Ursprünglich sollte heute in der Bundespressekonferenz ein „Briefing zur Sondertagung des Europäischen Rates am 24./25.09.20 in Brüssel“ stattfinden. Auf solchen Veranstaltungen erklärt Regierungssprecher Steffen Seibert der Hauptstadtpresse üblicherweise, was sie zu erwarten habe. Wenn das nun ersatzlos gestrichen wird, kann man vermuten, dass die Botschaft, die die Kanzlerin so an die Öffentlichkeit bringen wollte, nicht mehr passt.
Womöglich hat diese Absage mit einem Interview zu tun, das Merkels österreichischer Amtskollege Sebastian Kurz der französischen Nachrichtenagentur AFP gab, über das nicht nur in österreichischen Medien berichtet wird. Da verkündet er nämlich etwas, das für Merkel der ultimative Strich durch die Rechnung ist: Die so genannte Flüchtlingsverteilung in der EU, die von Merkels Regierung seit 2015 als Schlüssel für die Migrationspolitik dargestellt wird, sei „gescheitert“. Es ist eine für Merkel vernichtende Aussage: „Das lehnen so viele Staaten ab. Das wird auch nicht funktionieren“.
Auf der Tagung des Rates, also der Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten, will die EU-Kommission in Brüssel ihre neuen Vorschläge für die seit Jahren umstrittene Asylreform vorstellen. Laut einem Bericht der Welt sollen diese Vorschläge vor allem dies beinhalten:
- Das seit 2015 durch Deutschland de facto abgeschaffte Dublin-System bleibt bestehen, Migranten müssen also im Erstaufnahmeland einen Asylantrag stellen.
- Nur in einem Krisenfall sollen die EU-Länder verpflichtet werden, asylberechtigte Flüchtlinge aufzunehmen. Genau diese Verteilung aber ist das, was die meisten Länder nicht wollen und Kurz für „gescheitert“ erklärt.
- Ein neu zu bestimmender EU-Koordinator soll sich um Rückführungen von abgelehnten Migranten kümmern.
- Länder, die überhaupt keine Migranten aufnehmen wollen, sollen „Abschiebe-Patenschaften“ eingehen und somit Hilfe bei der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber leisten.
Die Aussagen von Kurz und die kurzfristige Absage des Briefings in Berlins sind Indizien dafür, dass mit einer schnellen Einigung auf dieses Konzept nicht zu rechnen ist. Und selbst wenn am Schluss eine Einigung steht: Die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit sowohl mit der europäischen Migrations- als auch der Schuldenkrise zeigen, dass im Ernstfall oft anders gehandelt wird, als es die Verträge vorgeben.
Kurz macht klar, dass Österreich und andere kleinere Länder ihre Interessen nicht automatisch den großen Ländern unterordnen würden: „Die Europäische Union ist mehr als nur Deutschland und Frankreich.“ Als größte Staaten der Union hätten sie „natürlich einen gewissen Führungsanspruch“. Aber auch andere, kleinere Staaten hätten „genauso die Möglichkeit, ihre Ideen einzubringen und dafür Mehrheiten zu suchen“.
Und Kurz machte klar, dass sich in der Migrationspolitik wiederholen könnte, was die „sparsamen Vier“ (Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark) in der Frage des Corona-Wiederaufbaufonds der EU mit der Reduzierung der geplanten Zuschüsse für schwer betroffene Länder vorgemacht haben. Österreich und diese drei anderen Staaten teilten „viele Zugänge und Interessen“, sagte Kurz.
Es sind dies übrigens dieselben Interessen, die Deutschland als Nettobeitragszahler, ehemaliges Hartwährungsland mit eher restriktiver Staatsverschuldungskultur und vor allem Hauptzielland für Armutsmigration objektiv auch hat. Die Bundesregierung hat allerdings bekanntlich aufgegeben, sie wahrzunehmen.