Der Geschützdonner drang bis in die Vororte von Warschau. Am 13. August 1920 traten Truppen der 16. Armee der Sowjetrussen zum Angriff auf den polnischen Brückenkopf östlich der Weichsel an, sie eroberten die Kleinstadt Radzymin, nur 23 Kilometer nordöstlich von Warschau; drei weitere Armeen und ein Kavalleriekorps stießen im Norden vor, um die Hauptstadt einzukreisen. Am 10. August erst hatte die Streitmacht von mehr als 100.000 Mann den Bug überquert. Jetzt schien es nur eine Frage von achtundvierzig Stunden, bis sie ins Zentrum der polnischen Hauptstadt einrücken konnte. Fast alle Diplomaten flohen spätestens an diesem 13. August aus ihren Botschaften. Es blieben nur der britische Botschafter, der Gesandte des Vatikans und die kleine französische Militärmission unter Leitung des Generals Maxime Weygand. Der sowjetische Oberbefehlshaber Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski hatte die polnischen Truppen monatelang vor sich hergetrieben, Kiew und Minsk von ihnen zurückerobert. Jetzt sah er sich vor dem größten Erfolg seiner Laufbahn. Fünf Armeen standen ihm zur Verfügung, darunter die gefürchtete Reiterarmee von Marschall Semjon Budjonny. Politisch stand der Feldzug unter Aufsicht eines Kaders, der für seine Durchsetzungsfähigkeit bekannt war: Josef Stalin.
Der polnische Armeechef Józef Piłsudski hatte Weygand am 9. August angeboten, sich das Kommando mit ihm zu teilen. Der General lehnte ab. „Truppen zu kommandieren, die so hastig zusammengestellt wurden wie unsere“, gab Piłsudski das Gespräch mit seinem französischen Partner später wieder, „ohne deren Sichtweise und Führungsmethoden zu kennen, das wäre zu schwierig für ihn und faktisch unmöglich.“ Der polnische Marschall machte sich keine Illusionen über den Zustand seiner Truppe. In seinen Erinnerungen beschrieb er, was er sah, als er jede Einheit seiner 4. Armee besuchte, überwiegend frisch ausgehobene Rekruten: „In der 21. Division traten fast die Hälfte der Soldaten barfuß zum Appell an.“ Sie trugen ein Sammelsurium an Gewehren, das französische Lebel, das österreichische Mannlicher, russische Berdan-Gewehre und deutsche Mauser. Seine Soldaten brachte er vor allem mit einer Botschaft dazu, in den Kampf zu gehen, der Mahnung, dass der eben erst wiedergegründete Staat Polen jetzt nur in ihren Händen lag.
Weygand beschwor Piłsudski, sich in Verteidigungsstellungen einzugraben. Dann könnte es vielleicht so etwas geben wie das Wunder an der Marne 1914, als das französische Heer den deutschen Vorstoß auf Paris zum Stehen brachte.
Über die Bedeutung des Dramas, das sich 1920 vor Warschau abspielte, waren sich alle Mitspieler im Klaren. Es ging nicht nur um Warschau und Polen. In seinem Tagesbefehl vom 2. Juli 1920 machte Tuchatschewski – ein hochtalentierter Militär mit einer glänzenden Laufbahn unter dem Zaren und ein erklärter Verehrer Napoleons – seinen Soldaten deutlich, dass sie gerade Weltgeschichte schrieben.
„Die Truppen, die unter der roten Fahne angetreten sind, stehen nun bereit, bis zum Tod der Streitkräfte des weißen Adlers zu kämpfen, die Schmach von Kiew zu rächen und die kriminelle Piłsudski-Regierung im Blut der ausgelöschten polnischen Armee zu ertränken. Das Schicksal der Weltrevolution wird sich an der westlichen Front entscheiden. Der Weg zum Weltbrand führt über die Leiche Polens.“
Über die Leiche Polens – das hieß: nach Mitteleuropa. Nach Deutschland. Die Idee von Wladimir Iljitsch Lenin zur Sicherung des ersten kommunistischen Staates war ebenso einfach wie einleuchtend: Sowjetrussland durfte nicht isoliert bleiben, sondern musste sein Modell in andere europäische Länder tragen, und zwar mit Gewalt. a. Ein Schutzwall von neuen Sowjetrepubliken – in Polen, Österreich, vor allem aber in Deutschland – würde die Revolution unangreifbar machen. Und dafür, das hatte Lenin hellsichtig erkannt, bot sich 1920 eine Chance, die ein Weltveränderer wie er nicht verpassen durfte.
Nach dem Vertrag von Versailles, in Kraft getreten im Januar 1920, durfte das Deutsche Reich nur noch eine schwache und kaum selbstverteidigungsfähige Armee unterhalten. Die so genannte Übergangsreichswehr verfügte im August 1920 weniger als 200.000 und etwas mehr als 150.000 Mann, sie befand sich gerade auf dem Weg zu ihrer vertraglichen Endstärke von 100.000 Soldaten. Vor allem aber besaß sie keine schwere Artillerie – kein Kaliber über 105 Millimeter – keine Panzerfahrzeuge und keine Luftwaffe. Zwar gab es neben der Reichswehr verschiedene Freikorps. Aber auch die machten den Mangel an schweren Waffen nicht wett. Die polnische Armee, so sah es die sowjetische Führung, war praktisch schon erledigt. Und in Deutschland, dem eigentlichen Operationsziel, stand Tuchatschewskis Westfront kaum ebenbürtigen Truppen gegenüber. Dafür gab es seit 1918 die Kommunistische Partei Deutschlands, entstanden aus dem „Spartakusbund“ und kleineren Gruppen, die sich als Bündnispartner der Sowjetunion verstanden. Von ihnen erwartete Lenin Sabotageakte und Aufstände hinter der Front – und nach dem Sieg die Errichtung einer sowjetdeutschen Regierung. Für ein sowjetisiertes Polen hielt sich schon ein Regierungschef bereit, der aus dem polnischen Kleinadel stammende Felix Edmundowitsch Dzierżyński, Gründer der Geheimpolizei Tscheka.
Obendrein konnte Lenin noch ein moralisches Moment für sich nutzen. Schließlich war die polnische Armee zunächst als Angreifer gekommen und bis Kiew vorgedrungen, in eine vorübergehend unabhängige Ukraine zwar, aber dieses Detail ließ die Moskauer Führung wohlweislich beiseite.
In einem Brief an einen Vertrauten schrieb Papst Benedikt XV. am 5. August: “Gegenwärtig steht nicht nur Polens nationale Existenz auf dem Spiel, sondern ganz Europa droht der Schrecken eines neuen Krieges.“
Der britische Gesandte Edgar D’Abernon, der in Warschau geblieben war (später sollte er Botschafter in Berlin werden) zählte die Schlacht von Warschau später zu den wichtigsten Entscheidungskämpfen der Weltgeschichte. „Wären Pilsudski und Weygand dabei gescheitert, den triumphalen Vorstoß der sowjetischen Armee auf Warschau aufzuhalten“, schrieb er später, „dann hätte nicht nur das Christentum einen gefährlichen Rückschlag erlitten, sondern die Existenz der westlichen Zivilisation wäre gefährdet gewesen.“
Großbritanniens Premier Lloyd George sah die Lage genau so wie Lenin – nur mit anderem Vorzeichen. In seinem Memorandum von Fontainebleau notierte er schon 1919:
„Die größte Gefahr der gegenwärtigen Situation ist, dass Deutschland sein Los mit dem Bolschewismus verbünden und seine Ressourcen, sein Wissen, seine riesige Organisationskraft in den Dienst revolutionärer Fanatiker stellen könnte. Diese Gefahr ist keine bloße Schimäre. Die gegenwärtige Regierung in Deutschland ist schwach; sie besitzt kein Ansehen, ihre Autorität ist herausgefordert, sie hält nur, weil es außer den Spartakisten keine Alternative gibt.“
(„The greatest danger I see in the present situation is that Germany may throw her lot with Bolshevism and place her resources, her brains, her vast organizing power at the disposal of the revolutionary fanatics… This danger is no mere chimera. The present Government in Germany is weak; it has no prestige; its authority is challenged; it lingers merely because there is no alternative but the spartacists..“)
George drängte Polens Regierung deshalb in einem ruppigen Tonfall, mit der Sowjetregierung Frieden zu schließen und dabei fast jedes Diktat Lenins und Trotzkis anzunehmen. Nur so, mit Zugeständnissen, glaubte er, ließe sich eine Invasion ins Deutsche Reich noch stoppen.
In dieser Lage also setzte Piłsudski buchstäblich alles auf eine Karte. Sein Plan war geradezu halsbrecherisch, vor allem aber strategisch höchst modern. Statt einen durchgehenden Verteidigungsring um die Hauptstadt aufzubauen und darauf seine sieben Armeen zu verteilen, wagte er es, die sowjetische Front, die sich über einen Großraum vom Südosten bis weit nordwestlich hinter Warschau hinzog, mit einer Offensive zu zersprengen. Nur eine, die 1. Armee sollte die Stadt selbst verteidigen. Im Norden, wo der sowjetische Hauptstoß ansetzte, trat die 5. polnische Armee unter General Władysław Sikorski zum Gegenangriff an – während General Józef Haller von Hallenburg mit seiner „Blauen Armee“ – polnische Truppen, die vorher an Frankreichs Seite gekämpft hatten – den Befehl hatte, unter allen Umständen den frontalen sowjetischen Angriff auf Praga zu stoppen. Die wichtigste Rolle dachte Piłsudski einer kleinen Eliteeinheit von nur 20.000 kampferfahrenen Offizieren und Soldaten zu, der „Reservearmee“. Sie sollte in eine Lücke zwischen der südlichen und der nördlichen sowjetischen Front stoßen und so die Linien des Gegners weiter aufspalten.
Wie alle großen Momente der Geschichte reichten die historischen Nachwirkungen des Wunders von Warschau weit. Im September 1920 musste Lenins Regierung dem Frieden von Riga zustimmen, der den Traum vom Sowjeteuropa auch offiziell beendete. Der Weltenbrand fiel aus, vorerst jedenfalls. Mit seinem tollkühnen Sieg begann Piłsudskis Aufstieg zum Politiker und nationalen Führer, der Polen mit einer kurzen Unterbrechung bis zu seinem Tod 1935 beherrschte. In den ersten Jahren nach 1920 versuchten seine innenpolitischen Gegner noch, ihm den Ruhm streitig zu machen, indem sie behaupteten, den Offensivplan hätte in Wirklichkeit General Weygand entworfen. Auch bei der Formel des „Wunders an der Weichsel“ handelte es sich ursprünglich um eine ironische Wendung von Gegnern des Marschalls, gemünzt auf den katastrophalen polnischen Rückzug aus der Ukraine und Weirussland. Weygand wies zurück, der Stratege von Warschau gewesen zu sein; in einem Interview mit der Zeitung L’ Information sagte er 1921: „Das ist ein reiner polnischer Sieg“.
Obwohl politisch verantwortlich für die Niederlage, schaffte es Josef Stalin, sich seines Konkurrenten Leo Trotzki zu entledigen, des Schöpfers der Roten Armee. Seine Rechnung mit Tuchatschewski beglich er 1937, als er den Marschall zusammen mit vielen anderen Generälen im Zuge der großen Säuberung erschießen ließ. Die Demütigung von 1920 wirkte bei Stalin trotzdem fort, seine Rache an der polnischen Militärelite lebte er 1940 aus, als er das Massaker an 4.400 gefangenen polnischen Offizieren bei Katyn anordnete, die nach dem sowjetischen Einmarsch in Ostpolen ab 17. September 1939 in seine Hände gefallen waren.
In Deutschland fand das Wunder von Warschau von Anfang an nur ein bescheidenes Echo. Es es fehlte der Resonanzraum. Für die KPD und ihre Anhänger waren die Polen diejenigen, die den zum Greifen nahen Sieg des Kommunismus außerhalb der Sowjetunion vereitelt hatten. Sehr viele Konservative in Deutschland wiederum registrierten zwar das Ergebnis – aber so weit, sich bei Jozef Piłsudski dafür zu bedanken, wollten sie nicht gehen. Dazu waren die Spannungen zwischen den Ländern auch zu stark, von der Aufstandsserie in Oberschlesien bis zum Streit um den Danziger Korridor.
Von Hitler führte der Weg dann bekanntlich zum Weltenbrand – mit exakt dem Ergebnis eines mitteleuropäischen Sowjetblocks 25 Jahre später.
Im Nachbarland gehört der Sieg von Warschau vor 100 Jahren zur großen nationalen Erinnerung. Zweimal hielten die Polen nach dieser Erzählung im letzten Augenblick ihr Schild vor Mitteleuropa: Einmal am 12. September 1683, als ihre Reiter am Kahlenberg vor Wien die Truppen Kara Mustafas vernichtend schlugen, als die Stadtmauern schon wankten. Und einmal, als sie ein sowjetisches Heer zertrümmerten, das seine Befehlshaber schon auf dem Weg nach Breslau und Berlin sahen. Dass Stalin, der Kommissar von 1920, der Bündnispartner Hitlers 1939 und Auftraggeber des Massakers von Katyn dann 1945 als Partner der Westmächte in Potsdam saß, während Polen genau das Schicksal erlitt, das ihm schon 1920 gedroht hatte, die Besetzung und Eingliederung in den sowjetischen Block – diese Geschichtsvolte halten viele Polen bis heute für unverjährbaren Verrat.
Wer diese Perspektive kennt, der versteht die allergischen Reaktionen besser, die Belehrungen aus Brüssel und anderen westlichen Hauptstädten dort auslösen. Und auch, warum etliche Polen keine Lust verspüren, nationale Souveränität an eine Organisation namens EU zu übertragen.
Was Deutschland betrifft: Es wird interessant sein zu zählen, wie viele deutsche Politiker an diesen 13. August vor 100 Jahren erinnern, an dem vor Warschau der Weltbrand verhindert wurde.