Ob die deutschen Steuerzahler und Sparer nach der Einigung in Brüssel Grund zur Freude haben, kann man sehr bezweifeln. Sofern sie ihr Geld in Aktien oder Staatsanleihen (süd)europäischer Ländern angelegt haben, können sie sich immerhin ein bißchen mitfreuen mit den großen Akteuren an den Finanzmärkten. Die waren jedenfalls am Dienstag in Feierlaune.
Der Dax hat geschafft, was die Realwirtschaft (noch?) nicht geschafft hat: sein Corona-Verluste in der Chart-Form eines V wieder auszugleichen. Nach bekanntwerden der Einigung in Brüssel legte er im Handelsverlauf bis zu zwei Prozent auf 13.313 Punkte zu. Mit Überspringen der Marke von 13 000 Punkten zum Wochenanfang marschiert er also dem erst im Februar erreichten Allzeithoch wieder entgegen. Der EuroStoxx50 notierte 1,9 Prozent höher bei 3.451 Zählern.
Und die Dankbarkeit der Profiteure ist den Politikern gewiss. „Das ist ein historischer Moment, ohne den die Zukunft der Gemeinschaftswährung und die Union selbst in Gefahr gewesen wären“, sagte Ricardo Evangelista, Analyst beim Brokerhaus ActivTrades, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. „Sie wussten, sie mussten liefern, und sie haben geliefert“, sagte Commerzbank-Analystin Esther Reichelt gegenüber Reuters.
Eine bemerkenswerte Wortwahl übrigens. Hat die europäische Politik etwa eine Lieferpflicht gegenüber der Finanzindustrie. Offenbar wird das so gesehen.
Nicht viel anders die Reaktionen der nicht im Sold der Finanzindustrie (zumindest nicht direkt) stehenden Ökonomen. Geradezu euphorisch, wie nicht anders zu erwarten, DIW-Chef Marcel Fratzscher. Er jubilierte im Spiegel über einen „Glücksfall“ für Deutschland.
Verhaltener ist die Reaktion beim ifo-Institut: Die EU habe „ein wichtiges Zeichen der Solidarität, der Handlungsfähigkeit und des weit reichenden Wandels gesetzt“, so Ifo-Chef Clemens Fuest. „Die EU zeigt damit, dass sie sich tiefgreifend verändert. Sie gibt gleichzeitig einen Vertrauensvorschuss an die Empfängerländer.“ Weiter sagt er: „Die wirtschaftliche Erholung wird jedoch nur funktionieren, wenn die betroffenen Länder selbst erhebliche Reformanstrengungen unternehmen.“ Dass die Anreize dazu dank des Hilfsprogramms eher weniger werden, muss man sich selbst dazu denken. Eine implizite Kritik an der gigantesken EU-Wirtschaftpolitik ist immerhin aus Fuests Anmerkung herauszulesen: „Die EU sollte sich stärker in der Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter wie etwa der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der Migrationspolitik und der Entwicklungshilfe engagieren und Haushaltsmittel entsprechend verlagern.“
Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) machte immerhin deutlich, was dieser „historische Paradigmenwechsel“ auch bedeutet: „Über Jahrzehnte wird die Tilgung der Schulden das EU-Budget belasten. Der Druck wird steigen, der EU neue Finanzierungsquellen zu erschließen.“ Und damit werde für die Nettozahler, besonders für Deutschland, die EU-Mitgliedschaft teurer. „Für die Nettozahler, besonders für Deutschland, das im Unterschied zu den sparsamen Vier keine Erhöhung seines Rabatts durchgesetzt hat, wird die EU-Mitgliedschaft teurer“, sagte er.