Anders lassen sich auf den ersten Blick die Antworten in der R+V-Studie: Die Ängste der Deutschen nicht deuten. Die Hälfte der Befragten, die geantwortet haben, bekundet Angst – aber wovor mehr oder weniger bleibt diffus.
Der Ost-West Vergleich veranschaulicht bemerkenswerte Unterschiede, die nur mit parallelen Meinungswelten im Osten – quasi in DDR-Tradition – erklärbar sind. Bitte schauen Sie selbst durch die folgenden zwei Grafiken. Bei Überforderung des Staates durch „Flüchtlinge“ und Überforderung der Politiker weichen die Meinungen am stärksten von einander ab.
Die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr insgesamt machen das Bild nicht klarer. Jedenfalls sind ausreichend viele Ängste weiterhin da, um sie politmedial zur Lenkung der Massen einsetzen zu können.
R+V selbst schreibt:
- In der Corona-Krise befürchtet etwa jeder zweite Befragte, dass die Lebenshaltungskosten steigen und dass die Steuerzahler für die EU-Schuldenkrise zur Kasse gebeten werden. Von Platz 14 im Vorjahr auf den vierten Platz springt die Furcht vor einem Rückgang der Wirtschaft.
- Die innenpolitischen Sorgen – in den vergangenen Jahren stets auf den Spitzenplätzen – haben durchweg an Bedeutung verloren. Am stärksten gesunken sind die Ängste rund um die Zuwanderung: Sie erreichen nach einem Rückgang von mehr als zehn Prozentpunkten den niedrigsten Stand seit fünf Jahren.
- Drei Themen treiben 40 Prozent der Befragten um: Klimawandel, die Überforderung der Politiker und steigende Arbeitslosenzahlen in Deutschland. Unter die 40-Prozent-Marke gerutscht sind die Ängste vor politischem Extremismus und Terroranschlägen. Erstaunlich: Nur 32 Prozent der Deutschen fürchten sich vor einer schweren Erkrankung und vor einer Infektion mit dem Corona-Virus.
- Viele Ängste nehmen in diesem Ausnahmejahr ab – insbesondere Terror und Extremismus lösen weniger Schrecken aus als in den vergangenen Jahren. Andererseits treiben Kurzarbeit und drohende Insolvenzen in stark angeschlagenen Branchen die Angst vor steigenden Arbeitslosenzahlen in Deutschland in die Höhe.
- Der Angstindex – der Durchschnitt aller abgefragten Ängste – sinkt auf 37 Prozent und erreicht damit den niedrigsten Wert seit Beginn der Studie.
Parallele Studien über die Berichterstattung der Massenmedien zu den Themen der R+V-Studie liegen uns nicht vor. Doch ohne Zweifel würden sie zeigen, dass die erfragten Ängste der Deutschen und ihrer Veränderungen in fast 30 Jahren das Abbild der Berichterstattung in den Massenmedien sind. Trotz des Niedergangs der Leser-, Hörer- und Zuschauerzahlen bestimmt die veröffentlichte Meinung der alten Massenmedien nach wie vor die abgefragte öffentliche Meinung. Das politmediale Kartell darf sich irn Durchdringen ihres Berichtstenors durch die neueste R+V-Studie durchaus bestätigt fühlen.
Trotzdem gibt es Signale:
Die Angst vor einer schlechteren Wirtschaftslage ist von 35 Prozent im Vorjahr auf nun 48 gestiegen.
Eigene Arbeitslosigkeit befürchten mit 25 Prozent deutlich weniger als eine allgemein höhere Arbeitslosigkeit mit 40. Dieser große Unterschied ist seit langer Zeit erstmals wieder da.
Die Ängste im Sektor Klima sind trotz des Dauer-Medienbeschusses niedriger als in den meisten Jahren seit 2003.
Es sind natürlich nicht dieselben Befragten, bei denen auch die Ängste im Bereich der Migration abgenommen haben.
Die Berufspolitiker wird es in ihrem Schulterschluss mit den Massenmedien bestätigen, dass die Angst vor ihrer Überforderung den Tiefststand in diesem Jahrhundert erreicht hat. Die Classe Politique ist Corona-Gewinner.
Die Classe Politique hat in diesem Jahrhundert keine der sogenannten Krisen auch nur einen Schritt einer Lösung zugeführt: Eurokrise, Infrastrukturkrise, Industriekrise, Innovationskrise, Energiekrise, Migrationskrise, Krise der öffentlichen Sicherheit, EU-Krise, Bundeswehr- und NATO-Krise … Aber in der Corona-Krise erweckt die Classe Politique wirksam den Eindruck, dass sie die Bevölkerung vor Schlimmerem bewahrt. Mit Ängsten regiert es sich generell gut, mit der Corona-Angst offensichtlich noch viel besser.
Nichts muss die Classe Politique mehr fürchten als das Ende der Corona-Krise – ob tatsächlich oder auch nur öffentlich gefühlt. Dann brechen alle alten, verdrängten, mitgeschleppten und ungelösten Krisen, die im Hintergund von Corona nicht kleiner, sondern drängender geworden sind, wieder über sie herein. Die Classe Politique wird also alles tun, um die für sie günstige Corona-Krise nicht vor der Bundestagswahl 2021 enden zu lassen (die regulären Wahlen stehen im Herbst an). Mit vorgezogenen Wahlen ließe sich das allerdings auch vermeiden.