Die Bewegung „Say Their Names“ – sagt ihre Namen – gibt es schon länger. Worum es ihr geht, zeigt sich nirgendwo konzentrierter als in einer Zeichnung von Kadir Nelson, die der New Yorker am 22. Juni 2020 auf seinen Titel setzte: Ein übergroßer George Floyd schließt im Stil einer Schutzmantelfigur dutzende andere dunkelhäutige Amerikaner ein, die Opfer von Polizeigewalt wurden.
Wer seinen Namen anruft, so die Botschaft, der nennt auch alle anderen. „Sagt ihre Namen“ gehört auch zu den festen Formeln der Identitätspolitik in Deutschland.
An die Namen sollen sich Botschaften heften, und zwar so, dass es irgendwann ausreicht, ihn auszusprechen, um damit sehr viel mehr zu sagen. Dieses Verdichtungsprinzip findet sich in fast allen Religionen.
Wer sich mit Religionen beschäftigt, weiß allerdings auch, wie viel von der sorgfältigen Auswahl der Angerufenen abhängt, von der Auswahl überhaupt.
Den Namen Bernell Trammell beispielsweise findet kein durchschnittlicher Mediennutzer so leicht. Tramell, 60, gehörte in seinem Viertel Riverwest in Milwaukee zu den bekannten und etwas exotischen öffentlichen Figuren. Der schwarze Mann mit den Rastalocken stand dort häufig mit einem Plakat auf dem Gehweg, auf dem er zur Wahl von Donald Trump aufrief.
Am Donnerstag vergangener Woche gab er dort, wo er sich üblicherweise mit seinem Schild postierte, ein Videointerview über seine Gründe, für Trump zu werben. Wenige Stunden später erschoss ihn ein Unbekannter ganz in der Nähe.
Äußerungen von Black-Lives-Matter-Aktivisten und Proteste blieben aus. Es gibt zwar einen Video-Fahndungsaufruf der Polizei von Milwaukee im Fall Trammell. Der republikanische Senator von Wisconsin Ron Johnson kondolierte per Twitter und schrieb, er hoffe auf eine schnelle Aufklärung der Tat.
Die meisten großen US-Medien – CNN, Washington Post – nahmen keine Notiz von dem gewaltsamen Tod des Aktivisten. Es berichteten einige kleinere, und auch die britische Sun. In den deutschen Medien findet sich sein Name bisher überhaupt nicht. Natürlich kann es sein, dass er aus Gründen erschossen wurde, die mit seinen politischen Ansichten nichts zu tun hatten. Aber über die Wahrscheinlichkeit des Namensagens und Nichtsagens muss niemand lange spekulieren. Er gehört zu der Liste unter der Rubrik: Sucht ihre Namen.
Hätten Trammells öffentliche Aufritte ein anderes Vorzeichen besessen, etwa das von Black Lives Matter, dann wäre seine Ermordung vermutlich auch ohne abgeschlossene Ermittlungen medial anders registriert und kommentiert worden.
Von Beginn der Black Lives Matter-Demonstrationen und Ausschreitungen bis Anfang Juli forderten Übergriffe und Plünderungen 29 Tote, davon 14 Schwarze und drei Latinos. Es starb beispielsweise der 77-jährige Ex-Polizist David Dorn, der am 2. Juni in St. Louis mehreren jungen Männern gegenüberstand, die in der Mischzone von BLM-Demonstration und Vandalismus einen Pfandleiher-Laden für Juwelen plünderten.
Einer von ihnen, Stephan Cannon, 22, erschoss nach bisherigen Polizeierkenntnissen Dorn. Bei Cannon und seinen Mittätern handelte es sich ebenfalls um Schwarze. Über Dorns Tod wurde in den USA natürlich berichtet, sein Name allerdings von den Protestlern nicht in die sorgsam selektierte Liste der Namen aufgenommen, die öffentlich gesagt werden sollen. Anders als der Name von James Scurlock, der am 30. Mai in Omaha erschossen wurde. Scurlock hatte zu einer Gruppe von jungen Männern gehört, die versucht hatten, in Geschäfte einzudringen. Der Barbesitzer Jacob Gardner erschoss Scurlock, als der ihn von hinten attackierte und ihn in einen Würgegriff nahm. Da eine Videoaufnahme zeigte, dass Gardner in Selbstverteidigung schoss, stellte die Staatsanwaltschaft nach kurzer Untersuchung die Ermittlungen ein.
Trotzdem forderten BLM-Demonstranten kurz darauf ’Justice for James’ – denn Scurlock, der schon früher wegen Raub und anderer Delikte einsaß, war schwarz, Gardner ist weiß. Der Todesfall passt, anders als der von Dorn, in das von den Aktivisten bevorzugte Muster.
Die meisten deutschen Medien sortieren Namen, Todesfälle und Ereignisse noch wesentlich sorgfältiger als die tonangebenden Sender und Blätter in den USA. Dort debattieren Journalisten nach dem Abschied der Redakteurin Bari Weiss von der New York Times immerhin darüber, ob die Aufgabe der Medien überhaupt in der Abbildung besteht – oder vielmehr, wie Weiss meinte, in der Verbreitung unumstößlicher Überzeugungen durch einen Zirkel von Erleuchteten.
Das Privileg der Entfernung vom Schauplatz USA macht es leichter, Details zugunsten der Eindeutigkeit wegzulassen. Die hohe Zahl der Toten, der Verletzten, der geplünderten und niederbrannten Gebäude kommt hierzulande ohnehin nicht mit genauen Zahlen und nur am Rand vor. Anderenfalls ließe sich die Standardformulierung von den ’überwiegend friedlichen Protesten’ auch kaum aufrechterhalten. Relativ wenige deutsche Medien berichteten über die Tötung des Ex-Polizisten David Dorn, etwa n-tv, teilte aber nichts zu den Tätern mit: „Verdächtige konnten bislang noch nicht ermittelt werden.“
Da eine Überwachungskamera die Plünderer gefilmt hatte, stand praktisch umgehend fest, um welche Art Verdächtige es sich handelte. Nachdem der mutmaßliche Schütze Cannon gefasst wurde, wäre es für n-tv ein Leichtes gewesen, den Text auf der Webseite zu aktualisieren.
Im Fall des getöteten James Scurlock gab es dagegen eine Beschreibung des Schützen unter ausdrücklicher Nennung der Hautfarbe. Das Jugendmagazin Noizz, eine Gründung des Springer-Verlags, das Plattformen wie bento und ze.TT ähnelt, titelte:
„Weißer Kneipenbesitzer tötet schwarzen Demonstranten in US-Protesten – und kommt ohne Strafe davon“
Aus einem jungen Mann in einer Gruppe, die versucht hatte, gewaltsam in eine Bar einzudringen, wird also ein „Demonstrant“, aus einem Plünderungszug „Proteste“. Die Wendung „kommt ohne Strafe davon“ suggeriert, es hätte einen Prozess gegeben – denn nur dann kann jemand ohne Strafe davonkommen, während bei Einstellung der Ermittlungen mangels Schuld ja gerade keine mögliche Strafe im Raum steht. Noizz zitiert dazu noch ausführlich einen Politiker, der behauptet, der Barbesitzer habe gar nicht in Notwehr gehandelt, die Entscheidung der Staatsanwaltschaft sei falsch. Das erhebliche Vorstrafenregister von Scurlock lässt Noizz weg – anderenfalls bekäme das Bild des von einem Weißen erschossenen Demonstranten erhebliche Risse.
In ihrer Berichterstattung über die Gewalt in den USA verlassen sich manche deutsche Blätter darauf, dass die Reflexe ihrer Leser schon in die passende Richtung gehen und ergänzen, was in ihren Texten vage und auffällig lückenhaft bleibt. Etwa in dem Stück, das der Spiegel über tödliche Schüsse in einer BLM-Demonstration in Louisville, Kentucky berichtet, die am 27. Juni fielen. Der Fotograf Tyler Gerth starb an seinen Schussverletzungen. Spiegel schrieb lediglich über einen Mann – der habe „bei einer Anti-Rassismus-Demonstration im US-Bundesstaat Kentucky Schüsse auf die Menge abgegeben, ein Mann starb. Der Tatort war in den vergangenen Wochen zum Zentrum der Proteste geworden“.
Und weiter: „Das ‚Louisville Courier Journal’ berichte, ‚dass bewaffnete Patrioten-Gruppen vorhätten, den Anti-Rassismus-Demonstranten entgegenzutreten’.“
Zahlreiche Kommentatoren unter dem Artikel erregten sich prompt über Rassisten, die auf friedliche Demonstranten feuerten. Sie hätten ihre Beiträge im Leserforum vermutlich anders verfasst, wenn der Spiegel nicht etwas suggeriert, sondern einfach über den von der Polizei sehr schnell verhafteten Täter berichtet hätte: Stephen Nelson Lopez, 23, ein braunhäutiger Mann mit Rastalocken, der selbst zu der Menge in der „Anti-Rassismus-Demonstration“ gehörte.
Ein anderer Name, der in einigen US-Medien immerhin vereinzelt erwähnt wurde, aber praktisch in keiner deutschen Publikation, lautet Jessica Doty-Whitaker. Die 24-jährige Krankenpflegerin geriet am 5. Juni in Indianapolis in einen Wortwechsel mit Black Lives Matter-Aktivisten. Nach Aussage ihres Verlobten Jose Ramirez antwortete sie auf den BLM-Ruf: „All lives matter.“
In dem Streit zog einer der Aktivisten eine Waffe, Ramirez auch, und beide standen einander für einen Augenblick gegenüber. Als Doty-Whitaker und Ramirez glaubten, die Gefahr sei vorüber, und den Schauplatz verlassen wollten, erschoss ein bis jetzt Unbekannter die junge Frau. Etliche Twitter-User aus dem Umfeld von BLM kommentierten den Tod der jungen Frau hämisch: „Wieder ein Rassist weniger“ („Good riddance to another racist“).
Die Entfernung der deutschen Medien vom eigentlichen Schauplatz macht sich mitunter auch in der Fotoauswahl bemerkbar. Der Tagesspiegel illustrierte einen Text über Polizeigewalt gegen Schwarze mit dem Foto einer Frau, die gerade von der Polizei abgeführt wird und dagegen protestiert.
Hätte die Redaktion gewusst, wen es zeigt, wäre der Beitrag vermutlich anders bebildert worden. Bei der Frau handelt es sich um eine schwarze Aktivistin von einer in Deutschland praktisch unbekannten Sorte: Bevelyn Beatty, eine schwarze Kritikerin der Black Lives Matter-Bewegung. Sie fordert “refund the police“, also:
Gebt der Polizei mehr Geld.
In New York genießt sie eine gewisse Bekanntheit dafür, dass sie die Straßenmalereien der BLM-Aktivisten immer wieder übermalt – und dafür in Kauf nimmt, von Polizeibeamten abgeführt zu werden, die diese Gemälde nach dem Willen der Politik schützen sollen.
Es gibt mehr Dinge zwischen Ost- und Westküste der USA, als sich die deutsche Journalistenschülerweisheit träumen lässt: Schwarze Trump-Anhänger und farbige BLM-Gegner, Leute, die Demonstrationen, die sich angeblich gegen Gewalt richten, für Gewalt und Plünderungen nutzen, Black Lifes Matter-Aktivisten, für die weder schwarze noch weiße Leben zählen, wenn es die falschen waren und die Täter nicht in ihr Muster passen. Es gibt schwarze Rassisten.
So, wie es weiße Rassisten gibt, gewalttätige Polizisten und selektive Journalisten. Wer das Land mit seinen 328 Millionen Einwohnern und sehr unterschiedlichen Regionen ein wenig kennt, den überrascht das nicht. Weil zu allem auch der Gegenentwurf existiert, steht es unter einer Art Dauerspannung, die sich immer wieder in heftigen Beben entlädt. Aber wegen dieser Spannung marschierte das Land bisher auch nie uniform in eine Richtung, anders als andere Staaten und besonders der Staat, in dem sich besonders viele Journalisten zu virtuellen Strafexpeditionen gegen Amerika melden.
Unter den Bedingungen des alten Journalismus galt es als interessant, nicht nur über das Allgemeine zu berichten – beispielsweise, dass Schwarze überdurchschnittlich stark Demokraten wählen – sondern auch über das Spezielle, etwa einen schwarzen Trump-Anhänger. Genau das macht die Berichterstattung normalerweise interessant. Es gehörte früher auch zur Praxis, über Gewalt in innenpolitischen Auseinandersetzungen zu berichten, und dabei nicht zu sortieren, welche tödlichen Schüsse in ein bestimmtes Bild passen und welche nicht, welche Namen sich zur symbolischen Nennung eignen, und welche am besten gar nicht auftauchen sollten.
An der Berichterstattung seit George Floyds Tod zeigt sich besonders gut, dass viele Journalisten – in den USA, aber erst Recht und mit voller Überzeugung in Deutschland – es für ihre Aufgabe halten, ein penibel kuratiertes Gegenbild zur Realität zu entwerfen. Das beginnt bei der Namensnennung und reicht bis zur Auswahl der Bilder von den gewalttätigen Ausschreitungen in Portland und anderswo.
Im ZDF-Morgenmagazin hörte sich das am 28. Juli so an:
Amerikanische Präsidenten hätten immer wieder Kriege angezettelt, „um wiedergewählt zu werden“, so der Moderator. „Der US-Präsident scheint Gefallen an so einem Drehbuch zu haben – nur dass er den Krieg im eigenen Land führt .“ Und zwar gegen Demonstranten in Portland, die „nicht immer, aber meist friedlich protestieren“. Ein Sprecher der eingesetzten Bundestruppen kommt in dem Beitrag nicht zu Wort, nur eine Vertreterin von „Müttern“, die, wie die Korrespondentin berichtet, die „Aktivisten unterstützen“. Wobei eigentlich? Dass die nicht immer friedlichen Anti-Gewalt-Aktivisten einen Brandsatz in das Gerichtsgebäude von Portland geworfen hatten, wurde in dem ZDF-Stück nicht erwähnt.
Stattdessen redet die Reporterin von „Provokation nach beiden Seiten“ an der „Frontline entlang des Zorns“, und berichtet über die Wut der Demonstranten über die Anwesenheit der Bundestruppen. „Um wiedergewählt zu werden“ – allein das scheint für das ZDF schon ein unfassbar niederes Motiv zu sein – „inszeniert er sich als Vertreter der braven Bürger“ und „führt einen Kampf gegen Demonstranten in den von Demokraten regierten Städten der USA“. Warum überwiegend friedliche Demonstranten in einer von Demokraten regierten Stadt versuchen, ein Gerichtsgebäude niederzubrennen, erklärt das ZDF-Morgenmagazin seinen Zuschauern nicht.
Der Spiegel schafft es, das Bild noch von den letzten Spuren irgendeiner Ambivalenz zu reinigen. Selbst die Andeutung von nicht immer ganz friedlichen Demonstranten kommt hier nicht mehr vor:
„Die Demonstrationen begannen Ende Mai nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd als Protest gegen Rassismus und Polizeigewalt. Trump hat diese Demonstrationen für seine Zwecke okkupiert, facht den Ärger der Menschen an. Der Mann ist Amerikas größter Spalter seit Jefferson Davis, dem einstigen Präsidenten der abtrünnigen Südstaaten. Nur noch knapp 100 Tage hat Trump bis zur Wahl im November, um von seinem gescheiterten Corona-Krisenmanagement abzulenken. Auch nach Chicago und Baltimore will er Bundestruppen entsenden. Überall legt er Feuer. Setzt er auf den Flächenbrand?“
Also: auch wenn ein Straßenmob Feuer legt und gelegentlich schießt – eigentlich zündelt der Präsident. Interessant fällt hier, das ganz nebenbei, der Kontrast zu der außerordentlich untertourigen Berichterstattung der gleichen Medien über die Polizeieinsätze Macrons gegen die Gelbwesten-Demonstrationen auf.
Im Jahr 2017 schickte der Spiegel seinen Reporter Claas Relotius in die Kleinstadt Fergus Falls in Minnesota, um über Trump-Anhänger im amerikanischen Hinterland zu berichten. Das tat der preisgekrönte Journalist auch, seine Geschichte stand unter der Überschrift: „In einer kleinen Stadt. Ein Monat unter Menschen, die sonntags für Donald Trump beten“.
Relotius berichtete von diesen Trump-Gefolgsleuten, beispielsweise einem Hinterwäldler, der mit 27 Jahren noch mit keiner Frau zusammen war, noch nie das Meer gesehen hatte und zur Kompensation Waffen trägt. Bis auf die Namen der Stadt und ihrer Protagonisten war an dieser Reportage alles erfunden, einschließlich der finsteren Wälder um die Präriestadt Fergus Falls, die der Autor zur Illustration des Hinterwäldlertums offenbar unentbehrlich fand. Relotius hatte die Überzeugungen seiner Kollegen in der Zentrale bebildert – und sich darin absolut wahrheitsgetreu verhalten.
Auch Claas Relotius’ Name gehört mittlerweile zu denen, die man suchen muss. Seine Kollegen schreiben heute so über die USA, als hätte es ihn nie gegeben.
Es wäre Zeit für den Spiegel, sich bei ihm für seinen Rauswurf wenigstens still zu entschuldigen.