In Weißrussland erleben wir gegenwärtig, was geschehen kann, wenn ein Diktator versucht, sich das Mäntelchen eines Demokraten überzuwerfen und seinem Volk vorzumachen, er sei beim Volk beliebt. Denn Aljaksandr Ryhorawitsch Lukaschenka – meist in russischer Schreibweise: Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko – hat überzogen.
Der am 30. August 1954 in Kopys geborene Altkommunist, der 1991 den Putschversuch gegen Michail Gorbatschow unterstützte, wollte sich einmal mehr seine totale Macht über den Staat zwischen Baltikum und Russland vom umfassend kontrollierten Volk absegnen lassen. Am Ende eines Wahlkampfes, bei dem Kontrahenten nicht zugelassen wurden oder im Gefängnis verschwanden, ließ er eine Zustimmung von 80,1 Pozent für sich und nur 10,1 Prozent für die letztverbliebene Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja verkünden.
Das war dann doch zu viel der gefälschten Zustimmung – Tichanowskaja, die erst kurzfristig für ihren von der Bewerbung um das Präsidentenamt ausgeschlossenen Ehemann in die Bresche gesprungen war, wurde zur betrogenen Siegerin. Nur zehn Prozent – das schien angesichts der Euphorie, die die 1982 geborene Pädagogin bei Teilen der Bevölkerung ausgelöst hatte, eine Farce. Und so wurde Tichanowskaja zur Ikone des Protestes gegen den Langzeit-Präsidenten, Flucht ins EU-Ausland inklusive.
Doch Lukaschenka wollte das Ergebnis offenbar hübsch haben. Ob von ihm selbst beauftragt, oder von den willfährigen Schergen in vorauseilendem Gehorsam hochgeschrieben, um dem eitlen Schnauzbartträger zu schmeicheln – auch das werden wir voraussichtlich nie erfahren. Für seine Bürger allerdings war das Ergebnis zu schön manipuliert. Und so demonstrieren seit Tagen die Weißrussen friedlich und bislang noch fröhlich gegen ihren Diktator, einem derzeit noch treu zur Fahne stehenden Sicherheitsapparat zum Trotz.
Was unverrückbar ist
Lukaschenka hat sich verkalkuliert. In der Erwartung, mit einem vorgeblich überzeugenden Ergebnis das Volk ein weiteres Mal bei der Stange halten zu können, organisierte er seinen Abgang auf Raten. Die Zeichen für ihn stehen schlecht, wenn der Mann nicht nur den großen Nachbarn Russland um Hilfe bittet, sondern gleichzeitig Militäreinheiten an die Westgrenze verlegen lässt. Als ob die NATO mir nichts, dir nichts einmarschieren würde, um den Demonstranten zum Sieg zu verhelfen.
Diese Situation nun lässt es empfehlenswert erscheinen, die möglichen Konsequenzen etwas näher zu betrachten.
Beginnen wir mit dem Selbstverständlichen:
- Lukaschenka wird alles in seinen Möglichkeiten Stehende tun, um sich weiter an der Macht zu halten. Solange der Sicherheitsapparat hinter ihm steht, kann er die Proteste niederknüppeln. Die Frage allerdings lautet: Sind Polizei, Geheimdienst und Militär bereit, gegen das eigene Volk zu kämpfen? Die Erfahrung lehrt zumindest, dass die unteren und mittleren Ränge irgendwann vor der Gewissensfrage stehen – und diese mit der Suche nach der Antwort darauf beginnen, welche Funktion und Lebensperspektive sie haben könnten, sollte die Revolution erfolgreich sein. Verfestigt sich der Eindruck, dass der Dauerpräsident schwankt und in Kürze fallen wird, kippen die Sicherheitskräfte wie Dominosteine.
- Die NATO hat ein strategisches Interesse daran, Weißrussland als Partner zu gewinnen. Doch geht dieses Interesse nicht so weit, dafür einen Konflikt mit Russland zu riskieren. Eine militärische Intervention des Militärbündnisses scheidet insofern aus, selbst dann, wenn Weißrussland in einen Bürgerkrieg gestürzt würde.
- Für einige Chefstrategen der Europäischen Union könnte die Vorstellung, aus Weißrussland eine zweite Ukraine zu machen, verlockend sein. Emmanuel Macron ist bereits unterwegs, den Demonstranten Mut zuzusprechen und über Sanktionen gegen den Machthaber nachzudenken. Vielleicht auch findet er in EU-Führungskreisen Unterstützung, wenn er beispielsweise die Versuchung verspürt, die Opposition mit Geldmitteln zu unterstützen. Das allerdings wäre es dann auch – militärisch hat die EU ohnehin nichts zu bieten, und der Handelspartner in Moskau ist bedeutender als die nach wie vor sozialistisch gesteuerte Planwirtschaft des Binnenlands Weißrussland. Die EU stellt insofern hinsichtlich der aktuellen Situation in Weißrussland keine Gefahr dar – auch wenn dessen Ostgrenze zwischen Baltikum und Ukraine eine aus strategischer Sicht wünschenswerte Begradigung der kontinentalen Barriere gegen Russland wäre.
- Russland wird eine Situation wie in Kiew kein zweites Mal zulassen. Ein „Abfall“ des wirtschaftlich eng mit Russland verknüpften Nach-UdSSR-Staates wäre nicht nur für Putin ein unerträglicher Gesichtsverlust – Russland betrachtet Weißrussland auch mehr noch als die Ukraine als Teil der russischen Welt. Ein vorgeblich bereits erfolgtes Angebot zur militärischen Intervention scheint insofern naheliegend.
Was aber wird nun konkret geschehen?
Tatsache ist: Lukaschenkas Tage sind gezählt. Ohne Russland sind sie es, weil die Opposition von sich aus keine Ruhe geben wird. Mit Russland sind sie es, weil Putin keine Versager duldet – und ein Versager ist der Weißrusse spätestens seit dem Moment, seit eine von ihm manipulierte Wahl zu Massenprotesten geführt hat, die er nicht in den Griff bekommt.
Dennoch könnte der Diktator seinen Amtskollegen in Moskau bitten, ihn durch einen Einmarsch an der Macht zu halten. Erfolgt eine solche Bitte offiziell, könnte Putin versucht sein, ihr zu folgen. Allerdings würde auf den Einmarsch an Lukaschenka schnell die dringende Aufforderung folgen, mit seinem Ersparten den Wohnort zu wechseln. Vielleicht ein Alterssitz auf der Krim oder bei Sotchi. Denn den Fehler, den Putin bei dem Ukrainer Wiktor Fedorowytsch Janukowytsch machte, wird er kein zweites Mal begehen. Übernimmt Putin durch die Hintertür Weißrussland, dann muss dort ein neuer, unverbrauchter Kopf an die Spitze. Jemand, der nicht beim Volk verhasst ist.
Folgt der Russe einem Rettungsruf Lukaschenkas und schickt Armee oder Paramilitärs, dann kann der weißrussische Nationalismus aus befreundeten, russischen Nachbarn schnell verhasste Besatzer machen. Käme es so, müsste Putins Militär gegen das weißrussische Volk kämpfen – und das könnte sogar in Russland selbst auf Widerspruch stoßen und dort ähnliche Proteste gegen die Herrschenden befeuern, wie es sie derzeit aus Putins Sicht in Weißrussland zu löschen gilt.
Dennoch bleibt der militärische Einmarsch zugunsten des amtierenden Diktators eine Option. Eine militärische Gegenreaktion der NATO hätte Putin nicht zu befürchten. Allerdings würde das ohnehin angespannte Verhältnis weiter belastet – und die NATO-Präsenz im Baltikum und in Polen deutlich erhöht werden. Darüber hinaus könnte die militärische Okkupation den südlichen Nachbarn noch energischer in die Arme der NATO treiben: Marschiert Russland in Weißrussland ein, ohne dass die NATO militärisch reagiert, dann könnte die Ukraine hier ihr eigenes Schicksal vor Augen sehen.
Gibt es eine optimale Lösung?
Welches wäre nun die für (fast) alle Seiten beste Lösung? Dazu vorweg: Das Schicksal der weißrussischen Bevölkerung interessiert alle sonstigen Beteiligten bestenfalls peripher – wie immer geht es um Geopolitik und Wirtschaftsinteressen.
Hier ist der Blick zuallererst auf Polen zu richten. Das konnte mit einem Pufferstaat zu Russland gut leben.
Um für eine Verstärkung der NATO an Russland Westgrenze keinen unübersehbaren Anlass zu geben, könnte sich ein mögliches, russisches Militärabenteuer auf ein konkretes Ziel beschränken, welches unmittelbar nach Erreichen desselben zur Rückführung der Interventionskräfte führt. Wie aber könnte ein solches Ziel aussehen?
Putin und die Opposition
Der Machterhalt des Lukaschenka ist es nicht. Putin riskiert keine internationalen Spannungen, um einem ehemaligen Politoffizier sein Amt zu retten. Sehr wohl aber wird Putin bereit sein, einiges zu riskieren, um Weißrussland nicht an NATO und EU fallen zu lassen. Der Hilferuf des Diktators mag dabei hilfreich sein und könnte Putins Handeln beeinflussen – doch zu unkalkulierbaren Abenteuern wird ihn auch das nicht verleiten.
Denkbar ist gleichwohl eine Massierung russischer Streitkräfte an der Grenze zu Weißrussland. Das wäre scheinbar ein Signal an Lukaschenka, ihn nicht fallen zu lassen. Auf jeden Fall aber wäre es ein Zeichen an die NATO, dass Russland eine zweite Ukraine nicht zulassen wird. Und es wäre gleichzeitig ein Zeichen an die Demonstranten, nicht auf „falsche“ Ideen zu kommen und aus der sich anbahnenden Revolution die Loslösung von Russland werden zu lassen.
Als russischer Schutzpatron einer national-weißrussischen Regierung aus den Reihen der Opposition, möglicherweise gefestigt über einen neuen Wahlgang, an dem Lukaschenka nicht mehr teilnimmt, könnte Putin den russischen Einfluss sogar ausbauen, ohne damit im Westen auf allzu heftige Widerstände zu stoßen. Die mögliche Schmutzarbeit hinsichtlich des Diktators könnte in Ernstfall sogar von weißrussischen Sicherheitsorganen übernommen werden. Kontakte aus alten Sowjetzeiten bestehen nach wie vor – und die Belarussen sind eben keine Ukrainer, die in der Geschichte unter der russischen Übermacht mehr als einmal erheblich leiden mussten.
Sollte es so kommen, wäre dem Westen dringend zu empfehlen, sich mit einer solchen, neuen Situation anzufreunden. Die Idee, die letzte lupenreine Diktatur Europas nach EU-Muster zu demokratisieren, sollte dabei in der Schublade bleiben. Entscheidend ist, dass Weißrussland eine Art Pufferstaat bleibt, in dem die Bürger nicht von einem einsamen Despoten zwangsbestimmt werden. Wenn dieses sich traditionell nach Osten ausrichtende Land auch künftig enger Partner der Russen bleibt, ist für den Westen nichts verloren – für Putin aber alles gewonnen.
Entscheidend wird es deshalb sein, ob Putin die Situation richtig einschätzt und nicht wie im Fall der Ukraine auf ein totes Pferd setzt. Dafür bekannt, zweimal denselben Fehler zu machen, ist der Russe allerdings nicht.