Tichys Einblick
Wie wenig sich die Bilder gleichen

Der Moria-Brand, die Nordägäer und unsere Medien

Dass weder Einheimische noch Migranten ein neues Lager in Moria wollen, ist inzwischen zum Gemeinplatz der deutschen Berichterstattung geworden. Doch um die Sicht der direkt betroffenen Nordägäer auf das Thema Immigration geht es dabei nicht. All das ist nur eine neue Volte des deutschen Betroffenheitsjournalismus.

imago Images/ANE Edition

Noch vor wenigen Tagen hatte ein Zeitungsartikel Kostas Moutzouris erschreckt. Der frei gewählte, parteipolitisch unabhängige Regionalgouverneur der Nordägäis musste in den »Neuigkeiten aus Lesbos« lesen, dass sich zahlreiche Einwohner der Insel bereiterklärt hatten, Landstücke für die Errichtung eines neuen Aufnahmelagers zu verpachten. Diese neue, angeblich »geschlossene« Einrichtung will die Athener Regierung schon seit Beginn des Jahres und wohl immer noch bauen. Allerdings ist sie bis jetzt am Widerstand der Lesbier gescheitert, die mit Straßensperren jeden Baufortschritt im Keime erstickten.

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Moutzouris war im Frühjahr zum Wortführer der Demonstrationen und einer regelrechten Regionalrebellion geworden, unter anderem mit dem Motto »Wir wollen unsere Inseln zurück«. Ein kontroverser Einsatz der Bereitschaftspolizei gegen die Einheimischen führte zum Eklat und dazu, dass das Projekt vorerst auf Eis gelegt beziehungsweise zwischen Athen und Mytilini weiterdiskutiert wurde.

Einen Tag vor dem ersten Feuer in Moria postete Moutzouris die schreckensvolle Zeitungsmeldung auf Facebook, mit der Bemerkung »ohne Kommentar«. Ein besonders aktiver Einwohner des Dorfes Moria kommentierte dies mit den wohl sarkastisch gemeinten Worten: »Ohne Kommentar ist Ihre Gleichgültigkeit.« Doch Moutzouris ist alles andere als leidenschaftslos, er weiß nur, wo sich Widerstand lohnen könnte und wo nicht, und ist auch sonst ein wendiger Akteur. Die mediale Bühne auch seines Landes erfordert es. Als er im Zusammenhang des brennenden Migrantenlagers von NGOs und ausländischen Agenten sprach, wurde er auch von konservativen Journalisten frontal angegangen und gebeten, solches nicht mehr zu sagen.

Das »philomorianische Klima« in Westeuropa

Migranten auf Lesbos
Brand im Lager Moria: Dorfbewohner berichten von planvollem Vorgehen
Am Tag des Brandes schrieb der Regionalgouverneur: »Nur Mut!! Wir lassen uns nicht unterkriegen!!!« Viele rätselten, was er damit meinte. Nun begann offenbar der Kampf erst richtig, ein Kampf um die Rückeroberung der Inseln der Nordägäis, vor allem jenes Teils der Hauptinsel Lesbos, der durch das überfüllte Lager von Moria so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden war. Sorge bereitete den Facebook-Kommentatoren zwei neue Lager, die bereits im Gespräch waren: die beiden ehemaligen Kasernengelände von Lemonou und Klits, wiederum nicht allzu weit von der Hauptstadt Mytilini entfernt. Moutzouris beeilte sich festzuhalten, dass es ein neues »Moria« nicht geben werde, dass es vor allem nicht auf den Überresten des alten Lagers neu errichtet werden würde. Auch dafür erhielt er breite Zustimmung.

Am Donnerstag verwies er zudem auf die Offenheit der europäischen Partner für die Aufnahme von Migranten aus Moria. Aus den Medien konnte er keinen anderen Eindruck als den eines »philomorianischen Klimas« in Westeuropa entnehmen.

Sogar der österreichische Bundespräsident hat sich nicht entblödet, eine entsprechende Anzeige aufzugeben, obwohl die Haltung von Sebastian Kurz bekannt ist und sich auch durch die Regierungsbeteiligung der Grünen nicht verändert hat. Moutzouris und mit ihm die Nordägäer hoffen so auf die Entlastung der Inseln, auch wenn einige von ihnen misstrauisch bleiben.

Vor allem wünschen sich daneben viele, dass die Leiden der Bevölkerung und ihre auch wirtschaftlichen Verluste endlich ausreichend beachtet werden. Ein Facebook-Kommentar lautet: »Bei dieser Gelegenheit sollte auch der letzte Ungläubige noch erfahren, dass sich die Hölle auf Lesbos nicht im Lager befindet, sondern vor seinen Toren.« Die Migranten seien der Hölle ja ohnehin durch die Flucht aus ihren Heimatländern entronnen. Zu viele Lesbier seien aber durch das Lager geschädigt, ja in ihrer wirtschaftlichen Existenz vernichtet worden. Auch andere beklagen, dass dieser Umstand in den griechischen Medien kaum eine Rolle gespielt habe.

Gouverneur Moutzouris, der selbst von Lesbos stammt, weiß natürlich um diese Zusammenhänge, und eben das ist seit Jahr und Tag die Richtschnur seines Handelns: Die Wiederherstellung der nordägäischen Inseln als das, was sie einmal waren. Und das geht wohl langfristig nur, indem sie ihren Charakter als Immigrations-Hotspots verlieren. Ein sicher noch weit entferntes Ziel.

Der Traum vom europäischen Eden

Telefonat mit Lesbos
"Eine koordinierte Aktion mit dem Ziel, dieses ganze Camp in Brand zu setzen"
Die deutschen Zeitungen und Sendeanstalten bemühen sich derweil redlich darum, nur die naivsten und ideologiesichersten Reporter auf die Insel Lesbos zu schicken. Ich nehme als unverdächtigen Zeugen den Bericht von Iason Athanasiadis für die alte, konservative Welt. Im Fokus seines Berichts stehen das Schicksal und damit die Interessen der Migranten. Das ist so ein Erste-Welt-Reflex, dass die Vertreter anderer Welten zu unglücklich sind und irgendwie mehr recht haben müssen als die Erstweltler. Daneben fungieren NGO-Vertreter wie selbstverständlich als Experten – dabei sind sie doch eigentlich Partei für die Interessen der Migranten und für ihre eigenen. Den Rest leistet das Stilmittel der Dramatisierung: Es passiert so viel und so Drastisches. Es muss wohl wichtig und richtig sein.

Die griechische Regierung muss laut Athanasiadis einen »Balanceakt zwischen rechtsextremem und flüchtlingsfeindlichem Populismus auf der einen und dem Ärger der Inselbewohner auf der anderen Seite« leisten. Aber wenn dem so ist, dann ist ja gar keine Frage mehr, wie eine Migrationspolitik dieser Regierung aussehen müsste und welche Entscheidungen die Regierung treffen muss: Wenn neben den rechten Populisten auch alle anderen Insulaner verärgert sind, dann müsste klar sein, dass man diese Situation in Hinsicht auf die Demokratie möglichst bald beenden muss.

Aber das meinte der Reporter wohl nicht. Am Ende lässt er noch einen griechischen Kollege zu Wort kommen, der feststellt, dass Moria mit Absicht so furchtbar gemacht worden sei, nämlich »um denen, die auf ein europäisches Eden hoffen, zuzurufen: Vergesst es, es gibt kein Paradies für euch. Nur die Hölle.« Genau. Einen Garten Eden gibt es in Europa auch nicht, nur harte Arbeit am Wohlstand.

Die aktuelle Kamera lebt

Lesbos
Asylbewerber plündern Kirchen, Häuser und Olivenhaine
Ganz ähnlich ist das auch in der filmischen Reportage von Paul Willmann für den gleichnamigen Fernsehsender. Für Willmann ist klar, dass die Situation, die er sich als Hintergrundbild ausgesucht hat – umherparadierende Migranten – »kippen« muss, wenn nicht »Europa« hilft. Und tatsächlich: Die europäische Verteilungsdiskussion kommt bei den Migranten an, so Willmann. Man hat keine Zeit, das ist die nächste, irgendwie ja doch zentral gesteuerte Botschaft Willmanns. Als der Studiomoderator noch wertneutral nach dem Ärger der Einheimischen fragt, wirft Willmann unvermittelt einen Hinweis auf »rechtsradikale Gruppen« ein, die sich auf Lesbos eingefunden hätten. Belege dafür gibt es keine. Aber Willmann hat offenbar auch aufgebrachte Einheimische getroffen – so hört man aus seinem DDR-4.0-Sprech etwas später heraus. Aber ein Interview, so richtig vor der aktuellen Kamera, waren diese Leute wohl nicht wert.

Willmann hat sehr großes Verständnis dafür, dass man »von beiden Seiten das Beste aus der Situation macht« – vulgo: die Migranten bestehlen die Einheimischen weiter. Es geht dabei aber natürlich nur um Dinge, die die griechischen Bauern »vielleicht gar nicht mehr brauchen«. Einheimische wehren sich, wenn Fremde »auf ihr Grundstück laufen« – das müsse man »in gewisser Weise auch ein bisschen nachvollziehen«. Das sind insgesamt drei Einklammerungen für diese richtige Ausage. Denn natürlich brauchen die Migranten neue Hütten. Im Grunde interessiert die »Unsicherheitssituation« der Einheimischen nur insofern, als auch sie die Verteilung der Immigranten auf andere Länder rechtfertigen könnte.

Inzwischen konnte die Regierung große Zelte per Hubschrauber in die Nähe des alten Lagers Moria bringen. Dort werden bald einige hundert Personen ein Dach über dem Kopf haben. In einem Bericht der Tagesschau werden kleinere Verbrennungen als Beweise in die Kamera gehalten. Die Photographin Alea Wolf findet daneben zu der knapp vorbeigegangenen Aussage: »Es ist unmöglich, dass wir die Menschen hier so lange im Stich lassen, dass sie jetzt wirklich alles verlieren müssen, um überhaupt ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen.« Sie mussten nicht alles verlieren, aber einige von ihnen mussten offenbar das Lager anzünden, das die griechische Regierung ihnen zur Verfügung gestellt hatte, um »ein bisschen« Aufmerksamkeit zu bekommen.

Die kleinen Unwahrheiten der Tagesschau

In einem anderen Tagesschau-Bericht wird behauptet, dass die »Blue Star Chios«, die als »Hotel« für die Migranten in einem Hafen auf Lesbos vor Anker liegt, ein Transportschiff sei, das die Migranten aufs Festland bringen könne. Vielleicht ist das nur ein ungeschickter Beitragsschluss, aber zugleich wird damit natürlich die Perspektive Festland – EU aufgemacht.

Migranten, NGOs und der ungeliebte Minister
Report aus Moria: Wütende Dorfbewohner vor Inferno-Kulisse
Man weiß nicht genau, welche Berichterstattung die abgefeimtere ist. Die der Tagesschau, in der ostentativ von einer »kaum noch zu ertragenden Situation« und Lesbos als »grausames Vorzimmer Europas« gesprochen wird? Oder die Welt-Reportage, in der gleich die ganze Bühne und alles tiefere Nachdenken über die Situation für ein paar demonstrierende Migranten freigeräumt wurde? Warum übrigens »Vorzimmer«? Das klingt ja so, als hätte man – oder vielmehr ein Feudalherr – zum Empfang eingeladen. Auch spricht ARD-Korrespondent Michael Schramm vor pittoresker Kulisse nicht von den Bürgern von Lesbos, sondern von »Bürgerwehren«, als hätten sich Milizen mit zweifelhaftem Charakter formiert. Davon ist aber nichts bekannt. Es sind diese kleinen Abweichungen von der Wahrheit – Hotelschiffe als Festlandbrücken, ehrbare Bürger als zweifelhafte Bürgerwehren – die die Absicht erkennen lassen und Verstimmung hervorrufen.

Man darf wohl bei aller Zurückhaltung zusammenfassen: Die massenmediale und öffentlich-rechtliche Berichterstattung zum Moria-Brand ist ein Wettlauf in politischer Korrektheit, in dem der »andere Diskurs« des von Immigranten belagerten Europa nicht vorkommt und nicht vorkommen darf. Man wird auf dieses Argument vermutlich erwidern, dass es ja nur um knapp 13.000 Menschen ginge, aber das trifft daneben. Es geht um die Frage, wie die Grenzen Europas und letztlich auch Deutschlands beschaffen sein sollen: sicher oder porös. Der mediale Mainstream hat sich für Letzteres entschieden. Jeder kann es wissen, auch wenn es manchmal nicht mit offenem Visier an uns herantritt.

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