Tichys Einblick
Nach Sommer des Missvergnügens heißer Herbst?

Corona-Demonstrationen: Wer, wie viele und was danach?

Nachhall zu der Corondemonstration in Berlin: Teilnehmerzahlen werden bezweifelt, Teilnehmer beschimpft - beides Ausdruck einer tiefen Vertrauenskrise. Auf den Sommer des Missvergnügens könnte ein heißer Herbst folgen.

Wer waren sie und wieviele, die in Berlin am vergangenen Samstag gegen die Hygienemaßnahmen und Verfassungseinschränkungen demonstriert haben? 17.000 Teilnehmer meldet die Polizei. Die Veranstalter reden von bis zu einer Million und vergleichen den Aufmarsch mit den Rekordzahlen der Love Parade. Falsche Fotos geistern durch das Netz. Journalisten unterschiedlicher Blätter verdoppeln die Zahlen der Polizei, aber bleiben weit unter sechststelligen.

Nun sind Teilnehmerzahlen von Demonstrationen immer so eine Sache; die Veranstalter liegen mit ihren Angaben immer über denen der Polizei, die meist deeskalierend wirken will. Wer zählt die zufälligen Mitläufer, trennt die Zaungäste von den Überzeugten, erfasst die Seitenstraßen? Da die Berliner Demo im Netz übertragen wurde, gibt es virtuelle Teilnehmer; ein Novum in der politischen Manifestation.

Kampf um die Deutungshoheit

Der Kampf um die Zahlen ist ein Kampf um die Deutungshoheit. In den Medien fand fast flächendeckend eine Vorab-Abwertung statt. Der Spiegel entdeckte, dass ein Nazifilm von Leni Riefenstahl den Titel „Tag der Freiheit“ trug. Das Urteil war gesprochen – wobei „Tag der Freiheit“ auch gern für den 8. Mai, den Tag der Kapitulation der Wehrmacht und andere Freiheitsgedenken benutzt wird; „generisch“ nennt man solche unbestimmte Begriffe, austauschbar. Es ist ein zu allgemeiner, austauschbarer Titel, als dass man daraus mehr machen könnte als eine billige Polemik. Vor allem für SPD-Politiker wie Hubertus Heil und Saskia Esken reichte dies: „Neo-Nazis“ seien am Werk.

Für eine Veranstaltung, in der deutlich mehr Regenbogenfahnen der esoterischen Diversitätsapostel wehten als Reichskriegsflaggen, ist Heils vernichtendes Urteil eher eines über Hubertus Heil und nicht über die Teilnehmer. Und die Glaubwürdigkeit der Medien hat erneut erheblich gelitten – zu vorschnell die Verurteilung von Bürgern, die ihr Grundrecht auf Demonstration wahrnehmen, auch wenn man hinsichtlich der Ziele selbstverständlich und mit guten Gründen anderer Meinung sein kann.

Der Schrecken verblasst – Bürger als Kinder

Mit Abstand gibt es allerdings ein paar Erkenntnisse über den Zustand der Republik: Die Zahl derer wächst, die die Einschränkung von Freiheit und Wirtschaft für schlimmer erachten als die Pandemie. Das ist nicht überraschend, denn schließlich verblassen die Schreckensbilder der Armeelastwagen, die in Bergamo Särge abtransportierten. Die Bereitwilligkeit, einen Lockdown hinzunehmen, ist jedenfalls weitgehend verschwunden. Es erinnert an den Umgang mit Aids: Auf die Dystopien, die den Untergang der Welt erwarteten, folgte ein zunehmend lässiger Umgang, auch weil Behandlungsmethoden den Schrecken reduzieren.

Die Politik gefällt sich trotzdem in Machtworten. Die tägliche Warnung vor der zweiten Welle und die Drohung mit einem zweiten Lockdown gehören zum Standardrepertoire; Bayerns Ministerpräsident Markus Söder baut auf das starke-Kerls-Gehabe seine Kanzlerkandidatur. Da ist es wieder – Bayern als Ordnungszelle, wo die Polizei noch gnadenlos Jagd auf Unmaskierte macht.

Die Bürger werden derzeit behandelt wie Kinder, denen man mit Ausgehverbot oder Nachtisch-Verweigerung drohen kann: Immer wird mit dem nächsten Lockdown gedroht. Die Bürger als ungehorsame Kinder, der Staat als Übervater; das ist die deutsche Krankheit der Unmündigkeit. Denn wahr ist doch: Politiker können den Lockdown schon aushalten; Mundschutz ist für sie keine Pflicht, wie gerade der Bundespräsident in Südtirol oder Söder und Merkel gemeinsam mit ihren Kabinetten jüngst im Spiegelsaal von Schloss Herrenchiemsee demonstrierten. Für sie gilt Maskenpflicht nicht; maskenfrei ist das neue Erkennungszeichen derer, die über dem Recht stehen. Oder hinterfotziger auf altbairisch, was dem Franken Söder allerdings fremd ist: Wer ko, der ko. ER kann eben.

Aber damit werden die Hygiene-Regeln unterminiert, die ohnehin nur Demonstrationen gelten, die nicht dem rotgrünen Lebensgefühl der heutigen Politikergeneration entsprechen. Recht, das erkennbar unterschiedlich angewandt wird, löst sich auf wie ein Stück Würfelzucker in der Spree. Da hilft auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier beim Verdünnen mit, der so tut, als ob spätestens im 3. Quartal die Wirtschaft wieder auf Normalniveau laufe. Wenn es so ist, warum dann die Aufregung über die Berliner Demonstranten?

Keine Konzepte der Politik

Erkennbar ist: Die Politik ist jetzt so ratlos wie am Anfang der Pandemie. Rückblickend mag zu Jahresbeginn das damalige Wettern gegen Maskenpflicht und die Verharmlosung als bloße Grippe noch verzeihlich erscheinen. Aber heute sollte man klüger sein und Planlosigkeit ist nicht mehr Künstlerpech. Denn klar ist: Noch einen Lockdown halten weder Menschen noch Wirtschaft aus.

Auch darin zeigt sich die welt- und wirtschaftsferne Einstellung, die nicht nur Robert Habeck vorführt, wenn er die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit dem Finanzamt verwechselt: Das Geld kommt nicht von irgendwoher, sondern von Bürgern, die dafür arbeiten müssen. Das monatliche Gehalt auch von Politikern stammt nicht daher, dass Saskia Esken ihr Geld in der Boutique ausgibt und damit die Wirtschaft ankurbelt, wie sie meint. Es wurde vorher jemandem weggenommen. Den Vorgang nennt man „Besteuern“. Das muss man so Klein-Klein erkären, weil es irgendwie in Vergessenheit geriet. Noch einen Lockdown hält auch dieser Staat nicht aus; so viel Geld kann die Europäische Zentralbank gar nicht drucken. Wenn wir nicht arbeiten gehen, hat Söder schnell nichts mehr zu melden.

Kein Lockdown ist einfach alternativlos, um die sonst so beliebte Formel zu benutzen. Und weil es so ist, bräuchte man Pläne und Vorbereitungen für den gezielten Umgang mit aufbrechenden Ansteckungen. Wie kann man den Laden insgesamt am Laufen halten, die Einschränkungen begrenzen und auf ein notwendiges Minimum reduzieren? Das fällt sicher schwer, wenn man wie die politische Klasse persönlich davon gar nicht betroffen ist.

Und es gilt nicht für die Polizei und andere Bereiche mit Bürgerkontakt, aber durchaus auch für jene Teile der Verwaltung, die jetzt einen guten Grund gefunden haben, um sich endgültig vom Bürger abzuschotten und die ihn in oft rotziger Art wie eine selbstmörderische Biowaffe behandeln.

Stellt endlich eure bürokratischen Abläufe zur Disposition, statt die Bürger in Warteschlangen abzuschieben! Wie lautet denn das Vorgehen für einen begrenzen Ausbruch?

Es gäbe also genug zu tun im Sommer 2020.

Aber weil das alles nicht geschieht, wird er zu einem Sommer des Missvergnügens; möglicherweise vor einem Herbst, der dann erst richtig heiß wird.

Denn merke: Die Bürger wollen ihr Leben wiederhaben. Und die, die ihre Leben wiederhaben wollen, werden täglich mehr. Dann stimmen irgendwann die überhöhten Phantasiezahlen vom Samstag doch.

Und glaubt nicht, dass ihr das mit Demonstrationsverboten unterdrücken könnt.

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