Seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts erleben wir den tiefgreifendsten Umbruch in der Geschichte der Menschheit: Die digitale Revolution wird alle unsere Lebensbereiche auf kaum vorstellbare Weise verändern. Schon die industrielle Revolution hatte die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen im Laufe des 19. Jahrhunderts radikal umgestaltet. Technische Erfindungen wie die Dampfmaschine ermöglichten den Übergang von der Argar- zur Industriegesellschaft, zu einem unverhältnismäßigen Anwachsen der Städte und zu einer tiefen Kluft zwischen der dort zusammenströmenden ausgebeuteten Arbeiterschaft in den Fabriken und den Vertretern des Kapitalismus; eine Zeit, die Charles Dickens in seinen Romanen schildert.
Der FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher war es, der sich – bis zu seinem viel zu frühen Tod vor zwei Jahren – mit Nutzen und Gefahren des gerade angebrochenen neuen digitalen Zeitalters intensiv beschäftigt hat. 2009 erschien sein Buch „Payback: Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen.“ – „Mein Kopf kommt nicht mehr mit“ ist das erste Kapitel überschrieben, in dem Schirrmacher beschreibt, was die Überflutung mit Datenmengen und das Multitasking mit ihm machen. Er beobachtet, wie wir heute in jeder Stunde, an jedem Tag der Woche permanent in Erwartung sind, dass etwas auf unseren vernetzten Geräten passiert. Wie wir telefonieren und gleichzeitig texten oder E-Mails abrufen. Wie das manchmal in einem alarmierenden Erschöpfungszustand endet und er sich fragt, ob wir unsere Geräte auf Dauer noch beherrschen können oder ob sie uns beherrschen werden.
Neben Lob erntete Schirrmacher für sein Buch auch viel Kritik in den Medien, die in ihm einen „Konservativen“ sahen, der im Heraufkommen einer neuen Ära den gleichzeitigen Untergang der „guten alten Zeit“ gekommen sieht. – Ist das ein Zeichen dafür, dass die „digital natives“ gar keine Möglichkeit mehr haben, sich eine Zeit vorzustellen, die wir „digital immigrants“ noch erlebt haben? Weil sie den Vergleich nicht haben und somit gar nicht mehr verstehen können, wovon Schirrmacher spricht, wenn er sich für einen bewussteren und kontrollierteren Umgang mit den neuen Technologien ausspricht? Ist die Kluft schon so tief geworden, dass es keine gemeinsame Gesprächsebene mehr gibt? Es scheint so.
Die Enthüllungen des Edward Snowden
Es geht ja doch um Datensicherheit und Schutz der Privatsphäre. Oder steht die Debatte, wie viel Kontrolle nötig ist, gar nicht mehr im Raum? Die Debatte, ob wir die Gefahren noch wahrnehmen wollen oder uns ihnen wehrlos aussetzen. Kurz nachdem Frank Schirrmacher 2013 ein weiteres Buch mit dem Titel „Ego“ über diesen Komplex veröffentlicht hatte, enthüllte Edward Snowden Daten und Geheimdokumente der NSA, die Einblick in deren weltweite Überwachung aller Internetkommunikationen gab und das Bewusstsein im Umgang mit dem Netz zu verändern schien. Snowden brachte die Wirklichkeit unabweisbar ans Licht. Er hat gezeigt, wozu diese Technologien fähig sind. Man musste zugeben: das „Verschwörungsgeschwurbel“, wie es in einem Leserkommentar hieß, ist Realität. Unser Trost: Die Kanzlerin ließ uns wissen, dass Abhören unter Freunden gar nicht gehe. Ihr Pressesprecher Seibert forderte eine vollständige Aufklärung „und gegebenenfalls eine einstimmige und auch eine sehr deutliche europäische Reaktion“. Das „Befremden“ Deutschlands sei dem Weißen Haus übermittelt worden. – „Word, words, words“, frei nach Hamlet. „Nullsprech“ nennt es Schirrmacher.
Drei Jahre ist das nun her. NSA und der britische Geheimdienst GCHQ spionieren bekanntermaßen weiterhin auch Unternehmen und Politiker aus. Der BND ist involviert. Geheimdienstchef Hans-Georg Maaßen geht bei seinem Auftritt vor dem NSA-Untersuchungsausschuss am 9.6. dieses Jahres in die Offensive. Seine Befragung sei Verschwendung von Ressourcen, die an anderer Stelle dringend benötigt würden (atürlich für die Terrorabwehr). Der Untersuchungsausschuss gefährde damit die Arbeit seiner Behörde. Während der siebenstündigen Vernehmung unterstellte er Edward Snowden, russischer Agent zu sein. Ein Verfassungsschutz-Präsident, der abenteuerliche Vermutungen äußert, die er nicht beweisen kann! Na, geht’s noch? Snowden hatte die Zusammenarbeit des BND mit dem NSA als „eng“ bezeichnet. Beide arbeiteten gegen gemeinsame Zielpersonen, und darin läge eine große Gefahr. Sind wir schon ausgeliefert? Wollen wir in einer totalen Überwachungsgesellschaft leben, die sich jeder Kontrolle entzieht? Wer bestimmt die Regeln? Ist Regulierung überhaupt noch möglich?
Alles nicht so schlimm? Ich habe ja nichts zu verbergen, war bis vor kurzem noch gängige Meinung. Doch, wir haben ein Privatleben, das es zu schützen gilt, sagt Snowden hierzu: When you say I don’t care about the right to privacy because I have nothing to hide, that is no different than saying I don’t care about freedom of speech because I have nothing to say or freedom of the press because I have nothing to write.” Das Recht auf Privatsphäre ist gleichzusetzen mit dem Recht auf Meinungsfreiheit. Die Folgen, das preiszugeben, können wir uns vielleicht (noch) gar nicht vorstellen.
Die durchgängig stattfindende Ausleuchtung des Menschen wird immer effektiver und undurchsichtiger gestaltet. Unser „digitaler Zwilling“ im Netz steht zur Verwertung zur Verfügung: Seine Werbung ist personalisiert. Er bekommt vielleicht einen bestimmten Kredit nicht mehr. Ohne vorherige Recherche in den Netzwerken wird niemand mehr eingestellt. Er findet keine Arbeit oder seine Karriere geht nicht voran. Er kommt in ein bestimmtes Land nicht mehr hinein. Man berechnet seinen Gesundheitszustand und was er der Firma er in zehn Jahren noch wert ist. Man weiß in jeder Sekunde, wohin er sich bewegt und mit wem er kommuniziert; man hat eine Landkarte sämtlicher sozialen Beziehungen einer Gesellschaft. Eine völlig neue Form der Überwachung. Fakten werden mit bloßen Annahmen vermischt. Nur das Dokumentierte zählt. Unsere Geschichte wird ohne Intuition und Zwischentöne des Menschlichen erzählt. Ohne Geheimnisse. Unser Verhalten erfährt eine uns kaum bewusste Veränderung, wenn wir nur noch auf unsere finanzielle Verwertbarkeit überprüft werden.
Dokumentation von Claus Kleber
Das ist der Hintergrund, vor dem Claus Kleber über die Entwicklungen im Silicon Valley berichtet, wo weiterhin mit sich steigernder Effektivität mit unseren freiwillig zur Verfügung gestellten Daten an einer „schönen neuen Welt“ gearbeitet wird. Kleber ist tief beeindruckt, mit welchem ungeheuren Elan dort am „Bau unserer Zukunft“ gearbeitet wird: in der Medizin, im Bildungswesen, in der Hirnforschung, an der Art, wie wir kommunizieren, wie wir Entscheidungen treffen und beeinflussen können. Er interviewt die Vordenker und denkt darüber nach, welche Folgen die Entwicklungen für unser Leben haben könnten: Genmanipulationen und künstliche Intelligenz. Eine Kontaktlinse, die den Blutzucker misst, ein Minicomputer, den man schluckt, um eine bessere Diagnostik zu ermöglichen. Manches furchteinflößend für uns Europäer, aber dennoch inspirierend, findet Kleber. In dieser Welt sei die Diskussion um die Präsidentschaft von Donald Trump nur noch ein Störgeräusch, sagt er. Man arbeite jenseits der Politik. 2008 sei er schon einmal dort gewesen. Seitdem habe sich alles noch rasanter verändert, sei viel breiter aufgestellt. Die Produktion von Handys, Computern, von sozialen Netzwerken sei nur der Grundstock. „Think Big!“ ist das Motto auf dem Trip in eine Welt, die sich unserer Daten bedient, die wir uns aber nicht mehr vorstellen können. Ein „brillianter Kopf“ kann an einer Idee, mit „Startups“ – wie z.B. das selbstfahrende Auto – über Nacht Milliarden verdienen.
Der Mensch als Verfügungsmasse, die gestaltet werden soll. Die Welt enträtseln, und was nicht gefällt umbauen. Dem Menschen beim Denken zugucken können, in das denkende Gehirn schauen. Unser Gehirn an die Zukunft anpassen, das Gedächtnis optimieren. Der Mensch muss in Zukunft mehr Stress aushalten können, die Leistungsfähigkeit steigern, um überhaupt noch mit der technischen Entwicklung Schritt halten zu können. Menschen und Rechner werden ununterscheidbar. Maschinen machen sich selbstständig. Es braucht einen Notknopf, falls Roboter uns überrunden sollten. („Der Zauberlehrling“ von Goethe fällt dabei ein; der Zauberer jetzt Notknopf).
Kleber: „Es ist absolut faszinierend – mit schillernden Farben von: ‚Hoffentlich schafft ihr das’ bis zu ‚Gott, was macht ihr da’. Aber es wird in jedem Fall unsere Zukunft mitbestimmen, deswegen müssen wir uns dieser ‚schönen neuen Welt’ stellen.“ Staatliche Forschungseinrichtungen, die früher die Projekte finanziert haben, werden durch Institutionen ersetzt, wo Geld keine Rolle mehr spielt. Von der Universität Stanford hat man sich distanziert. So ganz ohne Kontrolle durch „altmodische“ Institutionen wie Parlamente und ohne Rücksicht auf die Folgen für Arbeitsplätze – und was auch immer – fühlt man sich am wohlsten. Die Regierung reagiert zu langsam, um zu bremsen können, freuen sich die Freaks.
Was ist zu tun? Was wird getan?
All diese Entwicklungen werden uns in unseren Breiten – die wir weit weg sind von Silicon Valley – in ihrem Ausmaß mehr oder weniger vorenthalten. Aus einer Einladung von Snowden zur Aussage vor dem NSA-Untersuchungsausschuss wurde auch nichts. Glenn Greenwald, der die Snowden-Papiere im Guardian veröffentlicht hatte, sollte stattdessen per Videoschaltung aussagen. Doch der wollte nicht. „Mit dem Gehampel um eine Befragung Snowdens hätten die deutschen Politiker gezeigt, dass es ihnen wichtiger sei, die USA nicht zu verärgern, als wirklich etwas aufzuklären“, teilte er mit. Auch die Kleber-Doku läuft erst um die Mitternachtsstunde, steht allerdings im Netz zur Verfügung. Immer wieder wird uns eingebläut, dass der exzessive Einsatz digitaler Technologien die Bürger vor dem Terrorismus schützen soll. Alles andere wird ausgeblendet.
Kleber in seinem Film:“Die gefälligen kleinen Geräte haben sich so geräuschlos in unser Leben geschlichen, dass sie ihre wahre Macht über uns verbergen.“ Aber die virtuelle Wirklichkeit wird uns zwangsläufig verändern. Ein weiterer Schritt in der Evolution, wie behauptet wird? In Silicon Valley forscht man so ziemlich ins Blaue hinein, zur eigenen Machtsteigerung und mit schier unbegrenzten finanziellen Mitteln. Als Motivation wird angegeben, dass man die Welt besser machen will, was auch immer das bedeuten mag. Dazu Sebastin Thrun, einst Professor für Künstliche Intelligenz an der Stanford University und Vizepräsident von Google Wikipedia: „Wer sagt denn, dass wir nicht das fliegende Auto erfinden; wer sagt denn, dass wir nicht doppelt so groß sein können, doppelt so lange leben können. Wer sagt denn, dass wir keinen IQ von 10.000 haben können. Wer sagt denn, dass wir nicht Gedanken teilen können.“ Meine Frage: Wer fragt denn, ob wir das wollen.
Die Welt besser machen, ist ein verdammt gutes Geschäft, das fadenscheinig idealisiert wird. Ein Beispiel: Airbnb, eine App, die Zimmer vermittelt und hohe Provisionen einstreicht, baut laut Unternehmer Nathan Blechnarczyr das Vorurteil ab, dass man Fremden nicht trauen könne, indem sie zeigt, dass 80 Millionen Menschen schöne Erfahrungen im Zuhause von anderen machen können. Damit werde auch die Reiseindustrie demokratisiert, weil Vermieter Gäste aus aller Welt gewinnen und dadurch ein „bescheidenes Einkommen“ erzielen könnten.
Hat seit Snowden ein Bewusstseinswandel stattgefunden? Hat sich das Bewusstsein im Umgang mit dem Netz geändert? Hat Frau Merkel auf den Tisch gehauen? Hat sie eine politische Lösung für Deutschland, für Europa parat? Müssen wir das jetzt alles fatalistisch hinnehmen? Es wird Kritik geübt, es werden Vorschläge gemacht und Warnungen ausgesprochen. Was kann der Bürger tun, der als Steuerzahler letztendlich die Zeche für all das, was heute schief geht, zahlen muss?
Oder empfinden wir den Missbrauch unserer Daten schon ahnungslos als den gängigen Preis, den wir für die Dienste des Internets zahlen müssen, die uns scheinbar kostenlos zur Verfügung stehen und das Leben zweifellos erheblich erleichtern? Frank Schirrmacher zitiert Heiner Müller, der es kurz vor der Wende wie folgt formulierte: “Es gibt einen Grad von Unterdrückung, der als Freiheit empfunden wird.“
Ingrid Ansari war Dozentin am Goethe-Institut.