Lässt sich der Gerichtshof für Menschenrechte von Erdogan instrumentalisieren?
Zara Riffler
Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Róbert Ragnar Spanó, nahm den Ehrendoktortitel der Universität Istanbul an - und traf sich mit Präsident Erdogan
Es ist ein Skandal und eine Blamage für Europa zugleich: Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Róbert Ragnar Spanó, nahm den Ehrendoktortitel der Universität Istanbuls an und traf sich mit Präsident Erdogan – entgegen der katastrophalen Menschenrechtslage in der Türkei sowie der begangenen Menschenrechtsverletzungen von der Türkei im Ausland. Der oberste Repräsentant der Verteidigung der Menschenrechte schmäht dadurch nicht nur Europa, sondern jeden, der Erdogans Regime zum Opfer gefallen ist. Während sich Spanó in der Türkei „geehrt“ fühlt, ignoriert zum Beispiel Ankara die Forderung des Straßburger Gerichts, den Kunstmäzen Osman Kavala freizulassen.
In der Türkei existiert eine faktische Rechtsstaatlichkeit nicht mehr. Seit dem gescheiterten „Putsch“ am 15. Juli 2016, finden gravierende Verletzungen der Menschenrechte systematisch statt. Die Zahl der Lehrer, Hochschullehrer, Beamten, Journalisten und anderen, die verhaftet und entlassen wurden unter dem Vorwand „Gefährder der nationalen Sicherheit“ zu sein, ist immens. Trotz Aufhebung des Ausnahmezustands gehen diese Säuberungen gegen Kritiker weiter. Täglich finden unfaire Gerichtsverhandlungen statt. Diskriminierungen und Gewalt gegenüber Frauen nehmen zu. So haben sich die Morde an Frauen in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Und trotzdem will der Türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan aus der Istanbul-Konvention, die formal Frauen vor häuslicher Gewalt schützt, aussteigen. Die Gewaltenteilung, eines der wichtigsten Charakteristika einer Demokratie, funktioniert nur noch eingeschränkt. Die Änderungen, die Erdogan 2018 an der Verfassung vornehmen ließ, erlauben ihm weitreichende Machtbefugnisse und Einfluss auf die Besetzung der Gerichte. Presse und Internet sind längst nicht mehr frei. Seit dem Einmarsch im Oktober 2019 begeht die Türkei schwere Menschenrechtsverletzungen in Syrien.
Ist Europas wichtigster Richter für Menschenrechte instrumentalisiert?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, den Spanó leitet, befasste sich allein im Jahr 2019 mit 9250 Verfahren gegen die Türkei. Der Fall Spanó wirft fragen auf. Wurde der Präsident und Richter des EGMR von Erdogan und der Regierungspartei AKP instrumentalisiert? Allein, dass der Ehrendoktortitel von der Universität Istanbul verliehen wird, ist verdächtig. Bei der Universität Istanbul, die selbst von den Säuberungen nach dem „Putsch“ betroffen war, lassen sich zunehmend türkische Staatsideologien beobachten, so dass die Universität in den sozialen Medien oft als Sprachrohr der Regierung fungiert. Die Annahme des Ehrentitels verteidigte Spanó mit dem Verweis, dass bei Besuchern von EGMR-Präsidenten die Entgegennahme eines Ehrendoktortitels des Gastlandes zur „Tradition und zum Protokoll“ gehöre. Nun steht aber das Argument von Tradition und Protokoll ziemlich klein dar, im Hinblick zu den immensen Menschenrechtsverletzungen seitens der Türkei.
„Ich fühle mich geehrt, mit der Türkei gefeiert zu haben“
Auffällig ist, dass sich Spanó innerhalb des Besuchprogramms keine Zeit für Regierungskritiker nahm, wie die Einladung von Basak Demirtas, der Ehefrau des inhaftierten Kurden-Politikers Selahattin Demirtas. Der EGMR fordert seit Jahren seine Freilassung, und dennoch scheint solch ein Treffen für einen der wichtigsten Richter Europas nicht von Belang gewesen zu sein. Stattdessen traf sich Spanó exklusiv mit hohen Justizbeamten sowie Vertretern der Erdogan-Regierung. Eine zweite Richterin des EGMR kommt bei dem Fall Spanó ins Spiel: Saadet Yüksel. Ihr Bruder Cüneyt Yüksel saß für die Regierungspartei AKP im Parlament.
Yüksel war auch bei der Verleihung anwesend, bei der Journalisten nicht in den Saal zugelassen wurden. Spanó soll laut türkischen Medienberichten nicht erlaubt haben, dass Fotos gemacht werden. Der Repräsentant der Menschenrechte für Europa setzte also die Presse an diesem Tag aus. Universitätsbeamte sollen sogar Journalisten gewarnt haben, die nach der Zeremonie Fotos schossen: „Nicht schießen“. Gleichzeitig erklärte Spanó, er wolle noch einmal betonen, wie wichtig akademische Freiheit, Rede- und Meinungsfreiheit sind: „Dies sind grundlegende Werte. Dies sind die Werte, die in der Akzeptanz der Europäischen Union und der Akzeptanz der Menschenrechtskonvention liegen.“ Doch auch sagte er: „Ich fühle mich geehrt, mit der Türkei gefeiert zu haben“ und „Die Beziehungen zur Türkei sind von großer Bedeutung“. Wie passt das zusammen?
Sind EGMR-Richter Spanó und Yüksel dem Erdogan-Regime treu?
Es könnte insofern zusammenpassen, indem sowohl Spanó, als auch die Richterin Saadet Yüksel möglicherweise Anhänger des Erdogan-Regimes sind und instrumentalisiert sind. S. Yüksel war nicht nur Absolventin der Universität Istanbul, sie war dort Direktorin in der juristischen Fakultät. Bei ihrer Vereidigungszeromonie in Straßburg 2019 war die höchste Justizorgane der Türkei vertreten – der Präsident des Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, Präsident des Obersten Gerichtshofs, İsmail Rüştü Cirit, und Präsident des Staatsrates, Zerrin Güngör. Die Information, dass sie teilnehmen würden, wurde von der EGMR nicht an die Presse weitergegeben. Yüksel ist die offizielle Begleiterin von Spanó bei exklusiven Treffen mit Staatsvertretern, die auf dem Programm standen – wobei sich die Frage stellt, auf welcher Grundlage diese Treffen überhaupt stattfanden. Die Kombination von Robert Spanó, Saadet Yüksel und ihrem Bruder Cüneyt Yüksel, der ebenfalls an der juristischen Fakultät der Universität Istanbuls war, scheint ausschlaggebend für diesen Fall. Alle drei besuchten nach der Verleihung des Doktortitels gemeinsam eine türkisch-staatliche Schule, ein „Mädchengymnasium“, die sogar nach Yüksels Eltern benannt wurde: „Mardin-Artuklu, Mehmet Edip – Fatma Yüksel – Kiz Anadolu Lisesi“. Auf dem Gruppenfoto, das während des Schulbesuchs entstand, sind Vertreter der Regierungspartei AKP anwesend. Darunter auch der von der Regierung eingesetzte Zwangsverwalter von Mardin, während der tatsächlich gewählte Bürgermeister von Mardin von der Regierung abgesetzt wurde. Wieso trifft der wichtigste europäische Richter für Menschenrechte einen Zwangsverwalter? Inwiefern sollte dieses Treffen annähernd etwas mit dem Aufgaben des EGMR zu tun haben?
Unterstützten EGMR-Richter das Erdogan-Regime?
Robert Spanó und Saadet Yüksel sollten an dieser Stelle dringend erklären, was dieser Besuch mit der Arbeit des EGMR zu tun hat. Wird hier der EGMR als Institution von beiden ausgenutzt, um Lobbyismus zu betreiben? In der Online Zeitung Yeni Safak, erklärte Cüneyt Yüksel 2007, weshalb er in die AKP eingetreten sei, dabei sprach er von seiner „Zuneigung zu Erdogan“, er wäre „sehr beeindruckt von seiner aufrichtigen Umarmung“ gewesen.
Der Türkei-Experte Professor Burak Copur hinterfragt zu Recht, in welchem akademischem Kontext überhaupt die Verleihung des Ehrendoktortitels steht, wofür er geehrt wurde, wer diese Verleihung initiiert hat und ob dies mit den Geschwistern Yüksel in Verbindung stehen könnte. Man könnte sich auch fragen: Was hat Robert Spanó dem Erdogan-Regime für einen Gefallen getan, um einen Ehrendoktortitel zu erhalten? Oder welche Gefallen wird er dafür noch tun? Da die Yüksel-Familie aus Mardin kommt, scheint der Besuch der Schule direkt etwas mit den Yüksel-Geschwistern zu tun haben zu müssen. Beide Geschwister stehen der Universität Istanbul nahe. Hat die Yüksel-Familie den Ehrenhut initiiert, und revanchiert sich Spanó etwa mit dem Schul- und Stadt-Besuch dafür?
Während des Besuchsprogramms hat sich Robert Spanó mit keinem einzigen türkischen Menschenrechtler getroffen. Was war also wirklich das Ziel des derzeitigen Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte?
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