Das wahrscheinlich wichtigste Werkzeug, um eine Überforderung des Gesundheitssystems in Deutschland zu verhindern, ist das sogenannte Kontakt-Tracing. Ziel ist es, Personen die sich bei einem bekannten Corona-Fall infiziert haben, zu identifizieren und unter Quarantäne zu stellen, beziehungsweise zu testen und so Infektionsketten zu unterbrechen.
Teil dieser Strategie sind die leidigen Formulare, die beim Besuch in Kneipe, Kaffee und Kino ausgefüllt werden müssen; aber auch die Corona-App der Bundesregierung soll eine Kontakt-Nachverfolgung in Situationen ermöglichen, in denen ein Ausfüllen von Gästelisten unmöglich oder unpraktisch wäre – zum Beispiel in der Bahn, oder wenn man in einem Geschäft in der Schlange steht.
Wie funktioniert die Warn-App?
Die Funktionsweise der Corona-App ist eigentlich simpel. Ein Handy mit der Corona-App nimmt über die im Handy integrierte Bluetooth-Funktion Kontakt zu einem anderen Handy mit der App auf. Beide Handys speichern die Begegnung ab. Erhält ein Nutzer der App einen positiven Corona-Testbefund, so gibt er dies in der App an. Dann werden alle Kontaktpersonen informiert, dass sie Kontakt zu einem Infizierten hatten. All dies geschieht anonym. Um eine große Zahl von Fehlalarmen zu vermeiden, werden Kontakte nur gespeichert, wenn die App sie als relevant einschätzt: Wenn zwei App-Nutzer aneinander vorbei gehen, wird der Kontakt nicht gespeichert, wenn sie aber einige Minuten nebeneinander im Bus sitzen, schon. Auch der Abstand, in dem sich die Personen voneinander befinden, wenn der Kontakt stattfindet, ist relevant. Da aber die App ganz ohne GPS-Verfolgung der Bewegungsdaten auskommen muss, schätzt die App die Entfernung zweier Nutzer voneinander anhand der Signalstärke des Bluetooth, die das andere Handy abgibt.
Technische Probleme
Doch hier zeigen sich schon die Probleme der App. Bluetooth ist ein Funkstandard zur Kurzstrecken-Datenübertragung; er wurde nicht entwickelt, um Distanzmessungen durchzuführen. So fand eine irische Studie heraus, dass in Straßenbahnen die Corona-Warn-App derart schlecht darin ist, die Distanz zweier Personen richtig einzuschätzen, dass die App genauso gut raten könnte – die Fehlerquote bliebe in etwa gleich. Dies liegt wohl auch an den vielen Metalloberflächen, die ein S-Bahn-Wagon so hat und die mal als Verstärker, mal als Barriere der Bluetooth-Frequenzen auftreten können. Die Funkwelle werden dadurch hin- und hergeworfen und auf Unvorhersehbare weise verzerrt.
Schnelle Implementierung bringt schnelle Fehler
Doch es gab auch andere grundlegendere Probleme bei der Corona-App. Diese wurden zwar mittlerweile behoben, verdeutlichen aber die Problematik, die eine schnelle Entwicklung so mit sich bringt.
Ein Fehler im Code seitens Apple führte dazu, dass die Corona-App auf iPhones nicht automatisch einen Datenabgleich von bekannten Infizierten und begegneten Personen durchführte. Die betroffenen Personen konnten daher nicht informiert werden, wenn sie Kontakt zu Infizierten hatten. Teilweise wurde dieser Abgleich fünf Wochen lang nicht durchgeführt: also lange genug, um gleich zweimal hintereinander in Quarantäne zu gehen! Ähnliche Probleme bereiteten einige Handys mit Android-Betriebssystem (Google), die im Stromsparmodus liefen und deswegen keine Hintergrundaktualisierung der App durchführen.
Doch dass ist so gewollt: Da einige Apps durch eine große Zahl von Hintergrundprozessen einen massiven Stromverbrauch haben, verhindert der Stromsparmodus diese. Trotzdem war hier der Fehler nicht so massiv, wie zuerst von Medienberichten suggeriert. Denn wenn eine App aktiv genutzt wird, darf diese auch im Stromsparmodus Hintergrundprozesse durchführen. Wenn also ein Nutzer die App zwischenzeitlich öffnete, dann wurden auch die Daten abgeglichen und gegebenenfalls Warnungen mitgeteilt – mit Verspätung zwar, aber immerhin.
Der Fehler lag hier nicht an der App selbst, sondern an den Betriebssystemen der Smartphones, auf die die App installiert wurde. Denn damit die Kontaktverfolgung per Bluetooth überhaupt möglich wurde, mussten innerhalb kürzester Zeit Änderungen in den Betriebssystemen der Handys vorgenommen werden – und Zeit geht manchmal eben auf Kosten von Qualität. Trotzdem sind die (bekannten) Fehler mittlerweile behoben.
Alte Handys und neue Apps
Auch ein Problem ist es, dass die App nur auf relativ modernen Handys funktioniert. Bei Apple Geräten zum Beispiel unterstützen erst iPhones ab der Generation „6s“ (vorgestellt 2015) die App. Bei den vorherigen Geräten ist die App nicht mit dem Betriebssystem kompatibel. Bei Android Geräten ist es ähnlich: Erst bei Geräten, die ab 2015 verkauft wurden, ist die App mit dem Betriebssystem kompatibel. Andererseits sind nur die wenigsten Smartphones überhaupt so alt. Laut Apple nutzen zum Beispiel 81 Prozent der Smartphones weltweit das Betriebssystem IOS 13 – welches die Voraussetzung für die Corona-Warnapp ist. Wie hoch der Anteil, der IOS 13 Geräte in Deutschland ist, ist nicht klar, doch dem Statistikdienst Statista zufolge wurden nur etwa 16 Prozent der genutzten Smartphones in Deutschland vor mehr als zwei Jahren gekauft. Der Anteil der fünf Jahre alten Smartphones dürfte deutlich geringer sein.
Zu geringe Nutzung
Ein größeres Problem ist, dass die Warn-App bislang nur 18,4 Millionen mal heruntergeladen wurde. Damit hat – theoretisch – jeder fünfte Deutsche die App. Wie oft dabei die App von einer Person zum zweiten Mal heruntergeladen wurde, nachdem die App vorher deinstalliert worden war, ist unklar. Auch wie viele Personen die App täglich nutzten, ist nicht sicher – denn damit die App auch funktioniert, muss das Bluetooth auf dem Smartphone eingeschaltet sein. Ist das Bluetooth ausgeschaltet – zum Beispiel, um die Laufzeit eines größtenteils entladenen Akkus zu verlängern – bringt die App eben auch nichts.
Die Bundesregierung meldete noch in der Vorwoche, dass die App in den 100 Tagen ihrer Verfügbarkeit gut 5.000 mal dazu genutzt wurde, um Kontaktpersonen zu warnen. Schon zu diesem Zeitpunkt wurden jeden Tag zwischen 1.000 und 2.000 neue Corona-Fälle gemeldet. Dass davon nur etwa 5.000 in der App gemeldet wurden, ist ein Hinweis darauf, dass vielleicht jeder fünfte die App heruntergeladen hat, aber nur ein Bruchteil von ihnen sie dann auch dazu nutzt, um etwaige Kontakte zu warnen.
Ein typisches Bundesprojekt
Trotz aller Probleme: Im Prinzip ist die App eine gute Idee. Zwar kann man kritisieren, dass die oben beschriebenen Probleme bei der Entfernungsmessung die Nutzer in einem falschen Gefühl der Sicherheit wägen können. Doch gleichzeitig ist etwas Schutz, etwas Hilfe bei einer Kontaktnachverfolgung besser als gar keine Kontaktnachverfolgung, gar kein Schutz. Doch auf der anderen Seite stehen hohe Kosten eines fragwürdigen Nutzens.
Bis 2021 wird die App wohl mindestens 58,5 Millionen Euro gekostet haben. Das Finanzministerium schätzt die Kosten sogar auf 69 Milionen Euro. Davon gehen 50 Millionen an die Deutsche Telekom, unter anderem, um Callcenter zu betreiben – deren Betrieb kostet jetzt schon 2,5 Milionen Euro im Monat. Steigt die Zahl der Anrufe in den Callcentern steigen aber auch die Kosten Die restlichen 8,5 Millionen Euro gehen an das Softwareunternehmen SAP. Gut, Softwareentwicklung ist teuer, gute Softwareentwicklung mit neuer Technologie ist noch teurer und gute Softwareentwicklung mit neuer Technologie, die auch noch schnell sein soll und von einem renomierten Entwickler wie SAP durchgeführt wird, ist am teuersten – aber anscheinend nicht so teuer wie der Betrieb von Callcentern.
Insofern scheint die App bisher vor allen Dingen ein teures, ineffektives Mittel der Corona-Bekämpfung zu sein. Ihre echte Bewährungsprobe kommt allerdings erst noch. Denn die erste große Infektionswelle hat die App verpasst und wurde erst verfügbar, als die Situation weitestgehend unter Kontrolle war. Nun steigen die Fallzahlen wieder – auch wenn die Todeszahlen zur Zeit noch viel geringer sind als im Frühjahr.
Aber wenn das Virus vor allem wieder unter älteren Mitbürgern um sich greifen sollte, die Todeszahlen steigen, dann könnte die App sich als hilfreich erweisen, um den überarbeiteten Gesundheitsämtern bei der Kontaktverfolgung zu helfen, möglicherweise schon infizierte Personen ausfindig machen. Doch bis dahin ist die Corona-App ein typisches Bundesprojekt: teuer, ineffektiv und von der Politik grundlos gelobt.