Tichys Einblick
Parteiische Gerichte

Das Kopftuch und die Neutralität

Das Bundesarbeitsgericht hat einer Lehrerin Recht gegeben, der untersagt worden war, ein Kopftuch zu tragen. Beendet das Urteil einen jahrzehntealten Grundsatzstreit?

© Carsten Koall/Getty Images

Es ist das vorläufige Ende eines jahrzehntelangen Streits um die Präsenz des Kopftuchs als Symbol des Islams an Orten, die zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet sind, wie Schulen oder Gerichte. Und es ist ein Sieg auf der ganzen Linie für die Muslime. Bereits vor über 20 Jahren mussten Gerichte entscheiden, ob private Arbeitgeber das Kopftuch am Arbeitsplatz verbieten dürfen, oder ob es sich dabei um eine Diskriminierung der Frauen handelt, für die das Kopftuch Teil ihrer Identität ist; eine Diskriminierung, die dem Grundgesetz widerspricht. Diese Frage ist weitgehend im Sinne der Kopftuchträgerinnen beantwortet; sie sind in Geschäften, Büros und vielen anderen Arbeitsplätzen selbstverständlich präsent. Allein, wo das Kopftuch zu einer Gefährdung führen kann, ist es nicht erlaubt. Nicht ganz so eindeutig ist die Rechtslage bei Schulen, Gerichten und anderen Orten, wo weltanschauliche Neutralität verlangt wird.

Faktisch ging es immer um das Kopftuch

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Da diese Bereiche großenteils unter die Hoheit der Länder fallen, gibt es unterschiedliche Regelungen. Berlin mit einem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil hat bereits unter dem regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit 2005 ein „Neutralitätsgesetz“ verabschiedet, das Pädagogen an den Berliner Schulen das Tragen jedweder religiösen Symbole verbietet. Das betrifft nicht nur das Kopftuch, sondern auch Kreuze und Kippa. Das Gesetz ist im heutigen rot-rot-grünen Senat umstritten. Bildungssenatorin Sandra Scheeres von der SPD setzt sich vehement dafür ein, während Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen das Gesetz ablehnt, weil er es für verfassungswidrig hält.

Faktisch ging es nie um Kreuze oder Kippas, die offen zu tragen in Berlin ohnehin gefährlich ist, sondern um das Kopftuch. So war es eine muslimische Lehrerin, die gegen das Gesetz klagte, da sie sich diskriminiert und in ihrer Religionsfreiheit behindert fühlte. Das Landesarbeitsgericht gab ihr Recht und sprach ihr eine Entschädigung von über 5.000 Euro zu, weil sie wegen des Beharrens auf dem Kopftuch nicht in den Schuldienst übernommen worden war. Dagegen ging das Land Berlin in Revision beim Bundesarbeitsgericht in Erfurt – und verlor letzte Woche. Das höchste Arbeitsgericht ist ebenfalls der Meinung, das Berliner Neutralitätsgesetz verstoße gegen die Verfassung, weil es der Diskriminierung Vorschub leiste. Die Erfurter Richter betonten, ein Verbot des Kopftuchs sei nur dann zu rechtfertigen, wenn dadurch Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens vorlägen. Das Gesetz müsse überarbeitet werden, um nicht weiter gegen die Verfassung zu verstoßen.

Gemischte Reaktionen auf aktuelles Urteil

Die Richter folgen damit der aktuellen Linie des Bundesverfassungsgerichts, das sich bereits zweimal mit unterschiedlicher Stoßrichtung mit dem Thema befasst hat. 2003 wurden vorsorgliche Kopftuchverbote erlaubt, wenn dafür eine gesetzliche Grundlage vorhanden sei. 2015 wurde das Urteil revidiert und ein pauschales Kopftuchverbot für verfassungswidrig erklärt. Dabei ging das oberste Gericht in einer Mehrheitsentscheidung bei zwei abweichenden Stimmen in seiner relativistischen Grundhaltung sogar noch weiter und erklärte die Bevorzugung christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte beziehungsweise Traditionen für unzulässig.

Kopftuchverbot fällt
Islamisten wollen das Neutralitätsgesetz abschaffen
Das aktuelle Urteil hat gemischte Reaktionen hervorgerufen. Neben den muslimischen Verbänden wurde es auch von der Evangelischen Kirche und den Grünen begrüßt. „Wer eine tolerante und plurale Gesellschaft möchte, sollte nicht auf das Verbot religiöser Symbole setzen. Wir kommen weiter, wenn wir lernen, mit Unterschiedlichkeiten zu leben“, erklärte Jörg Antoine, Präsident der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. Auch der Grüne Justizsenator Dirk Behrendt machte aus seiner Genugtuung keinen Hehl: „In der multireligiösen Gesellschaft muss es darum gehen, was jemand im Kopf und nicht auf dem Kopf hat“, teilte Behrendt mit.

Die Bildungssenatorin Sandra Scheeres kündigte dagegen an, die schriftliche Urteilsbegründung abzuwarten und dann zu prüfen, ob der Senat Verfassungsbeschwerde einlegt. Unterstützung erhält sie von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Bundesgeschäftsführerin Christa Stolle sieht in der Besetzung öffentlicher Ämter mit kopftuchtragenden Frauen einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot des Staates. Und sie fürchtet: „Das Urteil ist ein Rückschritt für Mädchen und Frauen und ihr Recht auf Gleichberechtigung und Chancengleichheit.“ Im Hinblick auf die politische Aussagekraft des islamischen Kopftuchs und den schon vorhandenen religiös bedingten Problemen an Berliner Schulen hat die Organisation kein Verständnis für die Entscheidung.

Symbolische Bedeutung des Kopftuches

Die symbolische Bedeutung des Kopftuchs wurde bei der juristischen Debatte kaum thematisiert. Wer, wie die Evangelische Kirche, das Tuch als Zeichen von Toleranz und Vielfalt betrachtet, übersieht, dass es weltweit buchstäblich kein Land und keine Region gibt, in der dieses Kleidungsstück vorgeschrieben ist und gleichzeitig Toleranz, Vielfalt und Demokratie herrschen.


Dieser Beitrag von Klemens Ludwig erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

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