein weiblicher Vorname aus der Goethezeit. Er hätte eine Renaissance verdient, wäre es nicht der Name für ein Krankheit. Ein gutes Wort für ein böses Ding. Eigentlich heißt es ja wohl Covid-19. Doch irgendjemand hat sich Corona einfallen lassen beim Anblick des millionenfach vergrößerten Virus. Klingt nicht gerade chinesisch. Und sieht es wirklich aus wie ein Strahlenkranz? Ginge nicht genauso gut Stachelschwein? Da hat ein Texter wohl alles richtig gemacht. Und sogar sprachenübergreifend. Corona. Corona. Corona. Mein Ohr filtert den Klang aus sämtlichen Beschallungen heraus, medialen und realen. Am dichtesten, wenn der Fernseher am frühen Abend läuft. Ich muss gar nicht mehr hinsehen, um das Wichtigste mitzukriegen. Fallstatistik, mahnende Worte politischer Akteure und Kommentatoren. Ich zweifle gar nicht an ihrem Wahrheitsgehalt. Obwohl: Woran bemisst sich die Wahrheit mahnender Worte? Soll jeder und jede für sich ermessen. Doch gerade das scheint nicht das Thema.
Obwohl: Woran bemisst sich die Wahrheit mahnender Worte? Soll jeder und jede für sich ermessen. Doch gerade das scheint nicht das Thema.
Das Thema mit dem schönen Namen ist nämlich ein anderes. Es ist der Tod, der an Corona gestorben wird. So let´s talk about death.
Wäre Corona nicht tödlich – was wäre es dann? Eine Art schlimmerer Schnupfen? Sagen wir es deutlich, auch wenn es nahezu verboten ist: ein grippaler Infekt. Doch es kommt vor, dass im Wirkungsbereich des Virus gestorben wird. Wir haben uns angewöhnt zu sagen: an oder mit. Und wir zählen die Toten, wie wir die Toten eines Terrorakts zählen oder, sagen wir, eines Erdbebens oder Tsunamis.
Solche retten Menschenleben. So spielt es sich ab. Bergwacht und Feuerwehr. Oder wer sonst zufällig da ist und handelt, wo andere in Lebensgefahr sind. Sie riskieren ihre eigene Sicherheit, um andere zu retten. Sie tun genau das Gegenteil von dem, was wir tun: Wegbleiben, uns hinter Masken verstecken, Distanz halten. „Zusammen sind wir stark“ lese ich auf Transparenten in meiner Nachbarstadt. Was ist gemeint? Wir vereinzeln uns. Meiden Zusammenkünfte.
Wagen wir es wirklich zu sagen: Wir retten Menschenleben, indem wir uns an das geforderte Reglement halten? Ist das unser Ernst? Irgendetwas ist schief und falsch an dem Pathos, an das die Medien uns gewöhnt haben.
Es geht – nein, um keinen Schnupfen. Wenn der Tod in Sicht kommt, wird es immer ernst. Aber es ist eben kein Tod, der seine Opfer wahllos fordert. Er bevorzugt die Alten. Die Jungen verschont er weitgehend. Die mittleren Altersgruppen streift er und lässt es bei Ausnahmen bewenden. Er droht ihnen von weitem, wie es der Tod für die Menschen in der Mitte des Lebens gewöhnlich hält, ohne allerdings Schonung zu garantieren. Es ist ein ziemlich normaler Tod ohne Heldenpotential. Weder der Kampf dagegen bringt Helden hervor, noch das Sterben selbst. Bei allem Respekt für die Ärztinnen und Pfleger.
Dies ist der Tod, der uns alle irgendwann erwartet, insofern wir in keine Feuersbrunst, keinen Tsunami geraten und Verkehrsunfälle andere betreffen. Er wartet auf uns, bis alles Mögliche zusammenkommt, Herzschwäche, hohes Alter, Zellmutationen, die uns als Krebsgeschwulst heimsuchen, und vieles andere. Und manchmal ist auch ein Virus dabei, gegen das es noch keinen Impfstoff gibt. Es kann erschwerend hinzukommen und unsere Immunkräfte schließlich lahm legen. Dann sterben wir. Die Wahrscheinlichkeit, dass es auf diese Weise geschieht, ist zur Zeit wahrscheinlich leicht erhöht. Aber so ist es: Das Altwerden, wie Hendrik Broder kürzlich gesagt hat, kennt keine Überlebenden. Wie das Leben selbst. Es kennt auch keine Überlebenden. Ein spätgestorbener Tod ist kein Ereignis, das den Lauf der Welt ändert. Als Boris Palmer darauf hinwies, musste er einen Shitstorm ertragen. Aber daran ist Boris Palmer gewöhnt.
Oder kennen Sie Jemanden, der nicht verschont wurde? Dann soll es mir sehr leid tun, dass ich gefragt habe.
Natürlich ist es vernünftig, Masken zu tragen und die befohlenen Abstände zu wahren. Konform zu sein ist fast immer vernünftig. Doch die emphatischen Mahnungen treffen ins Leere. Ein Virus tötet nicht wahllos. Es wählt sich seine Opfer sorgfältig aus. Solange wir die Toten zählen wie die Gefallenen in einem Krieg, haben wir nicht begriffen, welcher Art der Tod ist, den sie sterben. Es ist der Tod, der uns alle erwartet. Es gibt keine Zuflucht vor ihm, keinen Schutz, keine Rettung. Allenfalls kann ein Aufschub erreicht werden.
Der Tod, den man an Corona stirbt, ist der blinde Fleck unserer Wahrnehmung der Pandemie.
Professor Sibylle Knauss, Schriftstellerin