Nach dem Aufruf von 153 Intellektuellen des englischsprachigen Raums in „Harper’s“ für eine freie Debatte und gegen Gesinnungsdruck, appellieren jetzt auch zahlreiche Autoren und Wissenschaftler aus Deutschland, der Schweiz und Österreich für den angstfreien Austausch von Argumenten, und wenden sich gegen die zunehmende Praxis, moralischen Druck auf Veranstalter und Verlage auszuüben, um Auftritte und Publikationen bestimmter Künstler und Autoren zu verhindern beziehungsweise zu denunzieren. Den Aufruf in Harper’s hatten Intellektuelle mit linksliberalen bis konservativen Ansichten unterzeichnet, unter anderem die Schriftstellerin Joanne K. Rowling, der Philosoph Noam Chomsky, der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama und der Autor und Journalist Malcom Gladwell. Den deutschsprachigen Aufruf publizierte die Plattform „Intellectual Deep Web Europa“, die sich an den (ironischen) Begriff „Intellectal Dark Web“ anlehnt, einer Plattform für den von politischer Korrektness freien Meinungsaustausch, die von den Autoren Jordan B. Peterson, Sam Harris und anderen als Reaktion auf den wachsenden Gesinnungsdruck in Universitäten und etablierten Medien gegründet worden war.
Initiatoren des deutschsprachigen Aufrufs sind der Autor und Redakteur Milosz Matuschek (Der Schweizer Monat, Neue Züricher Zeitung) und der Publizist Gunnar Kaiser.
Zu den Erstunterzeichnern gehören Autoren wie Alexander Kluge, Monika Maron, Asfa-Wossen Asserate, Ralf Bönt, Cora Stephan und Günter Wallraff, der Philosoph Robert Pfaller, Wissenschaftler wie der Jurist Reinhard Merkel, der Historiker Jörg Baberowski, der Medientheoretiker Norbert Bolz, die Migrationsforscherin Sandra Kostner und die Ethnologin Susanne Schröter, Journalisten, Redakteure und Autoren mehrerer Medien, unter anderem Götz Aly (Berliner Zeitung), Michèle Binswanger (Tagesanzeiger), Frank Lübberding und Philip Plickert (FAZ), Harald Martenstein (ZEIT, Tagesspiegel), Alexander Kissler (NZZ), Alexander Grau (Cicero), Josef Kraus und Alexander Wendt (Tichys Einblick).
Sie vereint bei allen Meinungsunterschieden der Satz von Jean Paul, den der Aufruf zitiert: „Freiheit ist ein Gut, dessen Dasein weniger Vergnügen bringt als seine Abwesenheit Schmerzen“ – also das Bekenntnis zu einer mühevollen Konfliktpraxis namens Demokratie.
TE dokumentiert den Text des Aufrufs:
„Appell: Befreien wir das freie Denken aus dem Würgegriff
Absagen, löschen, zensieren: seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt. Der Meinungskorridor wird verengt, Informationsinseln versinken, Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens werden stummgeschaltet und stigmatisiert. Es ist keine zulässige gesellschaftliche „Kritik“ mehr, wenn zur Durchsetzung der eigenen Weltsicht Mittel angewendet werden, die das Fundament der offenen liberalen Gesellschaft zerstören.
Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit. Nicht die besseren Argumente zählen, sondern zunehmend zur Schau gestellte Haltung und richtige Moral. Stammes- und Herdendenken machen sich breit. Das Denken in Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten bestimmt die Debatten – und verhindert dadurch nicht selten eine echte Diskussion, Austausch und Erkenntnisgewinn. Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt oder überhaupt zum Thema werden darf. Was an Universitäten und Bildungsanstalten begann, ist inzwischen in Kunst und Kultur, bei Kabarettisten und Leitartiklern angekommen.
Die Grenze des Erträglichen ist längst überschritten.
Inzwischen sind die demokratischen Prozesse selbst bedroht. Der freie Zugang zum öffentlichen Debattenraum ist die Wesensgrundlage eines jeden künstlerischen, wissenschaftlichen oder journalistischen Schaffens sowie die Basis für die Urteilskraft eines jeden Bürgers. Ohne unverstellten Zugang zu Informationen keine unverzerrte Urteilsfindung, keine wohlbegründete Entscheidung und keine funktionierende Demokratie. Wie wollen wir in Zukunft Sachfragen von öffentlichem Interesse behandeln? Kuratiert und eingehegt – oder frei?
In einer freien Gesellschaft ist das gezielte Ausüben von Druck auf Intellektuelle, Künstler und Autoren und auf jeden, der eine Meinung äußert, die dem aktuell Akzeptierten widerspricht, sowie auf Veranstalter, Verleger oder Arbeitgeber eine inakzeptable Anmaßung. Weder der Staat noch andere, seien es Einzelne oder eine Gruppe „Betroffener“, dürfen den Zugang zum Debattenraum reglementieren. In der Demokratie gehört die Macht entweder dem Einzelnen, oder der Einzelne gehört der Macht.
Das Recht auf freie Rede und Informationsgewinnung sowie auf freie wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung ist ein Recht und kein Privileg, das von dominierenden Gesinnungsgemeinschaften an Gesinnungsgleiche verliehen und missliebigen Personen entzogen werden kann. Es ist dabei unerheblich, auf welcher politischen Seite die Gruppierung steht, ob sie religiös, weltanschaulich oder moralisch motiviert ist – ein Angriff auf die Demokratie bleibt ein Angriff auf die Demokratie. Zuerst verarmt die öffentliche Debatte, dann kollabiert die vernunftgeleitete öffentliche Entscheidungsfindung.
Die erste „Spielregel“ für einen offenen Diskurs muss deshalb lauten: das Spiel findet statt!
Doch das Problem ist grösser.
Wir brauchen eine generelle Ent-Politisierung und Ent-Ideologisierung der öffentlichen Debatte. Sonst öffnen wir der Willkür des Zeitgeistes Tür und Tor. Politische Sprache ist ein Machtinstrument. Sie ist, wie schon George Orwell wusste, dazu geschaffen, „Lügen wahrhaftig und Mord respektabel klingen zu lassen und dem bloßen Wind einen Anschein von Festigkeit zu verleihen.“ Besinnen wir uns stattdessen auf die Standards und die bewährten methodischen Werkzeuge des demokratischen Prozesses. Fördern wir, was der Wahrheitssuche und dem Erkenntnisinteresse dient und das Wissen aller vermehrt.
Gerade in unübersichtlichen Zeiten braucht es nicht weniger, sondern mehr unkonventionelles Denken. Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben Zensur und Zurückhaltung von Informationen den Fortschritt befördert. Meinungsfreiheit gilt im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnungen prinzipiell für alle Meinungen, und besonders für solche, die als anstößig, provokant oder verstörend eingestuft werden. Sonst bräuchte es die Meinungsfreiheit nicht.
Kein Thema von öffentlichem Interesse darf prinzipiell aus dem Debattenraum ausgeschlossen sein. Demokratie wird unter Schmerzen der Beteiligten geboren. Sie stirbt durch Monotonie und Konformismus oder wenn der Mut, eine unkonventionelle Ansicht zu vertreten, eine Art Berufsverbot zur Folge haben kann – und die Öffentlichkeit dazu schweigt. „Freiheit ist ein Gut, dessen Dasein weniger Vergnügen bringt als seine Abwesenheit Schmerzen.“ (Jean Paul)
Seien wir generell skeptisch gegenüber Reinheitsfanatikern, die uns vor gefährlichen Ideen und Meinungen bewahren wollen. Stärken wir das Vertrauen in das intellektuelle Immunsystem unserer Gesellschaft – wir schwächen es, wenn wir es abschotten und quasi vor „Erregern“ unkonventioneller Ideen bewahren wollen. Werden wir immun gegenüber Herdenmentalität und Konformismus: Beide führen letztlich in die Unfreiheit, gleich unter welchem Etikett.
Entziehen wir dem öffentlichen Debattenraum die Angst und bringen wir den Mut zurück! Entgiften wir das Meinungsklima und schaffen wir ein Klima der anregenden, redlich geführten Auseinandersetzung, sowie von kultureller Vielfalt, intellektueller Neugier, Gedankenfrische und Spass am geistigen Schaffen.
Wir fordern sämtliche Veranstalter, Multiplikatoren oder Plattformbetreiber auf, dem Druck auf sie standzuhalten und nicht die Lautstarken darüber entscheiden zu lassen, ob eine Veranstaltung stattfindet oder nicht.
Wir solidarisieren uns mit den Ausgeladenen, Zensierten, Stummgeschalteten oder unsichtbar gewordenen. Nicht, weil wir ihre Meinung teilen. Vielleicht lehnen wir diese sogar strikt ab. Sondern weil wir sie hören wollen, um uns selbst eine Meinung bilden zu können. Wir senden ein Signal des Mutes an alle Personen des öffentlichen Lebens, sich mit betroffenen Kolleginnen und Kollegen zu solidarisieren. Erhöhen wir gemeinsam den Preis für Feigheit und senken wir den Preis für Mut.
Wir beenden hiermit das unselige Phänomen der Kontaktschuld. Ohne sie wäre die Absageunkultur nicht möglich. Kontakt ist nicht geistige Komplizenschaft. Die Nutzung einer gemeinsamen Plattform oder Bühne ändert nichts daran, dass jeder für sich spricht und auch nur dafür verantwortlich ist, was er oder sie sagt.
Auch die Unterzeichner dieses Appells sprechen jeweils nur für sich selbst. Uns eint vielleicht nichts, außer die Sehnsucht nach einer aufregenden, für beide Seiten erhellenden Konversation und nach einem vielfältigen Kulturangebot, was auch immer jede und jeder darunter verstehen mag.“
Hamed Abdel-Samad, Politikwissenschaftler und Publizist
Andreas Altmann, Reporter, Reiseschriftsteller
Götz Aly, Historiker und Publizist
Prinz Asfa-Wossen Asserate, Publizist und Unternehmensberater
Jörg Baberowski, Historiker und Gewaltforscher
Michèle Binswanger, Journalistin, Tagesanzeiger
Norbert Bolz, em. Professor für Medienwissenschaft, TU Berlin
Raphael M. Bonelli, Psychiater und Autor
Ralf Bönt, Schriftsteller
Vince Ebert, Wissenschaftskabarettist
Hartmut Esser, Professor für Soziologie, Universität Mannheim
Carl Friedrich Gethmann, Professur für Philosophie, Universität Siegen, Mitglied des Ethikrates
Giuseppe Gracia, Autor, Kolumnist/Blick
Alexander Grau, Philosoph, Kolumnist/Cicero
Bettina Hagen, Malerin
Peter Hahne, Fernsehmoderator und Autor
Green Rabbit, Youtuber
Lars Hartmann, Kulturjournalist und Blogger
Rainer Hegselmann, Professor, Frankfurt School of Finance & Management
Michael Hofreiter, Professor für Zoologie/Universität Potsdam
Arne Hoffmann, Wissenschaftsjournalist und Männerrechtler
Helmut Holzhey, em. Professor für Philosophie, Universität Zürich
Alexander Horn, Publizist und Geschäftsführer Politikmagazin Novo
Erwin Jurtschitsch, Journalist, Unternehmer, Mitgründer der taz/die tageszeitung
Necla Kelek, Soziologin und Publizistin
Alexander Kissler, Journalist und Autor
Alexander Kluge, Filmemacher, Schriftsteller, Philosoph
Sandra Kostner, Migrationsforscherin, PH Schwäbisch Gmünd
Ferdinand Knauß, Historiker und Journalist (Tichys Einblick)
Markus Krall, Wirtschaftspublizist
Josef Kraus, Publizist
Walter Krämer, Ökonom, Professor, Autor
Frank Lübberding, Journalist
Monika Maron, Schriftstellerin
Harald Martenstein, Autor und Journalist
Reinhard Merkel, Strafrechtsprofessor, langjähriges Mitglied im Ethikrat
Axel Meyer, Professor für Zoologie/Evolutionsbiologie, Universität Konstanz
Rebecca Niazi-Shahabi, Sachbuchautorin
Gunther Nickel, Professor für Literatur, Universität Mainz
Haralampi G. Oroschakoff, Künstler
Rainer Paris, Soziologe
Robert Pfaller, Philosoph und Kulturtheoretiker, Universität Linz
Philip Plickert, Journalist, FAZ
Sascha Reh, Schriftsteller
Patrick Reiser Lehrer, Coach, Youtuber
Michael Schmidt-Salomon Philosoph, Publizist/Giordano Bruno Stiftung
Susanne Schröter, Professorin für Ethnologie, Universität Frankfurt
Gerhard Schwarz, Publizist, Progress Foundation
Wolfgang Sofsky, Soziologe und Essayist
Thomas Sevcik, Stratege
Cora Stephan, Schriftstellerin
Ulrike Stockmann, Journalistin/Achse des Guten, Jüdische Rundschau
Andreas Thiel, Kabarettist
Maritta Tkalec, Journalistin, Berliner Zeitung
Raymond Unger, Künstler und Autor
Michael von Liechtenstein, Unternehmer
Daniel von Wachter, Professor für Philosophie, Liechtenstein
Günter Wallraff, Journalist und Schriftsteller
Alexander Wendt, Autor, Journalist (Tichys Einblick)
Tamara Wernli, Youtuberin, Kolumnistin/Weltwoche
Stephan Wirz, Titularprofessor für Ethik und Publizist
Michael Zöller, em. Professor für Soziologie, Universität Bayreuth
Christian Zulliger, Hayek Club Zürich