Tichys Einblick
Moria:

Immer wieder Feuer, zum Teil live im Fernsehen zu sehen

Auf Lesbos liegen alle Interessen quer, die nur quer liegen können – und daneben alle Nerven blank. Die Bürger wollen keine Migranten mehr, die Migranten verabscheuen das Inselleben. Athen will Härte zeigen und erntet doch nur Widerstand. Lokale Politiker suchen nach neuen Lösungen, finden aber nur Provisorien.

imago images / ANE Edition

Die Lage auf Lesbos ist nach dem Brand des Lagers Moria nach allen Seiten blockiert. Weder das Aus- noch das Inland werden sich einig, was zu tun ist. Griechische Polizisten blockieren noch immer die Straße zwischen dem Dorf Moria und der fünf Kilometer entfernten Hauptstadt Mytilini. Dorthin sollen die Migranten keinesfalls gelangen. Man befürchtet eine Weiterverbreitung des Coronavirus. Auch Tränengas kam nun zum Einsatz, da einige jugendliche Migranten versuchten, dennoch in die Inselhauptstadt zu gelangen und die Beamten mit Steinen bewarfen.

Migranten auf Lesbos
Brand im Lager Moria: Dorfbewohner berichten von planvollem Vorgehen
Derweil haben die Einwohner der Region – wohl etwas weiter oben am Weg – mit eigenen Fahrzeugen Straßensperren errichtet. Sie wollen die staatlichen Aufräumtrupps daran hindern, nach Moria zu gelangen und es am Ende wiederaufzubauen. Unter den Blockierern sind Bürger aus Moria und den umliegenden Dörfern, aber auch der Bürgermeister der Inselhauptstadt Mytilini, Stratis Kytelis. Die Inselbewohner fordern nicht nur, dass es keinen Wiederaufbau des Lagers Moria geben darf, sondern wollen gar keine Aufnahmezentren auf der gesamten Insel akzeptieren.

Zu allem Überfluss teilte Regierungssprecher Stelios Petsas mit, dass die Migranten auf keinen Fall die Insel verlassen dürften. Das sähe er offenbar als Belohnung für ihre strafwürdige Brandstiftung an. Doch für 165 Minderjährige wurde bereits eine Ausnahme gemacht. Per Flugzeug kamen sie nach Thessaloniki – und sind damit dem Ziel ihrer Wünsche (dem dauernden Aufenthaltsstatus in der EU) vermutlich einen Schritt näher gekommen. 240 weitere sollen folgen. Daneben ist offenbar davon auszugehen, dass alle Migranten aus dem Lager und dem umgebenden ›Dschungel‹ ein neues Obdach brauchen werden. Durch fortgesetzte Feuer werden auch die provisorischen Zelte immer weiter abgebrannt. Der Großbrand scheint für manche ein Erfolgsrezept zu sein.

Telefonat mit Lesbos
"Eine koordinierte Aktion mit dem Ziel, dieses ganze Camp in Brand zu setzen"
Von einem Wiederaufbau des Lagers Moria, wie es die Einheimischen befürchten, ist einstweilen nicht die Rede. Die Athener Regierung würde gerne Zeltlager in zwei ehemaligen Kasernen in der Nähe errichten. Doch auch das lehnt Bürgermeister Stratis Kytelis ab und fordert stattdessen die dauerhafte Unterbringung der Migranten auf Schiffen oder unbewohnten Inseln. Noch am Mittwoch nahm das Fährschiff »Blue Star Chios« Kurs auf Lesbos. Die Migranten sollen mit Bussen quer über die Insel zum Hafen Sigri auf der Westseite der Insel gebracht werden, wo sie auf dem Schiff ein neues, provisorisches Obdach finden sollen. Die »Blue Star« soll, so sagte der Gouverneur der Nordägäis Kostas Moutzouris dem Radiosender Skai 100,3, in einem weit von der Inselhauptstadt entfernten Hafen anlegen. Bald sollen zwei militärische Landungsschiffe für denselben Zweck ankommen. Insgesamt sollen so 1.000 Personen untergebracht werden.
Bürgermeister Kytelis: Lesbos ist nun selbst unglückselig geworden

Bürgermeister Stratis Kytelis stellte an der Straßenblockade bei Moria fest, dass die Einwohner von Mytilini und der umliegenden Dörfer das Gefühl der Sicherheit eingebüßt haben und die bisherige Lage nicht mehr ertragen können. Konkret befürchtet Kytelis die Verbreitung des Coronavirus auf der Insel, schon jetzt müsse man durch die Bewegungen und die Durchmischung der Migranten aus dem Lager von weiteren Ansteckungen ausgehen. Dass es mehr als nur 35 Fälle unter den einstigen Lagerbewohnern gibt, glaubt auch der Gouverneur der Nordägäis Kostas Moutzouris, der sich selbst gerade in vorsorglicher Quarantäne befindet; er hatte einen infizierten Regierungsbeamten getroffen.

Derzeit unterhält die Stadt Mytilini, was angesichts des aufsehenerregenden Großlagers Moria gerne übersehen wurde, noch fünf weitere Aufnahmeeinrichtungen, die zum Teil in der Hauptstadt selbst liegen. Bürgermeister Kytelis hält das, angesichts der explosiven Sicherheits- und Gesundheitslage, nicht mehr für tragbar.

Wer kapituliert, hat verloren
Illegale Migration als Erpressung
Die Bürger von Lesbos hätten den »unglückseligen« Migranten in der Vergangenheit zunächst geholfen. Inzwischen seien sie selbst vom Unglück getroffen, sowohl ökonomisch als auch familiär – vermutlich spielt der Bürgermeister hier auf eine Auswanderungswelle infolge des wirtschaftlichen Niedergangs an. Außerdem hätten die Einwohner von Lesbos natürlich auch ganz direkt Verlust an ihrem Besitz erlebt. Zu denken ist an den Landbesitz und viele einst landwirtschaftlich genutzten Flächen der Insel, die inzwischen verwüstet, teils geplündert wurden.

Inselgouverneur Kostas Moutzouris ließ am Mittwoch keinen Zweifel daran, dass es sich um einen »organisierten Plan zur Brandstiftung« gehandelt habe. Daneben wollte er nicht ausschließen, dass auch NGOs oder ausländische Agenten für das Feuer verantwortlich sein könnten: »Wir erhalten laufend Informationen, die darauf hindeuten.« Laut Moutzouris befinden sich die Inseln der Nordägäis im Visier der Türkei, und in den Lagern befänden sich Menschen, die auf der Seite der Türkei stehen und Ereignisse zu deren Gunsten auslösen wollen. Sie müssten von den Inseln verschwinden. »Die Regierung muss Maßnahmen ergreifen. Wir wollen keine Besuche von Ministern mehr, sondern Maßnahmen.«

Lesbos
Lager Moria brennt: Der Luftbrücke nach Deutschland steht nichts mehr im Weg
Moutzouris hatte schon vor Monaten darauf hingewiesen, dass die Nordägäis mit Inseln wie Lesbos, Chios und Samos und tausenden Migranten in diversen Lagern ein Pulverfass sei, das jederzeit in die Luft gehen könne. Seine Worte haben sich nun bewahrheitet. Als Konsequenz bleibt Moutzouris bei seiner Forderung aus dem Frühjahr, dass es keine neuen Aufnahmeeinrichtungen auf den Inseln geben dürfe. Das dürfte würde allein schon der Widerstand der einheimischen Bevölkerung verhindern. Ein neues »Moria« dürfe es nicht geben, schrieb auch eine Nachrichtenseite von der Ägäisinsel Limnos.

Im Gespräch mit Skai 100,3 blieb Moutzouris jedenfalls dabei, dass Schiffe und unbewohnte Inseln eine Lösung darstellen könnten. Auch der Radiosender selbst gehöre doch einem großen Reeder. Vielleicht ließe sich ja da etwas machen, ließ er etwas provokativ einfließen.

Die Athener Regierung einmal mehr zwischen den Fronten

Adonis Georgiadis, Minister für Aufschwung und Investitionen und lautstarker Rechtsausleger der Regierung, forderte die sofortige Abschiebung der Täter, gleich ob sie einen Asylgrund hätten oder nicht. Die Schuldigen an dem Großbrand verdienten kein Asyl mehr in Griechenland. Einen Teil der Schuld sucht allerdings auch Georgiadis bei den Anwohnern, die die Errichtung »geschlossener Einrichtungen« durch ihren Widerstand verhindert hätten: Niemand, und schon gar nicht die Regierung, habe doch einen Bürgerkrieg auf Lesbos und Chios provozieren können, doch darauf wäre es hinausgelaufen, wenn man die geschlossenen Zentren gegen den Willen der Bürger errichtet hätte.

METZGERS ORDNUNGSRUF 35-2020
Brandkatastrophe in Moria: Zu Risiken und Nebenwirkungen des moralischen Imperativs
In ein ähnliches Horn stieß auch der stellvertretende Migrationsminister Giorgos Koumoutsakos, der geschlossene Zentren aus Gründen des Gesundheitsschutzes für notwendig erachtet. Koumoutsakos beklagt den ›Zwei-Fronten-Kampf‹ der Regierung: Einerseits seien da die

unruhestiftenden Asylbewerber, andererseits gebe es auch ein Problem mit den örtlichen Behörden und den Einheimischen, die gegen die Errichtung neuer Asylunterkünfte auf Lesbos sind. Die Regierung rettet sich an dieser Stelle in Floskeln von »öffentlicher Gesundheit, Menschlichkeit« und »nationaler Sicherheit«. Alle diese Argumente sollen in die Richtung neuer »geschlossener« Aufnahmeeinrichtungen weisen, für die sich dennoch kein Insulaner erwärmen kann.

Neue Feuer und raunende Kommentare

Am Mittwoch und Donnerstag wurde praktisch laufend von immer neuen Bränden berichtet. Am Donnerstagmittag konnte der Fernsehsender Star eine der Brandstiftungen sogar live in einer Nachrichtensendung bringen: Migranten setzten demnach ein Zelt und trockenes Gras in Brand, bevor sie vom Ort des Geschehens flohen. Das geschehe laufend so, berichtete der Reporter. Das Lager Moria soll es nach dem Willen seiner Bewohner nicht mehr geben.

Auch deutsche Politiker und Kommentatoren geben sich raunend-ratlos, was den Weitergang der Dinge nach dem Brand angeht. Die deutsche Familienministerin Franziska Giffey erklärte bei ntv, dass Kommunen, die Menschen aus Moria aufnehmen wollen, endlich auch dürfen sollten. Die Haltung der deutschen Sozialdemokratie sei »sehr klar«: Eine europäische Lösung unter Einbezug der Kommunen muss offenbar her. Kommentator Christian Jakob meinte in der taz zu den griechischen Inseln: »In den Lagern dort darf niemand bleiben müssen.« Andere meinen, dort müsse keiner bleiben dürfen. Man wird sich nicht einig. Ein großes »Nein« ist der Konsens, in dem alle zusammenfinden.

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