Tichys Einblick
„Wir sind das Volk“

Ein Plädoyer für die Demokratie

Wir dürfen die Demokratie nicht verlernen. Das bedeutet: viele Meinungen aushalten, immer wieder neu den Streit um das bessere Argument suchen. Politik darf nicht schwarz-weiß sein, sondern muss die Komplexität und Vielschichtigkeit der Herausforderungen für unser Land abbilden.

„Dem Deutschen Volke“ – Das ist die Inschrift, die über dem Hauptportal des Berliner Reichstags angebracht ist. Täglich soll sie alle, die über den Platz der Republik vor dem Reichstag gehen, daran erinnern, wem das Parlament dieses Landes dienen solle: Dem Deutschen Volke.

Die Inschrift über dem Westportal ist Mahnung an uns alle: Zum einen an die Politiker des Hohen Hauses, die hier tagtäglich über die Geschicke unseres Landes bestimmen, dabei den Willen des Bürgers nicht aus den Augen zu verlieren, sondern ihr Mandat, ihren Wählerauftrag, zu erfüllen. Sie mahnt aber auch die Bürgerinnen und Bürger, denn das Parlament erlangt seine Souveränität durch die freie und geheime Wahl, durch die Entscheidungen eines jeden einzelnen Bürgers, der durch seine Stimme, durch sein Engagement, durch sein Mittun aktiv teilnimmt an der Demokratie.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Das beherzigt auch Artikel 20 Abs. 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das Volk ist damit Alpha und Omega, Anfang und Ende eines jeden gesetzgeberischen Prozesses. Das Volk legitimiert den Gesetzgeber, und dem Volk zu dienen, muss am Ende auch das Ziel sein, das der Gesetzgeber fest im Blick hat.

Das ist das Verständnis unserer Demokratie, einer repräsentativen Demokratie, die auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger baut. Unsere Demokratie setzt auf die Mündigkeit der Bürger. Sie sind aufgefordert, ihre Meinung in Wort und Schrift kundzutun, sich zu engagieren, sich in das Gemeinwesen einzubringen, in Staat und Gesellschaft, in Parteien, Verbänden und Organisationen, in Stiftungen und Vereinen, in Kirche und Zivilgesellschaft mitzuwirken – kurzum: Die Demokratie zu gestalten. Dann, und nur dann, kann Demokratie wirklich und einzig und allein dem Volk dienen.

Viele Erfahrungen der letzten Wochen machen es schwer, an eine solche ideale Demokratie zu glauben: Ob Nazi-Parolen und Reichskriegsflaggen auf den Stufen des freigewählten Deutschen Parlaments oder linksradikale Randalierer, die Polizisten und Feuerwehrleute mit Steinen und Flaschen bewerfen, Straßenblockaden in Brand setzen und Häuser besetzen.

Auch der Blick über unseren nationalen Tellerrand hinaus verspricht nicht viel erfreulichere Eindrücke: In Belarus werden Tränengas und Knüppel gegen Demonstranten eingesetzt, Panzer rollen auf und das Militär wird in Alarmbereitschaft versetzt, weil die Opposition ein Wahlergebnis nicht anerkennen will, an dem auch die Europäische Union starke Zweifel hegt.

Erst kürzlich verschwindet dann auf offener Straße eine der führenden Oppositionellen Weißrusslands – ihr Verbleib bis vor kurzem ungewiss. Beim großen Bruder in Russland lassen sich durchaus Parallelen erkennen: Der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny wird vergiftet und Ärzte verweigern die Ausreise nach Deutschland. Später findet ein Bundeswehrlabor Spuren des Nervengifts Nowitschok, die Russischen Ärzte bestreiten das vehement.

Die russische Regierung gerät in Erklärungsnot, will von einem Mordanschlag nichts wissen, obgleich sie den Verdacht nicht ausräumen kann, wie auch schon im Fall Skripal. Gegen ihn und seine Tochter wurde in Großbritannien vor zwei Jahren ein Anschlag mit einem ganz ähnlichen Gift verübt.

Eine Opposition, die zum Schweigen gebracht wird auf der einen Seite, erstarkende Ränder und antidemokratische Parolen auf der anderen Seite. Verheißt der Blick über den großen Teich Besserung? Mitnichten. In den USA liefern sich ultra-konservative und liberale Amerikaner Straßenschlachten, das Land ist tief gespalten. Die Präsidentschaftswahlen, die jüngsten Fälle von Polizeigewalt, denen vor allem Schwarze zum Opfer gefallen sind, treiben einen Keil in die Gesellschaft, alte Wunden klaffen wieder auf, die Rufe nach Revolution werden lauter.

Was ist bloß los in dieser Welt? Ist das Corona-Virus nicht schon Belastung genug? Gerade jetzt, in einer Zeit, in der es Einigkeit bräuchte, in der die Gesellschaft an einem Strang ziehen müsste, gerade jetzt versagt die gesellschaftliche Mitte – und die Ränder triumphieren.

Selbstverständlich ist die Gemengelage schwierig. Das haben die Anti-Corona-Demonstrationen eindrucksvoll illustriert. Das Recht auf die freie Meinungsäußerung ist eine hohes Verfassungsgut, das nicht einfach eingeschränkt oder nur einer bestimmten Gruppe zugesprochen werden kann.

Zivilcourage ist Bürgerpflicht
Unsere Werte im Großen wie im Kleinen bewahren
Eben das nämlich ist identitätsstiftend für unsere Demokratie: Sie muss viele Meinungen aushalten, muss immer wieder neu den Meinungskampf, den Streit um das bessere Argument suchen. Die demokratische und politische Realität darf nicht schwarz-weiß sein, sondern muss die Komplexität und Vielschichtigkeit der Herausforderungen für unser Land in einer globalisierten Welt, als Glied eines geeinten Europas abbilden. Ein Plädoyer für die Demokratie ist daher immer auch ein Plädoyer, Konventionen zu durchbrechen, nicht in starre Denkmuster zu verfallen, sondern die Komplexität der Realität zu begreifen und als Resonanzfläche für das politische Handeln zu begreifen.

Zugleich bringt es uns aber in eine demokratisch-rechtsstaatliche Zwickmühle, wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung und der Infektionsschutz in Konkurrenz treten. Zusätzlich verkompliziert wird diese Lage dadurch, dass es sich bei den Demonstranten der Anti-Corona-Demos keineswegs um homogene Gruppen handelt: Vielmehr demonstrieren skeptische, aufgeklärte Bürger direkt neben Neonazis, Reichsbürgern oder Linksextremisten.

Hier fordere ich eine klare Abgrenzung: Es kann nicht sein, dass diejenigen, die ihre Meinung äußern wollen und ihre Skepsis kundtun möchten, Hand in Hand mit denen demonstrieren, die sich gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wenden, den Rechtsstaat und die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen und unter Berufung auf das Recht auf freie Meinungsäußerung eben dagegen demonstrieren.

Ich sage daher noch einmal: Wir müssen mit demokratischen Mitteln gegenhalten. Demokratie darf nicht an den Rändern gemacht werden, denn dann wird die Demokratie abgeschafft, die Freiheit abbestellt. Unsere Demokratie muss eine Demokratie sein, die aus der gesellschaftlichen Mitte her wirkt.

Diese Demokratie muss getragen werden von Überzeugung, von der Lust auf demokratischen Meinungsstreit und dem Willen, dieses Land zu gestalten, es in seiner Vielfalt und seiner Einzigartigkeit zu bewahren.

Ich bin, nach wie vor, und mit ganzem Herzen überzeugter Demokrat: Ich glaube an die Werte dieses Landes, denn ich habe erfahren wie befreiend seine Freiheiten sind. Es reicht der Blick in die Welt, um uns zu zeigen, was auf dem Spiel steht, was passieren kann, wenn die Demokratie und die Freiheit mit Füßen getreten werden.

Wir dürfen die Demokratie nicht verlernen. Demokratie muss immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden. Und dabei gilt, was schon im Ursprung des griechischen Wortes „Demokratie“ steckt: „Demos“ und „kratos“ – Die Herrschaft des Volkes. Jeder einzelne trägt hierfür Verantwortung, jeder einzelne muss mitwirken, jeder einzelne ist mit seinen Ideen, seiner Kreativität und seinen Fähigkeiten gefordert. Dann kann unsere Demokratie auch grölende und fahnen-schwenkende Randalierer auf der Reichstagstreppe verkraften, obgleich diese Bilder beschämend und unerträglich sind.

Gefährliche Selbstzersetzung
Der Rechtsstaat steht unter Beschuss
„Dem Deutschen Volke“ ist nämlich nicht nur der Bundestag verpflichtet, ihm ist auch die Demokratie anvertraut – ihre Freiheiten, ihre Stärken und ihre Verteidigung. Dem gesamten Deutschen Volke, auch denen, die nicht daran glauben, spricht unser Grundgesetz unveräußerliche Rechte zu und diese werden von den Demokraten unseres Landes verteidigt. Für sie gilt: Demokratie und Freiheit ist auch für Dich da, damit Du gegen sie sein kannst.

Ich weiß um die vielen aufrichtigen Demokraten in diesem Land und rufe ihnen zu: Erhebt eure Stimmen, bleibt nicht stumm, sondern erhebt Widerspruch, erhebt Zweifel, entfacht glühende Feuer des demokratischen Diskutierens, Debattierens und Streitens. Setzen wir den abstoßenden Bildern der letzten Wochen gemeinsam etwas entgegen, zeigen wir allen, die daran zweifeln, dass unsere Demokratie wehrhaft ist und sich wehren wird – gegen alle Anfeindungen, alle Zweifel und alle Kritik.

Anzeige
Die mobile Version verlassen